Jenseits der Wirklichkeit.

Es regnet. Sommerregen, warm, die Tropfen fallen wie Fäden. Leuchtende Fäden im Morgenlicht, Stille, Dunst, Regenrauschen auf dem Dach über mir, blattgedämpft. Dunst, Feuchte, eine Ahnung von Sonne und Wärme oben über den Wolken.
Und Düfte. Frisch geschnittenes Gras, Wasser, regennasses Holz, und Rosenduft, betäubend. Rosen über mir, um mich herum, rankend über den Pavillon, in dem ich sitze und dem Regen lausche. Rosenblüten, regengetränkt, hängen vor dem Eingang.
Vor dem Pavillon fallen Regentropfen in den See, malen Kreise auf die Wasserfläche, komplexe Muster. Komplex, aber geordnet – Physik, Mathematik, Struktur. Dies ist die Wirklichkeit, und nichts als die Wirklichkeit. Jeder Augenblick ist aus dem vorhergehenden ableitbar, jeder folgende vorhersehbar.
Ich werfe einen Blick auf die Messgeräte neben mir, und sie bestätigen es: Die Wirklichkeit ist ein gerader Strich. Keine Verzweigungen, keine Oszillationen. Nur die eine, geordnete Wirklichkeit.

Aber das war nicht immer so, und deshalb bin ich hier. Hier, in diesem Pavillon an einem See in einem Park, der zu einem Schlosshotel gehört. Hier hat die Wirklichkeit Risse bekommen, feine Sprünge zunächst, durch die etwas Anderes eindrang, oder vielleicht auch nur dahinter zu spüren war. Denn unsere Wirklichkeit, die Welt, die wir kennen und in der wir leben, ist nur eine Blase, umgeben von Anderem. Anderen Welten, anderen Wirklichkeiten, Leere, Chaos. Das meiste davon ist unendlich fremd. Und die Wand, die uns davon trennt, ist dünn.

Sie ist dünn, aber sie ist auch stabil. Die meiste Zeit können wir uns darauf verlassen, dass die Welt um uns herum – und in uns – so funktioniert, wie wir es gewohnt sind, und nichts Größeres aus dem Fremden in sie eindringt und sie durcheinanderwürfelt. Mit dem Kleinkram, der durch Falten und feinste Sprünge sickert, wird der Mensch fertig. Ein gewisses Maß an Chaos ist für uns normal.
Deshalb war zunächst auch niemand übermäßig beunruhigt, als rund um diesen Pavillon seltsame Dinge spürbar wurden. Die Menschen fühlten hier etwas Unheimliches, Fremdes, und sie gingen ihm aus dem Weg, in der Erwartung, dass sich die Sache von selbst wieder geben würde. Was normalerweise auch eine vernünftige Annahme ist, denn die Wirklichkeit schließt ihre Risse selbst. Es sei denn, etwas wirklich Starkes drängt von da draußen herein. Wie es hier der Fall zu sein schien.

Ein Gast machte einen Abendspaziergang zum Pavillon. Er erschien nicht zum Abendessen, und man fand ihn wenige Schritte vom Ufer entfernt, tot. Die unmittelbare Todesursache war ein Herzinfarkt, aber in seinem Inneren war keines der Organe mehr an seinem ursprünglichen Platz. Sie waren nicht beschädigt, voll funktionsfähig, nur auf seltsame Weise neu verteilt. Er hätte ohne weiteres unbeeinträchtigt weiterleben können, aber was auch immer dem Mann begegnet war, das Entsetzen darüber hatte einen Herzinfarkt ausgelöst.
Der Pathologe, der den Fall untersuchte, wusste nicht, was hier geschehen war, aber er wusste, wer dafür zuständig war. Er verständigte das Amt – das Bundesamt für Wirklichkeitsschutz, eingerichtet von den Vätern des Grundgesetzes, damit die Bürger dieses Landes sich auf diese eine ihre Wirklichkeit verlassen können. Die Agenten des Amtes schaffen all die lästigen, verwirrenden oder ungesunden Beeinträchtigungen der Wirklichkeit aus der Welt, löschen Chaoswirbel und bügeln Realitätsfalten aus.
Und deshalb sitze ich hier, Agent XXXT, Triple-X-Agent des Amtes, Spezialist für die härtesten (und seltsamsten) Fälle, mit meinen Messgeräten und meiner Erfahrung, an diesem dunstigen hellen Morgen, umhüllt vom Duft der Rosen, und sehe hinaus in den Sommerregen und die Wirklichkeit. In eine Wirklichkeit, die sich jeden Moment in etwas anderes verwandeln kann, und ich frage mich, was dieses Andere mir antun könnte und ob dies meine letzten Augenblicke sind als das, was ich bin, und als Teil dieser Wirklichkeit. Denn wir haben schon einen Agenten verloren.

Nach der Geschichte mit dem toten Hotelgast hatte das Amt einen seiner Doppel-X-Agenten, XXN, hierhergeschickt. Zuerst war nichts zu finden gewesen, keine Anomalien, aber er war geblieben, und in einer Nacht sprachen seine Geräte an. Er war hier hinunter zum Pavillon geeilt und hatte weiter gemessen, bis zu einem Punkt, wo die Messungen plötzlich abbrachen. Er kam nicht zurück, und es wurde nie eine Spur von ihm gefunden.
Ich bekam den Fall vom Chef persönlich übertragen. Alles, was wir hatten, waren die Messungen von Agent XXN. Ich ging sie durch und versuchte sie zu analysieren und stellte fest, dass ich nicht die Spur einer Ahnung hatte, was hier vorging. Was bemerkenswert genug war, denn ich bin wahrscheinlich in dieser Welt der Mensch, der am meisten Wissen, praktisches wie theoretisches, über Wirklichkeitsverzerrungen und Schäden an der Realität hat. Trotzdem begriff ich nichts.
Das einzige, was ich fand, war ein deutliches zeitliches Muster. Wenn ich es richtig gedeutet hatte, dann würde sich die Störung, was auch immer sie war, in den nächsten Minuten hier wieder zeigen.

Also warte ich und atme Rosenduft und den Duft nach Gras, Wachstum und Leben und denke, dass ich gerne weiter in dieser Welt und dieser Wirklichkeit leben würde. Aber wenn es anders kommen sollte ... es würde eine ganz besondere Erfahrung sein, und ich bin bereit, sie zu erleben. Ich mache diesen Job, weil ich der bin, der ich bin, und ich fürchte nichts, wenn es auch Dinge gibt, die ich lieber vermeiden würde, wenn es sich machen lässt, danke.
Daher sehe ich den Tropfen zu, wie sie fallen und ihre Kreise auf die Wasseroberfläche malen. Dann ändert sich etwas. Die Kreise sind keine Kreise mehr, sondern Formen, für die es keine Worte gibt, und im Regen tanzen Farben, deren Namen nie ein Mensch aussprechen wird. Ein Blick auf meine Instrumente zeigt mir Kurven und Schwingungen und Werte, die zu messen sie nicht gebaut wurden. Etwas kommt.
Ich stehe auf und konzentriere meinen Geist auf das Mantra des Chaos – ich bin praktizierender Chaot –, dann trete ich hinaus. Mein Glaube gebietet mir, das Herz der Verwirrung zu suchen. Also trete ich dem gegenüber, was dort draußen ist.
Ich sehe es nicht. Ich sehe überhaupt nichts von dem Fremden, das in unsere Welt eingedrungen ist, und ich denke, dass ein Mensch es auch nicht erkennen kann. Alles, was ich sehe, sind die Wirkungen, die es auf unsere Wirklichkeit hat.
Dann geht es durch mich hindurch wie durch Wasser. Anders kann ich es nicht beschreiben. Es geht durch mich hindurch, und ich denke, dass es mich bemerkt hat, denn es zögert und kehrt um und wendet sich mir zu. Ich spüre es, schrecklich fremd. Ich frage mich flüchtig, ob ich den Rest meines Lebens mit meiner Leber unter der linken Achsel werde zubringen müssen, und entscheide dann, dass das unbedeutend ist verglichen mit dem, was dieses Etwas noch mit mir anstellen kann. Ich sammle meinen Geist auf dem Bild der formvollendeten Leere.
Und das Etwas schreckt zurück. Ich weiß nicht, als was es mich wahrnimmt, vielleicht als die Wellen, die es in mir schlägt, aber es fährt zurück, erschreckt oder auch abgestoßen. Angewidert? Was hat es in mir gesehen, in mir oder in meinem Geist?
Jedenfalls prallt es zurück und flieht, fort von dieser Welt, und nimmt alle seine Wirkungen mit, und ich glaube, es schließt auch den Spalt in der Wand, durch den es gekommen ist.

Ich stehe da und atme langsam. Mir ist schwindelig, und ich brauche eine ganze Zeit, bis ich weiß, wo ich bin und warum, und dass ich immer nasser werde, weil ich im Sommerregen stehe. Irgendwann geht es mir gut genug, dass ich meine Messegeräte einsammeln kann. Sie zeigen die Wirklichkeit wieder als Strich. Beruhigend. Ich packe sie zusammen und gehe.

© P. Warmann