Ein Herbstabend.

Es ist eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang. Ich mag die langen Abende im Herbst, das Versprechen noch längerer, dunkler Winternächte, Tage, so kurz und so düster, dass ich am Morgen gar nicht schlafen gehen möchte.
Es klingelt. Diese Art zu klingeln kenne ich, denke ich, und gehe zur Tür. Ich habe Recht: Es ist Henning, ehemals Mitbewohner in dieser Mehr-oder-weniger-WG, vor kurzem aus- und mit seiner Freundin zusammengezogen.
Ich mache ihm auf. „Was treibt dich hierher?“ will ich wissen.
„Ach, Sehnsucht nach alten Freunden. Wie ist es, wollen wir los und einen Happen essen oder etwas trinken? Was für dich ja sowieso keinen Unterschied macht.“
Ich muss lachen. „Ja, ich habe Durst. Lass uns gehen.“

Unten bin ich dabei die Haustür abzuschließen, als ein Motorrad durch die Einfahrt geschossen kommt, direkt auf mich zu. Ich kann mich gerade noch mit einem Sprung auf die Stufen retten. Eine in schwarzes Leder gekleidete Gestalt schwingt sich von der Maschine und trippelt mühsam an mir vorbei.
„Du fährst wie eine gesengte Sau!“ herrsche ich sie an.
Das trägt mir ein wütendes Grunzen ein, als sie sich den Helm vom Kopf zerrt. Kleine Schweinsaugen funkeln, und sie rümpft mürrisch den Rüssel. Dann verschwindet sie im Haus.
„Komm, lass sie in Ruhe“, sagt Henning besänftigend. „Es ist kein leichtes Leben in der Stadt für ein Wer-Wildschwein. Ein Werwolf wie ich hat es viel leichter. Ich kann bei Vollmond offen durch die Straßen traben, wegen eines herrenlosen Hundes ruft niemand die Polizei. Aber sie...“
„Du hast ja Recht“, sage ich. „Aber trotzdem muss sie mich nicht über den Haufen fahren. Als Vampir bin ich untot, aber nicht unverwundbar.“

Wir schlendern die Straße hinunter. Es ist viel Betrieb, die Geschäfte sind offen – noch ein Vorteil davon, dass es jetzt früh dunkel wird. Ich habe Hunger, beziehungsweise Durst, das ist für mich so ziemlich das gleiche. Vor uns kommt ein Mann aus einer Weinstube. Er hat einiges getrunken, das merkt man an seinem Gang und auch an seiner Fahne, als er an uns vorbeigeht.
Ich sehe mich um. Kaum jemand in der Nähe, niemand, der auf uns achtet... „Sekunde“, sage ich zu Henning, „ich hole mir nur schnell eine Kleinigkeit.“
Ich mache kehrt und gehe hinter dem Mann her. Dann kommt eine Tordurchfahrt, genau richtig für mich, und dann geht es sehr schnell. Schließlich habe ich fast dreihundert Jahre Übung. Ich habe ihn gepackt, in die Dunkelheit gezerrt, ihn gebissen und meinen Viertelliter getrunken, bevor er weiß, was ihm geschieht. Danach weiß er es sowieso nicht mehr, das ist ein Teil der Vampirmagie.
Ich bleibe noch einen Moment im Dunkeln stehen, während er zurück auf die Straße taumelt, sich den Hals reibt und verwirrt versucht, sich zu erinnern, was eben geschehen ist. Nein, ich bringe natürlich niemanden um. Das ist auch gar nicht nötig: Wir können hier einen Schluck und da einen Schluck nehmen, nie mehr, als das Opfer verkraften kann, und so satt werden.

Henning hat auf mich gewartet und die Speisekarte der Weinstube studiert. Als ich neben ihn trete, sagt er: „Was hältst du davon, wenn wir hier reingehen? Mir gefällt, was sie auf der Karte haben.“
„Der Wein ist auch nicht schlecht“, sage ich, „jedenfalls nach dem zu urteilen, was ich eben mitgetrunken habe.“
Also gehen wir rein. Es ist wenig los, denn es ist noch relativ früh am Abend. Wir setzen uns, und Henning bestellt eine Pilzpastete, dazu Weißwein. Ich nehme den gleichen Wein, aber nichts zu essen, was in einem Lokal wie diesem völlig in Ordnung ist.
Als die Pastete kommt, erweist sie sich als sehr lecker. Henning isst und trinkt dazu seinen Wein, dann tauschen wir unauffällig die Gläser, und er trinkt meinen Wein. Dann tauschen wir wieder, und durch diesen Tauschtrick, den wir schon vor langer Zeit ausgearbeitet haben, merkt niemand, dass ich gar nichts trinke.

„Wie läuft es mit dir und Kathrin?“ frage ich.
„Großartig. Du hattest Recht: Sie fand es romantisch, als ich ihr gestanden habe, dass ich ein Werwolf bin. Besonders, weil ich ihr versichern konnte, dass ich keine Lebewesen angreife. Ich gönne mir nicht einmal ein Kaninchen oder eine Ente.“ Er sieht auf seine Pilzpastete und lacht. „Was für ein Leben! Fünfundzwanzig Jahre glücklich als Vegetarier, und dann muss ausgerechnet mich ein Werwolf beißen.“
Ich muss ebenfalls lachen. „Du bist wahrscheinlich der einzige vegetarische Werwolf der Welt.“
„Nein, bin ich nicht. Es gibt im Internet ein Forum, wo sich solche wie ich zusammengefunden haben. Etwa ein Dutzend, aber das sind hauptsächlich Amerikaner, und sie reden über so blödsinnige Dinge wie pflanzliches Steak mit Blut aus Lebensmittelfarbe. Entschuldigung, aber das brauche ich so wenig wie Sojawürstchen. Ich esse vorher ordentlich zu Abend, dann habe ich keine Probleme.“

Henning trinkt den letzten Wein aus, wir bezahlen und gehen. Draußen sagt er: „Wie ich sehe, hast du schon wieder eine neue Jacke.“
„Ja, und aus den üblichen Gründen. Irgend so ein pickeliges Bürschchen fühlte sich zum Vampirjäger berufen. Ich trete abends aus der Haustür, und zack! habe ich einen Armbrustbolzen im Herzen. Extrem unangenehm, und die Jacke war natürlich hin. Und ich musste dem Burschen mal wieder erklären, dass es erstens nicht funktioniert, zweitens strafbar ist und ich drittens Schadensersatz für die ruinierte Jacke verlange. Er war noch nicht einmal volljährig. Anwaltssohn. Der sollte es wirklich besser wissen. Was meinst du, gehen wir ins Kino?“
Henning ist einverstanden. Hoffentlich läuft irgendwo ein Horrorfilm, dann haben wir so richtig etwas zu lachen.

© P. Warmann