Wortmüll.

Ich kam nach Hause und wurde in der Haustür fast von meinem Nachbarn umgerannt. Er schleppte schwer an einem prall gefüllten Müllsack. Ich ahnte schon, was darin war, und richtig: Als er ihn in die Restmülltonne entleerte, wirbelte abgestandener Wortmüll auf. Mein Nachbar hat nämlich zusammen mit einem Partner ein Atelier für Wortrestauration.
Sie haben gut zu tun – immer mehr Menschen lassen ihren Wortschatz reinigen, abgegriffene Formulierungen nachschleifen, schiefe Vergleiche einrenken und angestaubte Begriffe aufpolieren, wobei manchmal wirkliche Schmuckstücke zu Tage kommen.
Ich betrachtete die Menge an Müll, die in der Tonne umherwirbelte. „Du liebe Güte“, sagte ich, „stammt das etwa aus dem Wortschatz eines einzigen Menschen?“
Mein Nachbar lachte. „Um Himmels Willen, nein! Wir überprüfen im Auftrag der Landesregierung Wortschatz, Begriffsbestand und Formulierungsgewohnheiten der höheren Verwaltung.“ Er schüttelte den Kopf. „Das hier ist nur ein kleiner Teil des Abfalls, der sich da angesammelt hat.“
Er warf einen Blick in Richtung eines offen stehenden Fensters, aus dem leises Gewimmer drang. „Wir führen gerade eine Wurzelbehandlung durch ... manche Worte lassen sich dadurch retten. Sie fassen wieder Fuß und gewinnen wieder Bedeutung und eigenständiges Leben. Bei ‘Ermessensspielraum’ ist uns das, glaube ich, gelungen ... aber was macht man mit einem Wort wie ‘Be-inhaltung’? Es ist in sich vollkommen hohl und morsch. Da hilft nur Kahlschlag mit der Hoffnung, dass etwas Kräftigeres und Gesünderes nachwächst.“ Er schlug den Deckel der Mülltonne zu.
„Wir stehen vor ähnlichen Problemen“, sagte ich mitfühlend. „Sie wissen ja, die Sammlung unwiederbringlicher Bücher zieht um, und wir sichten den Bestand. Heute hatte ich ein Exemplar der ‘Gesc_ic_tlichen Ab_andlung über die _erzöge von _o_en_eim’ in der Hand. Der Band leidet unter komplettem H-Ausfall – wir mussten ihn entsorgen. Außerdem fanden wir erschreckend viele Lexika mit Symptomen von Neurotischem Zwangs-Alphabetismus.“
„Was ist das denn?“ fragte mein Nachbar verwundert.
„Sie fangen an, nicht nur die Stichworte alphabetisch zu ordnen, sondern auch die Worte in den einzelnen Beiträgen“, erklärte ich. „Wir haben aber auch einige wirkliche Perlen in der Sammlung, zum Beispiel sämtliche 72 ungeschriebenen Bücher Humboldts oder ‘Die Katze’ von Schrödinger, ein Buch, das entweder im Bestand vorhanden ist oder auch nicht – das entscheidet sich erst, wenn man zum Regal geht und nachsieht. Oder das Verzeichnis aller Straßen der Stadt Hamburg.“
„Was ist daran so Besonderes?“
„Dies ist die in Spinnenleder gebundene Ausgabe, die wirklich alle Straßen enthält. Sie sollten sie nicht im Lichte des Vollmondes lesen, das ist ... entschieden beunruhigend.
Aber die weitaus meisten Bücher sind harmlos. Es stellt sich eher die Frage, wie man sie angemessen unterbringt. Wie zum Beispiel die Schrankkoffer mit den Büchern nach der wortspatialen Methode.“
„Ach, gibt es die immer noch? Die Technik, Worte und Sätze im Raum zu verteilen, um Zusammenhänge besser erkennbar zu machen?“
„Es ist ziemlich aus der Mode gekommen, weil es den Text doch recht schwer lesbar macht“, antwortete ich. „Allerdings haben wir eine komplette Analyse der ‘Buddenbrooks’ von Thomas Mann, bei der der Leser sich im Text frei bewegen kann. Großartige Idee, aber leider braucht man zur angemessenen Aufstellung einen Flugzeug-Hangar... Tja, und den Gedichtzyklus ‘Für Heidrun’ werden wir auch nicht mit in das neue Gebäude nehmen können. Er ist auf Birkenrinde geschrieben – und die befindet sich noch an den Birken im Innenhof des alten Gebäudes.
Wir werden den Umzug übrigens mit einer großen Ausstellung feiern. Prunkstück wird die 27 Kilogramm schwere Ausgabe der ‘Philosophischen Kerngedanken’ sein. Dabei sind die Seiten voneinander durch Bleifolie getrennt, weil die Abhandlungen so inhaltsschwer sind, dass sie sonst miteinander fusionieren und eine kritische Masse bilden würden. Bei den ersten Versuchen, das Buch ohne diesen Schutz zu drucken, kam es zur Kernschmelze und einer Implosion, die die halbe Druckerei vernichtete.“
„Ich werde mir die Ausstellung ganz sicher nicht entgehen lassen“, sagte mein Nachbar. „Jetzt muss ich mich aber um eine Kiste voller verstaubter alter Redewendungen und Phrasen kümmern. Einige von denen fallen als aussterbende Arten unter den Redensartenschutz, die müssen wir an ein Wortreservat überweisen.“
Wir verabschiedeten uns, und ich stieg die Treppe hinauf zu meiner Wohnung, wo meine Schildkröte auf mich wartete. Mit ihr verständige ich mich auf Schildkrötisch – das ist eine stumme Sprache, wortlos, aber vielsagend. Eine wirkliche Erholung für einen Menschen mit einem so wortlastigen Beruf.

© P. Warmann