Abendbrot.

Ich kam nach Hause, schloss meine Wohnungstür auf und wollte gerade über die Schwelle treten, als mir etwas hart gegen den Knöchel schlug. „Autsch!“ sagte ich, sah nach unten und entdeckte meine Schildkröte, die sich unauffällig an mir vorbeizudrücken versuchte. Ich sah auf sie hinunter.
„Sieh mal an“, sagte ich, „du trägst die silbernen Krallenhülsen? Du bist wohl auf dem Weg zu einem Rendezvous?“
Stumm bejahte sie, leicht verlegen, und beschrieb mir auf Schildkrötisch (das eine stumme, aber ausdrucksvolle Sprache ist) ihren neuen Freund.
„Schwarz eingelegte Tribal-Gravierungen im Panzer? Und verdient sich das Studium mit einem miesen Job als Türstopper? Na, ich hoffe, du weißt, was du tust“, sagte ich skeptisch.
Aber sie bestätigte, dass sie das ganz genau wusste, und witschte an mir vorbei. Als ich die Tür schloss, hörte ich sie fröhlich die Treppe hinunterrumpeln.

Ich ging in die Küche, um mir ein Dreihorn-Brötchen mit schwedischem Korinthenkäse zu machen. Hinter mir lag ein harter Tag. In meiner Arbeitsstätte, der Sammlung unwiederbringlicher Bücher, hatte ein Buch über den berüchtigten Piraten Blackbeard versucht, andere Bücher aus der Abteilung für Seefahrtgeschichte zu einer gemeinsamen Kaperfahrt zu überreden. Als es schließlich daranging, zwei Bände mit barocken Kunstschätzen auszuplündern, und sich auch noch glimmende Lesebändchen in den Buchrücken flocht, war mir nichts anderes übrig geblieben, als dieses charakterlose Buch aus der Sammlung zu werfen.

Ich schaltete das Radio an, um mir die Nachrichten anzuhören.
„Guten Abend“, begann der Sprecher. „Offenbar greift die Notengrippe jetzt auch auf Holzblasinstrumente über. Nach dem Klangtod von Klavieren und Flügeln im gesamten Bundesgebiet ist es heute zu einem Besorgnis erregenden Vorfall bei einem Konzert in Brande-Hörnerkirchen gekommen. Dort brachen erst vier Oboen bewusstlos zusammen, dann brachten mehrere Klarinetten nur noch Trillerpfeifenklänge zustande. Während die Oboen auf der Intensivstation des Instrumentenhospitals Klein-Nordende behandelt werden und ihr Zustand stabilisiert werden konnte, mussten die Klarinetten notgeschlachtet werden.
Experten gehen davon aus, dass die Krankheit innerhalb einer Orchesterpartitur durch unsauber getrennte Instrumentenspuren übertragen wurde. Sie raten allen Besitzern entsprechender Instrumente, ihnen keine unüberwachten Kontakte zu gestatten und alle Notenblätter vor und nach dem Gebrauch gründlich zu desinfizieren.
Gerüchte, wonach auch Blechblasinstrumente betroffen sein sollen, haben sich allerdings bislang nicht bestätigt. Eine Posaune, die mit Verdacht auf Notengrippe in ein Krankenhaus in Karlsruhe eingewiesen wurde, litt nur unter einer schweren allergischen Reaktion auf das Rasierwasser ihres Spielers.“
Ich schüttelte den Kopf und filetierte eine weitere Himbeere.

„Der Bundestag hat heute beschlossen“, fuhr der Sprecher fort, „die Laufzeit für die 34 umstrittenen politisch-gesellschaftlichen Konzepte um weitere zwölf Jahre zu verlängern. Diese Entscheidung wurde von der Opposition scharf kritisiert. Die Kanzlerin verteidigte den Beschluss mit den Worten: ‘Wir können es uns nicht leisten, in der jetzigen schwierigen Situation bewährte Konzepte einfach über Bord zu werfen. Natürlich geht die Suche nach Alternativen weiter, aber der heutige Beschluss hat uns die Zeit gegeben, diese Suche mit aller gebotenen Ruhe und Umsicht anzugehen.
Es stimmt zwar, dass die Katastrophen in Nordafrika und dem Nahen Osten auf den plötzlichen Zusammenbruch veralteter Konzepte zurückzuführen sind, und es stimmt auch, dass einige der in unserem Land verwendeten Konzepte ähnlicher Art sind und ein vergleichbares Alter haben. Allerdings haben wir immer darauf geachtet, sie den sich verändernden Verhältnissen anzupassen.’
Ein Sprecher der Opposition sagte dazu: ‘Die Kanzlerin verschweigt den Kern des Problems, und das sind die fehlenden Konzept-Endlager. Wir alle erleben doch täglich, wie die vor 65 Jahren angeblich hermetisch eingeschlossenen Nazi-Altlasten aus den Stollen in unsere Gesellschaft sickern! Natürlich ist Konzeptlosigkeit keine Alternative, aber diese Verzögerungstaktik ist doch Bratwurst auf den Grill der Gegner der Demokratie.’
Weitere Meldungen: In mehreren Städten kam es auch heute wieder zu Demonstrationen der Vegetarier-Schutzverbände, die forderten, allen Fleischessern den Gemüseverzehr vollständig zu verbieten.
Und im Prozess gegen den mutmaßlichen Wettbetrüger Hugo H. wurden heute weitere Zeugen gehört. Ihm wird unter anderem zur Last gelegt, mehr als zwanzig überflüssige Sportarten ins Leben gerufen zu haben, um seine Wetteinnahmen zu erhöhen.
Jetzt noch das Wetter: Das sonnige Sommerwetter hält an, nur örtlich kann es zu Gewittern kommen; dort könnte es auch Feuer und Schwefel regnen. Sorgen Sie also für Sonnenschutz, und denken Sie auch an einen feuerfesten Helm!“
Ich schüttelte den Kopf, schaltete das Radio aus, griff mir meinen Himbeeraufguss und das Brötchen und ging ins Wohnzimmer, um endlich Abendbrot zu essen.

© P. Warmann