Ungeschriebene Bücher.

An diesem Nachmittag saß ich im Hochsicherheits-Labor der Sammlung unwiederbringlicher Bücher und entschärfte eine Anthologie arktischer Dichtung. Nicht gerade die Art Buch, von der man einen Angriff erwarten würde, deshalb hatte es einer der Mitarbeiter auch ungeprüft ins Regal gestellt, aber auf eine stille Art war es brandgefährlich.
Zum Glück war einer begabten jungen Bibliothekarin aufgefallen, dass ihr in der Nähe des Regals immer wieder unerklärlicherweise Bilder von weiten, eisigen Tundralandschaften und treibenden Eisbergen durch den Kopf gingen. Sie war der Störung nachgegangen, und so war das Buch eingeschlossen in eine Bleischatulle auf meinem Schreibtisch gelandet.
Ich schauderte. Hätte das Buch einen Leser gefunden, es hätte seinen Geist in eine weiße, gefrorene Einöde verwandelt. Jetzt war ich dabei, sorgfältig Betäubungsmittel in die Seiten einzuarbeiten und die gefährlichsten Stellen mit einem Schutzlack abzudecken. Mir war nicht ganz wohl dabei, derart tief empfundene Dichtung auf diese Weise zu kastrieren, aber man muss wohl in der Arktis geboren sein, um etwas derartiges ungefiltert ertragen zu können – oder man braucht, wie ich, eine gründliche Schulung als Buchbändiger.

Während ich mich meiner Arbeit widmete, leuchtete plötzlich über der Tür ein blaues Licht auf. Es bedeutete, dass jemand mit mir sprechen wollte. Ein weiterer Notfall? Sonst würde man mich hierbei nicht stören.
Ich verschloss das Buch also wieder sorgfältig in seiner Schatulle und öffnete die Tür. Draußen stand die Leiterin der Bibliothek. Sie sah besorgt aus.
„Gerade kam ein Anruf“, sagte sie. „Ein Antiquar ist vom Inhalt einer Bücherkiste angegriffen worden. Die Polizei vermutet waffenfähige Bücher, der Kampfmittel-Räumdienst ist schon verständigt, aber sie möchten Sie als Spezialisten hinzuziehen. Haben Sie Zeit?“
„Was hier anliegt, kann warten“, sagte ich. „Sind Menschen in Gefahr? Wo ist es passiert?“
„Die holen Sie mit einem Streifenwagen ab, wenn Sie möchten“, sagte sie, und so geschah es dann auch.

Wenige Minuten später war ich am Ort des Geschehens, einem Antiquariat der gehobenen Klasse. Dort gab es eine Polizeiabsperrung, einen Rettungswagen, in dem offensichtlich jemand behandelt wurde, einen Trupp vom Kampfmittel-Räumdienst und jede Menge ernster Minen. Einer der Polizisten gab mir eine Zusammenfassung der Lage. Offensichtlich war dem Antiquar eine Kiste mit Büchern angeboten worden, und er hatte sich nach Ladenschluss darangemacht, sie zu sichten. Dann war irgend etwas geschehen. Er hatte noch den Notruf auslösen können, der Notarzt hatte ihn auf den Stufen des Ladens gefunden.
Der Mann hatte keine klaren Angaben machen können, wovon er angegriffen worden war. Waffenfähige Bücher aus dem letzten Krieg, oder gar moderne Terror-Literatur? Die Kampfmittel-Leute schüttelten den Kopf. „Keine Anzeichen von Sprengkraft, auch keine langsam schwelenden Ideologie-Brandsätze – das hier ist kein Fall für uns.“
Sie packten ihre Sachen und zogen ab, und ich ging zum Rettungswagen, um mit dem Notarzt zu reden.
„Wir haben seinen Zustand stabilisiert, jetzt werden wir ihn ins Krankenhaus bringen, wo schon alles für eine Notoperation vorbereitet ist“, erklärte er. „Wir werden eine Menge Wortfetzen und Satzfragmente entfernen müssen. Sie haben bei ihrem Eindringen einen starken allergischen Schock ausgelöst, aber das haben wir inzwischen unter Kontrolle. Er ist nicht mehr in unmittelbarer Lebensgefahr.“
Immerhin tröstlich, dachte ich, als ich zu den Polizisten zurückging. Aber Wortfetzen und Satzsplitter? Was war dort drinnen geschehen? Es gab wohl keine andere Wahl: Ich musste hinein und selbst nachsehen.

Die Polizisten wirkten ziemlich besorgt über mein Vorhaben. „Das ist nicht das erste Mal, dass ich mich mit wildgewordenen Büchern herumschlagen muss“, beruhigte ich sie. „Ich weiß mich zu wehren – ich habe das schwarze Lesezeichen im unbewaffneten Wortkampf. Und ich hatte es schon mit einigen wirklich bösartigen Gegnern zu tun. Kennen Sie die berühmten ‘Letzten Worte’?“
„Wie, so etwas wie ‘Mehr Licht, sprach Goethe’?“ fragte einer der Polizisten.
„Oh nein, die Worte, die Sie in diesem Buch lesen, werden Ihre letzten sein. Oder ‘Sterben Sie jetzt!’ – ein wirklich mörderisch spannender Thriller. Außerdem war ich der Mann, der die Auerbachsche Sammlung aufgelöst hat.“
Einige der Polizisten schauderten, offensichtlich kannten sie die Geschichten, die über das Auerbachsche Kellerantiquariat im Umlauf waren. Ich versuchte, nicht an das halbe Dutzend Bände zu denken, die immer noch in den hinteren Räumen unserer Bibliothek an ihren Ketten zerrten.

Sie gaben mir ein Headset mit, damit ich über Funk mit ihnen in Verbindung bleiben konnte. Vorsichtig betrat ich das Antiquariat.
„Hier steht die Kiste“, beschrieb ich die Lage für den Mann am anderen Ende der Funkverbindung. „Sie enthält Bücher zu den verschiedensten Themen – Kakteenzucht, Kernphysik, ein paar Krimis, ein Buch über Surfen vor Hawaii ... nichts auffälliges. Sie scheinen schon Jahrzehnte in dieser Kiste gelegen zu haben. Es gibt schwache Anzeichen für eine beginnende Fusion, aber ein erfahrener Antiquar sollte mit so etwas umgehen können.“
Ich hörte einen fragenden Laut im Kopfhörer und erklärte: „Bücher, die lange Zeit nebeneinander lagern, färben gerne aufeinander ab. Man liest etwas über Kakteenzucht und wundert sich, warum man die ganze Zeit ans Wellenreiten denken muss. Deshalb stellt man ja Bücher nach Themen geordnet in die Regale.
Aber das kann das Problem nicht sein...“
Ich kramte zwischen den Büchern, versuchte zu erkennen, was sich weiter unten in der Kiste befand, sah aber nur weitere uninteressante Bände – und dann, ohne Vorwarnung, griff es an. Es stieß mir seine Widerhaken in den Arm, und ich verdanke es nur meinen Reflexen, dass ich sie wegwischte ... oder vielleicht hatte ich einfach nur Glück. Jedenfalls schaffte ich es, sie loszuwerden, bevor sie sich in mir verankern konnten und mich mit Worten und Sätzen überschwemmten.
Ich muss geschrien haben, denn über das Headset kamen besorgte Nachfragen. „Nicht reinkommen!“ rief ich. „Bleiben Sie draußen! Hier drinnen ist ein Ungeschriebenes Buch.“
Ich suchte nach dem Angreifer. Er war natürlich unsichtbar, aber er würde sich durch ein Flimmern in der Luft verraten, eine Andeutung von Substanz, die darauf wartete, Realität zu werden.
Das war es also: ein Ungeschriebenes Buch auf der Suche nach einem Autor. Der Kram in dieser Kiste, die ganzen angedachten Geschichten und zusammengewürfelten Themen hatten einen Ideenpudding gebildet, der jetzt auf der Suche nach einem Menschen war, um sich schreiben zu lassen. Wenn ich nicht vorsichtig war, würde er mich übernehmen, meinen Geist besetzen und mich zu seinem Autor werden lassen, ob ich es wollte oder nicht. Und ich wollte nicht.
Aber jetzt, wo ich meinen Gegner kannte, war es nicht schwierig, mit ihm fertig zu werden. Ja, da steckte er. Ich packte zu, wich den Harpunen mit ihren Widerhaken aus und zerrte. Ein kurzes Drehen, ein Ruck, dann riss die Verbindung zur Wirklichkeit, und der Ideenpamps fiel in sich zusammen. Ich sah zu, wie er verdampfte.
Ich meldete den Polizisten meinen Erfolg und ging dann noch einmal sorgfältig die ganze Kiste durch, fand aber weiter nichts Verdächtiges. Dieser Fall war gelöst.

Draußen musste ich meine Geschichte noch einmal zu Protokoll geben, dann konnte ich in den wohlverdienten Feierabend gehen. Manche Ungeschriebenen Bücher, dachte ich, waren Meisterwerke, und es lohnte sich, sie am Leben zu erhalten, bis ihnen der richtige Autor begegnete. Aber nicht dieses. Nein, ich hatte wirklich keine Lust, eine Geschichte über surfende Killerkakteen zu verfassen, die die Welt mit einer Atombombe bedrohten. Manche Bücher bleiben besser ungeschrieben.

© P. Warmann