Unter der Oberfläche.

Ich stehe vor meiner Haustür und plaudere mit Henning, meinem engsten Freund und bald einem verheirateten Mann.
„Tja, der große Tag ist nun definitiv der 25. Mai“, sagt er und grinst. „Nahe genug an Neumond, dass ich mir für die Hochzeitsnacht keine Sorgen machen muss. Es wäre wirklich peinlich, die Nacht der Nächte damit verbringen zu müssen, den Vollmond anzuheulen und mit meiner frisch Angetrauten ‘Fang das Frisbee’ zu spielen.“
Ich muss lachen, und er lächelt schief. „Es führt kein Weg daran vorbei, als Werwolf muss ich solche Dinge bedenken. Übrigens, die Trauung findet natürlich am Vormittag statt, aber wir haben die Hauptfeier auf den Abend gelegt, damit du mit uns feiern kannst.“
„Im Mai sind die Nächte so verdammt kurz“, sage ich. „Ich werde spät kommen und früh gehen müssen. Aber ich komme auf jeden Fall.“
„Was macht eigentlich der Rest der Bande?“ fragt Henning und meint damit meine beiden Mitbewohner, die ich in meinem Haus beherberge. Auch er und ich haben uns so kennen gelernt: Er war einige Jahre lang Mitglied in dieser Mehr-oder-weniger-WG.
„Kurt sehe ich in letzter Zeit kaum noch“, sage ich, und Henning lacht.
„Seit wann ist das etwas Besonderes?“ fragt er.
Ich muss auch lachen. „Bei jemandem, der sich nach Belieben unsichtbar machen kann, ist es das wirklich nicht, obwohl er sich das spontane Verschwinden weitgehend abgewöhnt hat. Nein, ich meine, dass er die meiste Zeit mit seiner Freundin verbringt. Sie heißt übrigens Leila, und ihre Familie betreibt in der dritten Generation ein Geschäft für Orientteppiche.“
„Ist das die Frau im Leopardenkostüm, die er auf der Gruselparty kennen gelernt hat? Denkst du, das ist etwas Ernstes zwischen den beiden?“
„Ja, sie ist das, und es ist definitiv etwas Ernstes. Er hat ihr inzwischen auch sein Geheimnis verraten, und es war wie bei dir und Kathrin: Sie fand es romantisch, mit einem Unsichtbaren befreundet zu sein. Und er hat angedeutet, das eröffne im Bett einige prickelnde neue Möglichkeiten...“
„Hm“, sagt Henning. „Kann ich mir vorstellen. Und was ist mit Gitte? Du sagtest, glaube ich, sie hätte sich dann doch dazu durchgerungen ihrem Freund von ihrem Problem zu erzählen.“
Ich werfe einen Blick ins Innere des Hauses und sage nachdenklich: „Er ist übrigens gerade hier, sie sitzen im Wohnzimmer und schmieden Pläne für einen gemeinsamen Urlaub – ich glaube, sie wollen in die Toskana. Nein, seltsamerweise war es andersherum: Er hat ihr gegenüber angedeutet, dass er über ihre Verwandlung bescheid weiß. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass er dann doch ziemlich erschrocken war, dass sie sich ausgerechnet in eine Wildsau verwandelt – er hatte anscheinend eher mit einem klassischen Werwolf oder einer Art Katze gerechnet. Aber merkwürdig ist es doch, wie selbstverständlich er das akzeptiert hat. Kurts Verschwindetrick hat ihn auch nicht sonderlich beeindruckt. Ich frage mich, was ich davon halten soll.“
„Wie ist er denn sonst?“ fragt Henning nachdenklich.
„Ausgesprochen normal. Möchtest du ihn kennen lernen? Lass uns zu den beiden reingehen.“

Wir gehen ins Wohnzimmer, wo Gitte und ihr Freund auf dem Sofa sitzen und über einem Reiseprospekt die Köpfe zusammenstecken. Wir werden freundlich begrüßt – insbesondere Gitte freut sich offensichtlich Henning zu sehen.
Ich merke, wie Henning den jungen Mann aufmerksam betrachtet, aber an ihm ist tatsächlich nichts Auffallendes oder Besonderes. Er ist hochgewachsen, sieht gut aus, und außer dass er für seine zurückgekämmten dunklen Haare anscheinend Haargel benutzt, habe ich an ihm nichts Negatives anzumerken.
Wir unterhalten uns eine Zeit lang, und irgendwann fragt er mich, was ich beruflich mache.
„Ich habe von meinem Vater ein kleines Vermögen geerbt und es Gewinn bringend angelegt“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Ich muss mir um meinen Unterhalt keine Sorgen machen.“
„Wie alt sind Sie eigentlich?“
Darauf gibt es zwei mögliche Antworten, und ich wähle die konventionelle: „Ich? 28 Jahre.“
„Oh, ich hätte Sie als etwas älter eingeschätzt“, sagt er, und ich meine: „Möglicherweise lässt mich meine Lebenserfahrung älter wirken.“
Ich bemerke, dass Henning und Gitte sich ein Grinsen verkneifen müssen. Offensichtlich fällt das auch ihm auf, denn er wirft einen schnellen Blick zwischen ihnen hin und her, aber er sagt nichts.
Henning geht dieses gegenseitige Abtasten anscheinend auf die Nerven, denn er fragt in seiner direkten Art: „Wie ich hörte, hat Sie Gittes ... spezielles Problem ... so ziemlich ungerührt gelassen. Eine interessante Reaktion, wie ich finde.“
„Wir hatten in der Familie einige Male ähnliche Fälle“, sagt der junge Mann ruhig. „Wahrscheinlich hat das meinen Blick dafür geschärft. Wenn ich mich nicht irre, fallen auch Sie in diese Kategorie – Sie sind ein Werwolf, oder?“
„Ganz richtig“, sagt Henning und sieht ihn auffordernd an, aber Gittes Freund verfolgt das Thema nicht weiter.

Wir unterhalten uns über die Toskana, ihre Natur und ihre Kunstschätze, und ich sage bedauernd: „Italien ist als Reiseland nichts für mich – zu viel Sonne, das vertrage ich nicht.“
Henning lacht leise, und der junge Mann nickt, und dann schnappt er sich einen Bleistift, der auf dem Tisch liegt, und rammt ihn durch meine rechte Hand.
„Aua!“ sage ich, mehr aus Gewohnheit, denn wirklichen Schmerz verspüre ich nicht, und sehe ihn vorwurfsvoll an. Henning ist aufgesprungen, wütend, und Gitte starrt ihren Freund erschrocken an, aber er betrachtet nur mich, aufmerksam, und meine Hand, in der der Stift steckt und die nicht blutet, überhaupt nicht.
Ich schüttle den Kopf, ziehe den Bleistift aus der Hand und sehe auf die Wunde, die sich langsam schließt. „Das war nicht nett“, sage ich. „Und wieso ein Bleistift – da besteht immer die Gefahr, dass Holzsplitter in der Wunde bleiben. Hätten Sie nicht die Kuchengabel nehmen können? Und überhaupt, warum haben Sie mich nicht einfach gefragt?“
„Sie sind ein Untoter!“ sagt er anklagend.
„Ich bevorzuge ‘Vampir’“, sage ich ruhig. „Bei Untoten denkt man doch eher an Zombies und ähnliche unappetitliche Gestalten.“
„Dann eben ein Vampir“, sagt er heftig. „Wir dulden keine Untoten in unserer Stadt! Wir werden...“
Er will aufspringen, aber Henning steht hinter ihm und legt ihm eine Hand auf die Schulter und hält ihn unten, mit mehr Kraft als ein gewöhnlicher Mensch. „Ja, er ist ein Vampir“, sagt er mit unterdrückter Wut. „Und er ist ein Freund. Und ich bin ein Werwolf, und ich verdanke es ihm, dass ich ein normales Leben führen kann. Er nimmt Menschen wie uns bei sich auf, Menschen wie mich oder Gitte oder Kurt, und gibt ihnen eine Zuflucht und zeigt ihnen, wie sie in dieser Welt zurechtkommen können. Und ich bin zwar ein überzeugter Vegetarier, und ich hasse Gewalt, aber ich könnte auf den Gedanken kommen jemandem den Arm zu brechen, der so etwas einem Freund antut. Was sollte das?“
„Das war einfach nur ein Test, ob ich ein Vampir bin“, sage ich müde. „Was soll das heißen, Sie dulden keine Untoten in Ihrer Stadt? Wer ist ‘wir’? Und wieso ‘Ihre Stadt’? Das hier ist verdammt noch mal auch meine Stadt – ich bin hier geboren, ich bin hier gestorben und habe danach fast dreihundert Jahre hier gelebt.“
Henning lacht leise. „Interessante Formulierung“, sagt er ironisch.
„Ja, schon gut“, sage ich. „’Gelebt’ ist vielleicht der falsche Ausdruck für einen Untoten, aber Tatsache ist: Ich bin seit fast dreihundert Jahren Vampir und habe diese ganze Zeit hier verbracht. Warum regt sich jetzt plötzlich jemand darüber auf? Was haben Sie überhaupt gegen Untote? Und wer, bitte, ist ‘wir’?“
„Dreihundert Jahre?“ Der Junge klingt verwirrt. „Wir haben nie etwas davon bemerkt... Oh, und ‘wir’, das ist meine Familie, die Familie Henrici. Wir haben hier schon gelebt, als es diese Stadt noch gar nicht gab, und seit vielen Generationen sind wir hier etabliert als ... äh, Fischgroßhändler.“
„Henrici? Das ist wirklich eine alteingesessene Familie – schon mein Vater hat bei Ihnen gekauft“, sage ich und beruhige mich langsam. „Aber wieso glauben Sie, Sie müssten diese Stadt vor Untoten beschützen?“
„Weil wir es können“, sagt er bestimmt. „Weil wir uns für die Menschen in dieser Stadt verantwortlich fühlen und sie gegen Angriffe auf ihr Leben schützen werden. Deshalb bekämpfen wir wildernde Werwölfe und Unholde und eben auch Vampire.“
„Angriffe auf ihr Leben? Ich gefährde nicht das Leben von Menschen. Ja, die Leute, die mir ihr Blut geben, machen das unfreiwillig, aber ich verteile den Liter, den ich im Monat trinken muss, auf vier oder fünf Personen, ich nehme nie mehr, als sie verkraften können, und hinterher können sie sich nicht einmal daran erinnern. Offensichtlich sind Ihnen auch dreihundert Jahre lang keine Klagen über mich zu Ohren gekommen. Also, wen gefährde ich damit?“
„Und wieso fühlt sich diese Familie berufen, die Welt vor Vampiren und Unholden zu schütze? Wieso kann er uns als das erkennen, was wir sind?“ wirft Henning ein und klingt nachdenklich und ein wenig drohend. „Sowieso, irgend etwas stimmt mit unserem Freund hier nicht. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich spüre etwas. Der Wolf in mir würde sagen, er riecht auf eine ganz seltsame Weise nach Fisch.“
„Das ist doch nicht so merkwürdig“, meint Gitte unsicher, „schließlich handelt seine Familie mit Fischen.“
„Nein, das ist es nicht“, sagt Henning. „Er riecht nach lebendigem Fisch.“
„Also gut“, sagt der junge Mann und holt tief Luft. „Ja, Sie haben Recht: Meine Familie hat auch ihr Geheimnis. Wir sind auch Gestaltwandler, auf unsere Art. Es ist ein bisschen anders als bei Ihnen und Gitte – es vererbt sich. Ihre Kinder werden normale Menschen sein, aber wir geben es an unsere Nachkommen weiter. Außerdem verwandeln wir uns nicht zu bestimmten Zeiten, sondern unter bestimmten Umständen.
Und was Sie angeht“ – er wendet sich an mich – „die Sache mit dem Bleistift tut mir leid ... das war dumm von mir. Außerdem, wenn Sie wirklich nur auf jene Weise jagen, wie Sie es beschrieben haben, und das schon so lange, dann sollte das kein Problem sein. Ich hätte das nicht machen dürfen. Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an.“
„Ja, in Ordnung“, sage ich besänftigt.
„Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du dich auch verwandelst?“ platzt Gitte heraus. „In was verwandelst du dich? Und was soll das heißen, ‘unter bestimmten Umständen’?“
„Ich wollte es dir sagen – im Urlaub hätte ich es dir gesagt“, meint ihr Freund zerknirscht. „Ich verwandle mich, wenn ich mit Wasser in Berührung komme...“
„Da hast du aber Probleme beim Duschen“, wirft Henning ein.
„Nein, es muss lebendiges Wasser sein, ein Fluss oder ein See oder das Meer, und ich muss untertauchen. Dann verwandle ich mich ... grüne Haut, Schuppen, Kiemen hinter den Ohren und Schwimmhäute, und aus meinen Beinen wird ein Schwanz mit einer Flosse.“ Er sieht ausgesprochen verlegen aus. „Ich bin ein Wassermann.“
Henning lacht und schlägt ihm auf die Schulter. „Nicht schlecht – Schuppen statt Fell. Warum nicht? Endlich einmal etwas Neues. Sieh nicht so betrübt drein: Du bist hier in der richtigen Gesellschaft.“
Gitte lacht ebenfalls, ziemlich erleichtert, und gibt ihrem Freund einen Kuss. Ich gehe in die Küche, um eine Flasche Rotwein zu holen, und drei Gläser – drei, denn ich kann den Wein nicht trinken. Das ist schon seltsam, denke ich: Wassermänner in dieser Stadt, und wir haben dreihundert Jahre lang nebeneinander gelebt und nichts voneinander gewusst.

© P. Warmann