Wolfsblut.

Eine Sommernacht, nicht lange nach Sonnenuntergang. Ich bin mit Henning unterwegs, wir laufen durch die Dunkelheit in dieser schlecht beleuchteten Straße mit den unebenen Bürgersteigen. Dies ist die Rückseite des Vergnügungsviertels: Auf der anderen Seite der Häuserzeile haben die Restaurants geöffnet, die Bierhallen und Lounges und Clubs, die Imbisse und die Läden mit Ramschelektronik und gefälschten Turnschuhen, aber das hier sind die Hinterhöfe, still und dunkel. Mülltonnen, abgestellte Fahrräder, Hintereingänge. Aus einer geöffneten Tür dringt Licht, und asiatische Musik, eine Restaurantküche, wir sehen den Koch bei der Arbeit.
Henning schnuppert. „Ein Thai-Restaurant“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Sie nehmen zu viel Koriander.“
Wir gehen weiter, und mir fällt auf, dass anscheinend nur wir hier unterwegs sind. Nun ist dies eine Gegend, in die Fremde sich nur selten verirren, mit eigenen Regeln und Gesetzen – ich würde sie das Nachtjackenviertel nennen, obwohl dieser Begriff, wie ich glaube, schon vor einigen Jahrzehnten ausgestorben ist. Aber die Straßen sind zu leer...
Henning scheint das auch zu fühlen, er lacht leise und sagt: „Irgendwie geht mir die ganze Zeit der alte Gag durch den Kopf: ‘Wir sollten um diese Zeit nicht hier sein. In der Nacht sind hier gefährliche Leute unterwegs’.“
Ich nehme den Gag auf: „‘Ja. Wir’.“ Wir lachen beide und gehen weiter.
Aber er hat Recht, denke ich. Wir sind auf dem Weg zu einem Rockkonzert, und dies hier ist der schnellste Weg von der U-Bahn-Haltestelle zu der Halle, in der es stattfinden wird – nicht der direkte, aber der schnellste. Der direkte hätte uns durch das Vergnügungsviertel geführt, aber es ist Freitag Abend, die Straßen dort quellen von Menschen über, wir hätten die dreifache Zeit gebraucht. Also haben wir den parallelen Weg genommen.
Aber der hat uns in diese Gegend geführt, wo die Straßen in dieser Nacht zu leer sind, und ich weiß, was das bedeutet: Dass hier heute Nacht Typen unterwegs sind, denen die Einheimischen eher nicht begegnen möchten – und damit sind nicht Henning und ich gemeint.

Dann beginnt irgendwo ein Hund zu bellen, ein großer, wie es sich anhört, und er ist erkennbar wütend. Henning bleibt stehen, blickt in die Finsternis vor uns, lauscht. Ich weiß, dass er mehr hört als ich, nicht nur das Gebell, sondern auch die Botschaft dahinter, weil er ist, was er ist.
„Patrick“, ruft er und läuft los. Ja, denke ich, Patrick – der Freund, mit dem wir uns treffen wollten, um gemeinsam das Konzert zu besuchen. Offensichtlich hat er den gleichen Weg genommen wie wir, und ebenso offensichtlich ist er den Leuten begegnet, mit denen die Einheimischen lieber nicht zusammentreffen wollten. Ich setze mich in Bewegung und habe Henning eingeholt, noch bevor wir den Ort des Geschehens erreichen.
Hier reicht ein Schuppen bis direkt an die Straße, aber dahinter treten zwei Häuser ein Stück zurück, und als wir diese Bucht erreichen, stolpern wir in direkt eine Szene, die ich erst einmal sortieren muss. Es sind drei Männer daran beteiligt und ein Hund, und sowohl der Hund als auch zwei der Männer sind mir unbekannt, aber der dritte ist Patrick. Jemand hält ihm ein Messer an den Hals.
Der Typ ist nicht sehr groß, aber bullig gebaut, ein Glatzkopf, der die für solche Typen übliche Kapuzenjacke trägt, mit den üblichen Tarnflecken. Er drückt Patrick auf eine Weise an die Mauer, die einige Übung verrät, hält ihm dabei das Messer an die Kehle und wurschtelt gleichzeitig mit seiner anderen Hand in Patricks Jacke herum. Dann findet er, wonach er gesucht hat, und ruft seinem Kumpel zu: „Ey, sieh mal, er hat ein richtig geiles Handy!“
Was uns zu dem zweiten Unbekannten bringt: gleicher Typ, gleiche Nicht-Frisur, nur größer, noch massiger und mit dunkler Jacke. Er ist es auch, der den Köter an der Leine hält, ein Riesenvieh, schwarz und mit plattgedrückter Schnauze. Er bellt und geifert und zerrt an der Leine, und Herrchen muss seine ganze Kraft aufwenden, um ihn zu halten.
Ja, denke ich, die Lage ist klar: Das hier ist ein gewöhnlicher Straßenschläger-Gelegenheitsüberfall. Die beiden waren mit ihrem Hund unterwegs, mal sehen, was so läuft und ob sich irgendwas ergibt an diesem Freitagabend, und dann lief ihnen Patrick über den Weg, jung, schlank, in einer teuren Jacke und offensichtlich fremd hier – ein leichtes Opfer. Außer, dass Patrick gar kein leichtes Opfer sein sollte...
Nun gut, dann muss eben ich die Sache klären. Also mache ich einen Schritt vorwärts und brülle: „Hey!“ Das verschafft mir die sofortige Aufmerksamkeit aller Anwesenden. „Was soll das hier werden, eine neue Folge von ‘Geld oder Leben’?“ frage ich. Keine Reaktion. Die beiden Typen starren mich nur an, Wuffi allerdings wählt mich sofort zu seinem neuen Lieblingsfeind und knurrt und geifert jetzt in meine Richtung.
Offensichtlich haben sie nicht begriffen, worauf ich hinaus will. Also werde ich deutlicher: „Steck das verdammte Messer weg, gebt meinem Freund seine Sachen zurück, und dann verschwindet ihr, sonst ruft ein Kumpel hier die Polizei.“ Ich deute auf Henning, der einen Schritt hinter mir steht, sein Telefon gezückt hat und genau dies tut.
Aber die Reaktion darauf ist nicht die, die ich erwartet habe. „Ach ja?“ brüllt der große Glatzkopf, und dann lässt er die Hundeleine fahren. Der schwarze Riesenköter macht einen Satz auf uns zu, und ich weiche zurück – das könnte jetzt etwas unangenehm werden –, aber Henning macht einen Schritt vor und sieht ihm in die Augen und knurrt, einmal, ganz kurz. Und der Hund jault auf und stoppt, zieht den Schwanz ein und weicht vor Henning zurück. Der lässt noch ein Knurren hören, länger diesmal und schärfer, und der Köter winselt und dreht ab und huscht hinter die nächste Mülltonne. Da hockt er dann, zitternd, und schielt angstvoll in unsere Richtung.
Herrchen gefällt das gar nicht. Er setzt sich wütend in Richtung auf Henning in Bewegung, aber ich trete ihm in den Weg. Er bleibt stehen, starrt auf mich herab und grollt: „Ach nee, willst du mich aufhalten, du kleiner Scheißer?“
Ach ja, es stimmt, er ist fast einen Kopf größer als ich. Das ist der Lauf der Zeit: Ich bin Baujahr 1703, und da galt ich mit meinen 1,76 m als hochgewachsen; inzwischen ist das nicht einmal mehr Mittelmaß. Dieser Riesenkerl glaubt deshalb offenbar, dass ich für ihn kein Gegner bin, aber ich müsste nicht einmal ein halbes Dutzend von seiner Sorte fürchten, so wenig wie Patrick das Messer.
Ach so, ich glaube, ich habe vergessen zu erwähnen, dass ich ein Vampir bin – ja, genau, Vampir: untot, Nachtwesen, Bluttrinker, die Stärke von neun Männern und eine extreme Abneigung gegen Sonnenlicht. Patrick ist ebenfalls ein Vampir, allerdings erst seit knapp einem Jahr, und er kennt seine Kräfte noch nicht völlig. Henning dagegen ist ein Werwolf – Werwolf, Vegetarier und Pazifist, eine interessante Mischung.
Ich versuche abzuschätzen, was der Typ mir gegenüber eigentlich vorhat – und was sein Kollege tun wird, der immer noch Patrick das Messer an den Hals hält. Überhaupt frage ich mich, was mit den Beiden los ist. In den fast dreihundert Jahren meiner untoten Existenz habe ich Dutzende solcher Überfälle mitgemacht – meine nächtliche Lebensweise bringt das mit sich. Normalerweise haben derartige Gelegenheitsräuber kein Interesse daran, zufällig vorbeikommenden Zeugen ihre Arbeitsweise vorzuführen. Nein, wenn sie überrascht werden, und besonders, wenn die Polizei ins Spiel zu kommen droht, verschwinden sie. Normalerweise. Aber diese beiden hier...
Dann macht der Typ vor mir eine schnelle Bewegung, und ich erkenne, dass ich nicht einen Fehler gemacht habe, sondern drei: Ich habe ihn zu nahe an mich herankommen lassen, ich hätte damit rechnen sollen, dass auch er bewaffnet ist, und ich habe nicht in seine Augen gesehen. Dann hätte ich nämlich bemerkt, dass er mit irgendwelchen Drogen komplett zugedröhnt ist und überhaupt nicht mehr vernünftig handeln kann. Drei Fehler, und deshalb sehe ich es nicht kommen, sondern habe das Messer im Magen, bevor ich irgend etwas machen kann.
Ich krümme mich, und der Kerl lacht dreckig. Wäre ich ein lebender Mensch, wäre ich jetzt in ernsthaften Schwierigkeiten, aber ich bin ein Vampir, ich habe nicht einmal richtige Schmerzen, nur dieses widerliche kalte Gefühl von zwanzig Zentimetern Stahl in meinem Inneren, wo sie definitiv nicht hingehören.
Dass ich mich krümme, ist nur ein Reflex. Als er das Messer zurückzieht, packe ich seinen Arm, und ich fasse wohl etwas zu fest zu, denn ich spüre das Knacken, mit dem die Speiche bricht. Das habe ich nicht gewollt, aber es tut mir in diesem Moment auch nicht übermäßig leid. Er stöhnt und lässt das Messer fallen. Ich schlage zu, meine Faust gegen seine Schläfe, und diesmal bin ich vorsichtig genug, ihm nicht den Schädel zu zerschmettern. Jeder von uns hat die Kraft von neun Männern, heißt es, und ich glaube, das stimmt. Der Typ kracht zu Boden.

Ich sehe mich nach meinen Freunden um. Henning hat sich herausgehalten, was gut ist, denn er ist zwar ein Werwolf, aber eben auch ein sterblicher Mensch, und für ihn ist es gefährlich, sich einzumischen, wenn durchgeknallte Straßenräuber mit Messern hantieren. Patrick ... Patrick hat sich darauf besonnen, dass auch er ein Vampir ist und Kerle wie diese nicht wirklich fürchten muss. Er hält seinen Glatzkopf, der offensichtlich irgendwie ebenfalls das Bewusstsein verloren hat, in einem festen Griff und will gerade einen Biss ansetzen.
„Nicht trinken!“ rufe ich. Patrick stutzt, hält aber inne.
„Nicht trinken“, wiederhole ich. „Die Kerle sind bis zum Stehkragen voll mit irgendwelchem Zeug. Wenn du ihr Blut trinkst, holst du dir eine volle Dröhnung. Möchtest du das?“
„Igitt“, sagt Patrick und lässt den Kerl fallen.
„Ist jemand verletzt?“ frage ich.
„Du doch wohl“, sagt Henning.
„Das ist in ein paar Minuten verheilt“, sage ich und werfe einen Blick auf das Loch in meiner Mitte, das schon dabei ist sich zu schließen. „Nur mein Hemd ist hinüber. Mist.“
„Du könntet dir ein T-Shirt an den Ständen in der Halle kaufen“, schlägt Henning vor. „Patrick? Alles in Ordnung?“
Patrick nickt. Er hat sich inzwischen sein Handy wiedergeholt. „Nur ein Schnitt am Hals, aber der ist schon fast wieder verschwunden.“
Das stimmt. Wir heilen schnell, und keiner von uns hat etwas abbekommen, das einen Vampir beunruhigen müsste.

Also gehen wir und lassen die beiden Bewusstlosen zurück. Als wir an dem Köter vorbeikommen, versucht der sich hinter seiner Mülltonne unsichtbar zu machen. Henning lächelt, dann knurrt er leise, und das ist zu viel: Die Töle jault noch einmal auf und saust dann mit eingekniffenem Schwanz die Gasse hinunter.
Patrick lacht. „Was hat er bloß?“ fragt er.
„Hunde hassen und fürchten uns“, erklärt Henning. „Sie waren einmal Wölfe, aber sie haben das Wolf-sein aufgegeben, um Menschen zu werden. Ich bin ein Werwolf, und damit habe ich alles, was sie nicht haben können: Ich bin der Mensch, der sie niemals sein werden, und der Wolf, der sie nie wieder sein können.“

Wir gehen weiter, und ich sehe auf die Uhr und stelle fest, dass wir noch genügend Zeit haben. Wenn wir nicht noch einmal in eine derartige Situation geraten, werden wir es rechtzeitig zum Konzert schaffen.

© P. Warmann