Gefangen – Der seltsame Doktor, Teil 2.

Es ist der Abend am Tag nach der Party. Ich bin gerade aufgestanden, sitze im Wohnzimmer und unterhalte mich mit Kurt.
„Du kennst also den Doktor, der gestern unseren unbekannten Vampir abgeschleppt hat?“ frage ich ihn.
„Ja. Ich war selbst bei ihm, vor ungefähr zweieinhalb Jahren. Er sucht Menschen mit besonderen Talenten – Telepathie, Telekinese, Vorauswissen, solche Sachen. Als ich ihm meinen Unsichtbarkeitstrick gezeigt habe, war er völlig begeistert.“ Kurt sieht mich nachdenklich an.
„Er hat meine Gehirnströme gemessen, unter anderem. Es gibt wohl tatsächlich ein charakteristisches Muster, das immer dann auftritt, wenn ich mich ausblende. Dann hat er eine Computertomografie von meinem Gehirn gemacht – das übrigens völlig normal ist, jedenfalls meint er das.“
„Du sagtest, er sei dir unheimlich“, werfe ich ein.
Kurt nickt. „Zuerst fand ich seine Untersuchungen sehr sinnvoll: Er versucht möglichst viel über das menschliche Gehirn herauszufinden, um Menschen mit Hirnverletzungen besser helfen zu können. Aber dann, eines Tages, hat er mich über Nacht dabehalten in seiner Klinik. Er wollte meine Gehirnströme messen, während ich schlafe, oder zumindest hat er das gesagt. Ich bin eingeschlafen, am nächsten Morgen wieder aufgewacht, und fühlte mich wie zerschlagen. Und als ich nach Hause kam, war es gar nicht der nächste Morgen, sondern drei Tage später! Außerdem hatte ich Einstiche in beiden Armbeugen.
Ich habe ihn angerufen, und er wollte mich abwimmeln mit ‘Wahrscheinlich haben Sie das Datum durcheinandergebracht’. Nein, habe ich nicht. Ich habe ihm gesagt, ich würde nicht weiter mit ihm zusammenarbeiten, und das war es. Seitdem bin ich ihm nicht mehr begegnet, bis gestern Nacht.“
„Hm“, sage ich. „Jetzt hat er also Kontakt mit einem Vampir aufgenommen. Bestimmt ein interessantes Forschungsgebiet.“
„Du sagst, du hast bei dem Jungen einen Einstich im Hals gesehen“, bemerkt Kurt. „Kann man denn einem Vampir das Blut abzapfen?“
„Normalerweise nicht“, sage ich langsam. „Jedenfalls nicht auf dieselbe Art wie einem Lebenden. Ich frage mich, was der gute Doktor vorhat. Diese Sache gefällt mir gar nicht.“

Einige Tage später. Ich habe in dieser Nacht nichts besonderes vor, also sehe ich mir die Klinik an, die dem guten Doktor gehört. Sie ist in einer riesigen wilhelminischen Villa untergebracht, die nach hinten hinaus noch durch einen einstöckigen modernen Anbau erweitert wird. Alles sehr geschmackvoll renoviert, der Garten perfekt gepflegt, das kann man sogar mitten im Winter erkennen. Die Umgebung besteht aus lauter erlesenen Villen der gleichen Art, und das mitten in der Stadt. An die Immobilienpreise hier möchte ich nicht einmal denken.
Also gut, sage ich mir, jetzt weiß ich, wo der Doktor residiert. Viel mehr gibt es hier nicht zu sehen. Ich will gehen, da öffnet sich die Tür der Klinik, und er tritt heraus: der junge Vampir. Ich spüre seine Gegenwart wie ein Ziehen im Nacken, und ich glaube, er spürt auch mich, denn er sieht in meine Richtung. Ich trete in das Licht einer Straßenlampe, und er kommt zu mir herüber.
„Suchst du mich?“ fragt er.
„Nein“, sage ich ehrlich. „Ich war nur an dem Haus interessiert. Ein Freund von mir hatte den Doktor erkannt, als du zu ihm in den Wagen gestiegen bist.“
„Oh“, sagt er nur. Wir gehen eine Zeit lang nebeneinander her. Als sich der Weg öffnet und den Blick auf Wasser freigibt, tritt er an das Geländer. Weit drüben, am anderen Ufer, funkeln die Lichter der Stadt.
Ich stelle mich neben ihn. „Was verbindet dich mit dem Doktor?“ frage ich.
„Er forscht. Er untersucht Menschen mit besonderen Begabungen. Ich dachte, er könnte mir sagen, was es bedeutet, ein Vampir zu sein.“
„Zapft er dir das Blut ab? Ich hätte gedacht, dass das gar nicht geht.“
„Er benutzt eine silberne Kanüle“, sagt der Junge müde.
„Uh.“ Ich schaudere. Die meisten Geschichten über das, was Vampiren angeblich schadet, sind kompletter Blödsinn. Ich mochte zwar noch nie Knoblauch, aber das ist eine persönliche Abneigung; mit Weihwasser könnte ich mich waschen, Pflöcke im Herzen sind zwar unangenehm, aber nicht weiter schädlich, und religiöse Symbole beunruhigen mich auch nicht. Silber dagegen ist ein echtes Problem.
Schon es zu berühren... Es erzeugt ein seltsames Gefühl, eine Taubheit oder eine Lähmung. Vielleicht ist es ein Bewusstsein davon, wie tot unser Körper in Wirklichkeit ist, ohne Atem, ohne Blut. Oder vielleicht zieht es das untote Leben aus uns heraus.
Aber die Vorstellung, mit Silber verletzt zu werden... Mir ist das ein einziges Mal passiert, als ich mich versehentlich an der Broschennadel einer Frau gestochen habe, und es war, als wenn ein Blitz in meine Hand schlug. Ich habe die Hand nicht mehr gespürt, den ganzen Arm nicht, als wären sie nicht mehr vorhanden. Das Gefühl kam erst nach Stunden zurück. Ich möchte mir nicht einmal vorstellen, wie es sein muss, wenn eine Nadel im Körper verweilt.
„Was macht er mit dem Blut?“ frage ich leise.
„Er sucht nach Wegen, verletzte Gehirne zu heilen“, erklärt er. „Wir Vampire haben bekanntlich ganz extreme Fähigkeiten der Selbstheilung. Vielleicht kann er aus meinem Blut ein Serum dafür herstellen.“
„Ich habe zu viele Freunde an Schwindsucht sterben sehen, an Cholera oder Pocken, und Frauen im Kindbett, als dass ich etwas gegen den medizinischen Fortschritt sagen würde“, meine ich. „Aber immer wieder ist so etwas versucht worden, von Alchemisten, Ärzten und modernen Forschern, und es ist nie etwas daraus geworden. Ich glaube nicht, dass wir Untoten den Lebenden etwas zu geben haben.“
Er antwortet nicht. Dann sieht er mich an. „Weißt du, dass Freunde mich vor dir gewarnt haben? Sie sagen, du bist mehr als gefährlich.“
„Ich?“ frage ich verblüfft. „Wieso gefährlich? Ich bin der harmloseste und bürgerlichste Vampir auf diesem Planeten.“
Er lacht. „Angeblich bist du uralt, du brichst alle Regeln und du umgibst dich mit merkwürdigen und unheimlichen Leuten.“
„Dreihundert Jahre sind nicht uralt. Ich breche die Regeln? Weil ich mich mit Lebenden umgebe und es offen ausspreche, dass wir tot sind und nicht ‘verwandelt’ oder wie sie es gerne nennen möchten? Nein, ich breche die Regeln nicht: Ich bin überzeugt davon, dass es keine verbindlichen Regeln für Vampire gibt.
Und was meinen die mit ‘merkwürdigen und unheimlichen Leuten’? Etwa, dass mein bester Freund ein Werwolf ist?“
„Er ist was?“ Er starrt mich an und merkt, dass ich es ernst meine. „Es gibt wirklich Werwölfe?“
Er schüttelt den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass es wirklich Werwölfe geben soll. Aber ich glaube auch immer noch nicht wirklich, dass es Vampire gibt.“ Er lacht.
Dann wendet er sich zum gehen, und wir gehen noch ein Stück zusammen und unterhalten uns. Er erzählt mir, dass er Patrick heißt, und wir verabreden, uns wieder zu treffen, in ein paar Nächten.

Einige Wochen später. In der Zwischenzeit habe ich mich einige Male mit Patrick getroffen – wir kommen gut miteinander aus. Am Abend zuvor ist er allerdings zu unserer Verabredung nicht erschienen.
Ich bespreche die Sache mit Kurt. „Was mir Sorgen macht, ist, dass er nicht abgesagt hat“, erkläre ich. „Und dass er mir erzählt hat, er wäre vor dem Treffen noch mit dem Doktor verabredet ... und der hat dich damals ohne Vorwarnung drei Tage festgehalten.“
„Denkst du, es könnte etwas Ähnliches sein?“ fragt Kurt.
„Ich weiß es nicht. Und deshalb werde ich hingehen und den Doktor fragen.“
„Lass mich mitkommen“, sagt Kurt. „Vielleicht wirst du meine Hilfe brauchen.“
„Du hast schon einmal dein Leben für mich riskiert“, sage ich. „Mach das bitte nicht noch einmal.“
„Ich werde mich unsichtbar im Hintergrund halten“, sagt Kurt mit einem Lächeln. „Darin habe ich schließlich genug Übung.“

Wir machen uns also auf zur Klinik. Als wir das Grundstück betreten, wird Kurt neben mir unsichtbar. Ich schließe mich einem älteren Paar an, das gerade die Klinik betritt. Auch drinnen ist eine Menge los – offensichtlich abendliche Besuchszeit.
Ich wandere unauffällig dorthin, wo nach Kurts Beschreibung das Arbeitszimmer des Doktors sein soll, und finde es ohne Probleme. Die Tür ist nicht verschlossen, und er sitzt hinter seinem Schreibtisch. Als ich den Raum betrete, sieht er überrascht hoch.
„Ich suche Patrick Werner“, sage ich.
„Oh...“ sagt er, und dann merke ich, dass er erkennt, was ich bin.
„Sie sind ein Freund von ihm?“ fragt er. „Und Sie sind augenscheinlich“, er senkt die Stimme, „ebenfalls ein Vampir? Wie wundervoll!“
Er kommt auf mich zu, und ich hebe abwehrend die Hand. „Ich bin nicht hier, um mich von Ihnen untersuchen zu lassen. Ist Patrick hier?“
„Äh ... ja. Zu einer ausgedehnten Untersuchung ... möchten Sie zu ihm?“
Das läuft besser als erwartet, denke ich. „Ja, das möchte ich.“
„Dann folgen Sie mir bitte.“
Er führt mich in den Anbau der Klinik. Dort bleibt er vor einer Tür stehen, im Unterschied zu den anderen Türen in diesem Gang ist es eine schwere Stahltür. Er öffnet sie – sie ist nicht abgeschlossen – und sagt: „Bitte sehr.“
Ich trete ein. Ein hell erleuchteter Raum, weiße Wände, keine Fenster – und keine Möbel, nur eine Art niedriger gemauerter Sockel mit einem Polster darauf, und darauf liegt Patrick. Auf dem Rücken, sehr still, wie tot. Was er ja auch ist, aber hier stimmt etwas nicht. Ganz und gar nicht. Ich mache einen Schritt auf ihn zu, hinter mir macht es Klong!, und ich fahre herum. Die Stahltür ist zu. Verdammt!
Ich kann sie nicht öffnen – es gibt hier innen überhaupt keine Klinke. Auch kein Schloss, und die Tür ist zu massiv, als dass ich sie einrennen könnte. Ich versuche es trotzdem. Nichts zu machen. Ich bin gefangen.
Also wende ich mich Patrick zu. Warum liegt er so reglos, wie erstarrt? Das ist kein natürlicher Zustand. Ich berühre ihn und zucke zurück. Es fühlt sich an wie... Ich berühre ihn noch einmal, vorsichtig, drehe seinen Kopf, und dann sehe ich es: in seinem Nacken, direkt unter dem Haaransatz, der Kopf einer silbernen Nadel.
Ich schaudere. So also hat der Doktor ihn ausgeschaltet. Vorsichtig greife ich nach der Nadel, und das Silber kriecht in meine Fingerspitzen, die kalte Taubheit breitet sich aus. Ich ziehe die Nadel heraus und schleudere sie in eine Ecke. Patrick rührt sich nicht. Ich frage mich, was die Wirkung einer Nadel im Genick ist und wie lange es dauern wird, bis sie abklingt.
Da ich Patrick im Augenblick nicht helfen kann, suche ich nach einem Ausweg. Wände aus solidem Beton, eine Stahltür ohne Klinke, die Decke unerreichbar hoch. Keine Chance. Also setze ich mich neben Patrick auf das Polster und warte.

Stunden vergehen. Nichts geschieht. Niemand lässt sich blicken, keine Geräusche hinter der Tür, keine Stimme mit Verhandlungsangeboten oder Drohungen. Kein Zeichen von Kurt – haben sie ihn auch geschnappt? Irgendwann ein Geräusch über mir, unter der Decke. Ich werfe einen Blick nach oben und muss hart lachen. Oh ja, dies ist eine Falle.
Dann, es muss schon nach Mitternacht sein (ich trage keine Uhr), bewegt sich Patrick, murmelt etwas und öffnet die Augen. „Du auch hier?“ fragt er mit belegter Stimme.
„Tja, ich hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, und habe dich gesucht. Offensichtlich hatte ich Recht, aber ich war unvorsichtig.“
Er versucht sich aufzusetzen, schafft es aber nicht. Als er sich zurücksinken lässt, geht sein Blick zur Decke, und er keucht. „Das Glasdach ... die Abdeckung ist offen!“
„Ja, die haben sie vorhin irgendwann aufgezogen.“ Der Raum hat ein gewölbtes Dach aus klarem Glas, durch das ich den Himmel sehen kann.
„Wenn die Sonne aufgeht, wird sie uns vernichten“, sagt Patrick leise.
Ich nicke.
„Du nimmst das verdammt ruhig.“
„Ich lehne es ab, mich über etwas aufzuregen, das vielleicht gar nicht eintreten wird. Möglicherweise ist dies nur ein Erpressungsversuch. Du weißt schon: Zwanzig Minuten vor Sonnenaufgang melden sie sich und stellen uns vor die Wahl, entweder zu machen, was sie wollen, oder...“
„Das glaube ich nicht. Ich kenne den Doktor.“
Ich zucke mit den Schultern. „Wie auch immer, ich werde warten, aufmerksam bleiben und jede Gelegenheit nutzen, die sich bietet. Und wenn es keine Chance gibt ... dann werde ich nehmen, was kommt.“
„Was geschieht, wenn das Licht uns trifft?“
„Ich habe gehört, dass es sehr schnell geht“, sage ich langsam, „und übrig bleiben nur zwei Hände voll weißer Asche.“

Wir wechseln das Thema und unterhalten uns leise über alle möglichen Dinge. Es dauert Stunden, bis Patricks Kräfte soweit zurückkehren, dass er aufstehen kann. Dann untersuchen wir noch einmal den Raum.
Die Tür widersteht auch unseren gemeinsamen Bemühungen, die Wände haben keine schwachen Stellen. Patrick steigt auf meine Schultern, aber er erreicht nicht einmal den unteren Rand des Glasdaches. Es gibt keinen Ausweg.
Als er von meinen Schultern steigt, fragt Patrick mit leicht zitternder Stimme: „Täusche ich mich, oder wird der Himmel hell?“
„Das ist der Mond“, sage ich. „Wir haben Vollmond. Bis zur Morgendämmerung sind es noch Stunden.“
Wir setzen uns wieder, und Patrick erzählt mir, wie er zum Vampir geworden ist.
„Es war im letzten Juli. Ich hatte Liebeskummer, also habe ich spontan meinen Resturlaub genommen und bin nach Kopenhagen gefahren. Kopenhagen im Juli ist wundervoll. Ich habe nette Leute kennen gelernt, sie haben mich auf eine Abendeinladung mitgenommen, in eine riesige alte Villa. Harfenmusik und ein kaltes Büfett. Irgendwann stand ich auf der Terrasse, Blüten dufteten und eine Amsel sang, und ich sagte zur Gastgeberin: 'Ich wünschte, diese Nacht würde nie zu Ende gehen.’ Einen Augenblick später hatte ich ihre Zähne im Hals, und sie machte mir ein Angebot. Wie du siehst, habe ich es angenommen. Wie war es bei dir?“
Ich muss lachen. „Praktisch das genaue Gegenteil. Es war ausgerechnet die Nacht vor Totensonntag, und ich war auf dem Heimweg von einer grässlich langweiligen Abendeinladung. Roastbeef und Gespräche über die Preise von Stockfisch und Rum. Und es regnete natürlich. In einer dunklen Gasse packt mich jemand und stellt mich vor die Wahl: leergetrunken werden und sterben oder Vampir sein. Ich glaube, ich war das Objekt einer Wette unter Vampiren.“ Ich schüttle den Kopf.
Dann schweigen wir und versuchen nicht daran zu denken, dass der Morgen unerbittlich näher rückt. Der Himmel wird dunkler, als der Mond untergeht. Wenn er das nächste Mal wieder heller wird, wird es unser Untergang sein.

Plötzlich lässt mich etwas aufschrecken. War da eine Bewegung über mir, auf dem Glasdach? Vielleicht eine Katze...
Nein, keine Katze, etwas Größeres. Dann ein Knall von brechendem Glas, und es regnet Splitter. Ich springe auf. Von oben tönt eine Stimme herunter: „Ist bei euch alles in Ordnung?“
„Henning!“ rufe ich erleichtert. „Ja, uns geht es soweit gut.“
„Dann lasse ich euch ein Seil runter“, ruft er, und dann schlängelt sich ein Seil zu uns herab. Als ich es ergreife, merke ich, dass es das Abschleppseil von Hennings Wagen sein muss.
Ich klettere mühelos nach oben, und Patrick folgt mir etwas langsamer. Als wir ihm auf das Dach helfen, grollt Henning: „Du bist also der Typ, der kleine Mädchen angebissen liegen lässt.“
Patrick zuckt zusammen.
„Hast du aber eine Stinklaune“, sage ich zu Henning.
„Kein Wunder, wenn man fast einen Freund verliert“, sagt er und umarmt mich kurz und rauh.
„Was machst du überhaupt hier?“ frage ich.
„Ich hatte eine SMS auf dem Handy, von Kurt, dass ihr hier gefangen gehalten würdet, er würde versuchen euch zu befreien, und sich wieder melden. Es gab aber keine zweite Meldung von ihm, also bin ich hergefahren um nachzusehen. Ich dachte schon, ich komme zu spät, weil ich die Nachricht ja erst nach Monduntergang lesen konnte.“
„Wieso?“ fragt Patrick verblüfft.
„Bis dahin war ich Wolf“, sagt Henning trocken, und Patricks Augen werden groß, als er begreift, dass die Sache mit meinem besten Freund als Werwolf kein Scherz war.
„Mein Wagen steht vor dem Haus“, erklärt Henning. „Wollt ihr die Schlüssel und euch absetzen, oder kommt ihr mit? Kurt ist noch da drinnen.“
Ich sehe zum Himmel. „Wir haben noch gut zwei Stunden. Ich komme mit.“

Auch Patrick begleitet uns, als wir vom Dach klettern und einen Eingang suchen. Wir finden eine Seitentür, verschlossen, aber sie sieht nicht sehr stabil aus.
„Lasst mich auch mal was kaputtmachen“, sage ich, nehme kurz Anlauf und trete die Tür ein. Sie führt in einen langen Gang.
„Irgendwo da hinten ist Kurt“, sagt Henning. „Ich kann ihn wittern.“ Er sieht Patricks Blick und grinst schief. „In diesen Nächten um den Mittwinter-Vollmond ist viel vom Wolf in mir.“
Er zeigt auf eine Tür, die offen steht. Drinnen hantiert eine Krankenschwester an einem scheinbar leeren Bett. Henning hüstelt, sie fährt herum, quiekt und huscht an uns vorbei.
Henning sieht ihr nach und grollt: „Ratten ... da könnte man fast dem Vegetarier-Sein abschwören.“ Ich weiß nicht, ob ich das für einen Scherz halten soll.
„Hier ist doch niemand“, sagt Patrick.
„Doch, fühle mal.“ Ich nehme seine Hand und führe sie zum Bett. Er spürt Kurt und zuckt zurück.
„Das ist Kurt“, erkläre ich. „Er wird in Stresssituationen unsichtbar. Also los, nichts wie raus hier.“
Henning lädt sich Kurt auf die Schulter, und wir machen uns davon in Richtung Ausgang.

Ich denke schon, dass wir es so gut wie hinter uns haben, aber dem ist natürlich nicht so. Neben der Hintertür wartet der Doktor auf uns, eine gefährlich aussehende Pistole in der Hand.
Mir reicht es. Ich habe keine Lust mehr auf irgendwelche Spielchen. Also marschiere ich auf ihn zu, und er macht denselben Fehler wie alle Amateure und kann sich nicht dazu durchringen abzudrücken. Ich winde ihm die Waffe aus der Hand, packe ihn unter dem Kinn und zeige ihm meine Zähne.
„Sie haben die Wahl“, sage ich in dem forschen Tonfall, den ich bei meinem Rhetoriklehrer immer gehasst habe, „ob ich oder Patrick Sie leertrinken oder gegebenenfalls mein Freund Ihnen die Kehle aufreißen soll. Falls Ihnen jedoch keine dieser Optionen zusagt, dann rate ich Ihnen, nie wieder jemanden gegen seinen Willen festzuhalten oder eine Untersuchung ohne seine Zustimmung durchzuführen. Sollten sie diese Bedingungen missachten, werde ich mich gezwungen sehen, Ihren Vorgarten mit Ihrer kopflosen Leiche zu schmücken. Sie haben verstanden?“
Dann stelle ich ihn beiseite, und wir verlassen dieses ungastliche Haus.

Wir kommen unbehelligt zu Hennings Wagen. Dort stelle ich fest, dass ich noch immer die Waffe in der Hand halte, und stopfe sie mit dem Lauf voran in einen herumstehenden Blumenkübel. Henning verstaut Kurt auf dem Beifahrersitz; Kurt wird dabei halb wach, murmelt etwas und wird sichtbar.
„Das war aber eine nette Ansprache“, sagt Henning.
„Mein Rhetoriklehrer wäre stolz auf mich“, sage ich. „Normalerweise schließt man so etwas ja ab mit ‘Unterzeichnen Sie dies’, aber ich hatte keine Gelegenheit, etwas vorzubereiten.“
Patrick starrt mich an, und ich hebe den Zeigefinger. „Wie schon mein Vater sagte: ‘Die Kunst des erfolgreichen Verhandelns ist die Grundlage jedes kaufmännischen Erfolges’. Das war natürlich ein kompletter Bluff – ich werde keinen Menschen töten, niemals.“
„Du warst sehr überzeugend“, sagt Patrick.
„Also los, alles einsteigen“, drängt Henning.
„Komm mit zu mir“, biete ich Patrick an. „Ich habe einen lichtdichten Gästeschlafplatz.“
„Sehr gerne“, sagt er. „Der Doktor kennt nämlich mein Versteck.“
Wir steigen in den Wagen, und Henning bringt uns sicher vor Sonnenaufgang nach Hause.

© P. Warmann