Ich bin ein Dieb, aber ich bin kein gewöhnlicher Dieb. Gewöhnliche
Diebe stehlen Dinge ich nicht. Das heißt, normalerweise nicht,
aber diesmal habe ich mich von dem Mann, der mir einen großen Teil meiner
Beute abkauft, dazu überreden lassen, genau das zu tun. Ich soll für
ihn ein ungemein wertvolles Kunstobjekt beschaffen, und das ist deshalb kein
Auftrag für einen gewöhnlichen Dieb, weil das Objekt auf eine Weise
gesichert ist, die nur ich knacken kann. Allerdings gibt es auch noch eine
ganz gewöhnliche Alarmanlage, und daher steht neben mir vor dieser Ausstellungshalle,
in der Schmuck und Goldschmiedearbeiten aus zwei Jahrhunderten gezeigt werden,
ein junger Mann, dessen Namen ich nicht weiß und auch nicht wissen will.
Er soll für diesen Teil der Operation zuständig sein.
Es ist Nacht, die Straße menschenleer, die Ausstellung seit Stunden
geschlossen. Wir betreten das Gebäude durch eine ungesicherte Seitentür,
gehen durch einen langen Gang, vorbei an unwichtigen Nebenräumen, begegnen
niemandem. Der Gang führt uns zu einer Tür, durch deren Glaseinsatz
wir in die Eingangshalle sehen können. Sie ist hell erleuchtet, und drinnen
sitzt, alles überblickend, ein Wachmann.
Und wie kommen wir jetzt weiter? raunt mein Begleiter mir ins
Ohr. Die Treppe da drüben ist der einzige Weg rauf in die Ausstellungsräume,
und zur Treppe kommen wir nur quer durch die Halle.
Und genau so werden wir es machen, sage ich. Wir gehen ganz
einfach rüber zur Treppe.
Mitten durch die Halle? Einfach so an dem Wachmann vorbei? Was, denkst
du, wird er machen, wenn er uns sieht?
Er wird gar nichts tun, sage ich und lächle, denn wir
werden uns an ihm vorbeistehlen. Oder besser gesagt, ich stehle uns
an ihm vorbei. Gehe ganz ruhig neben mir, sprich nicht und sieh nicht in seine
Richtung, den Rest mache ich.
Er sieht mich ziemlich skeptisch an, holt dann aber tief Luft und nickt. Ich
öffne die Tür, und wir treten in die Halle. Ohne zu zögern
steuere ich auf die Treppe zu, gehe zügig und ohne Hast. Mein Begleiter
bleibt an meiner Seite. Er hält sich an die Anweisungen, und nur an seinen
Atemzügen merke ich, wie angespannt er ist. Und der Wachmann? Der starrt
gedankenversunken in die dünne Luft vor sich, wirft dann kurz einen Blick
auf die Zeitung auf seinen Knien, runzelt die Stirn und tippt sich nachdenklich
mit dem Kugelschreiber an die Lippe. Offensichtlich kämpft er mit einem
schwierigen Kreuzworträtsel-Problem.
Uns scheint er überhaupt nicht zu bemerken, obwohl wir keine drei Meter
entfernt durch sein Blickfeld gehen. Wir erreichen die Treppe und steigen
sie hoch, immer noch langsam und ohne hastige Bewegungen. Oben öffne
ich die Tür, und erst dort im Gang, als die feuersichere und schalldichte
Tür hinter uns zugefallen ist, packt mich mein Begleiter am Arm.
Wie hast du das gemacht? Er hat uns gesehen! Er muss uns gesehen haben.
Ja, das hat er, aber das ist nur ein Problem, wenn er erkennt, dass
er jemanden sieht. Da komme ich ins Spiel: Wenn ich mich an jemandem
vorbeistehle, lasse ich ihn glauben, was er sieht, wäre niemand. Also
hat er nur gesehen, dass dort niemand war. Ganz einfach.
Er schüttelt den Kopf. Einfach? Langsam verstehe ich, warum unser
Auftraggeber wollte, dass du dabei bist.
Wir sehen uns um. Hier oben führt ein kurzer Gang zu einem breiten Durchgang.
In den Ausstellungsräumen dahinter sorgt eine Notbeleuchtung für
gerade genug Licht, dass wir uns zurechtfinden können. Mein Begleiter
steuert zielsicher eine bestimmte Vitrine an.
Ich war vorgestern hier, als ganz normaler Besucher, und habe mir alles
angesehen, erklärt er. Ist wirklich ein Schmuckstück,
dieses unbezahlbar kostbare Fabergé-Ei, das wir holen sollen. Was die
Alarmanlage angeht, sollte es keine Probleme geben, aber da ist noch eine
Sicherung, die ich nicht verstehe. Dann bleibt er wie angewurzelt stehen.
Oh verdammt! Es ist nicht hier!
Ich blicke in die anscheinend leere Vitrine und sehe mehr als er. Doch,
es ist hier, es ist nur nicht jetzt, erkläre ich. Das ist
der Grund, warum ich bei dieser Sache dabei bin: Es ist durch eine Zeitschaltuhr
gesichert. Ich zeige auf einen Apparat neben der Vitrine, der konstant
10:00 zeigt. Sobald abends die Ausstellung schließt,
wird sie aktiviert, und dann schaltet sie die Zeit des Objekts um. Es wird
augenblicklich an den nächsten Morgen versetzt.
Oh. Und du kennst dich mit so etwas aus? Was jetzt kannst du
sie abschalten?
Das würde nichts nützen und außerdem ziemlich sicher
den Alarm auslösen. Nein, ich gebe ihr Zeit, und zwar so viel, dass sie
überschnappt. Dann bricht die Sicherung zusammen und gibt das Objekt
frei.
Ich suche die Zuleitung, klinke mich ein und mache mich daran, die Schaltuhr
mit Zeit zu fluten. Mein Begleiter sieht mir dabei zu. Äh, sag
mal, fragte er nach einiger Zeit vorsichtig, wenn du deine Zeit
da reinpumpst bedeutet das nicht, dass sich dein Leben verkürzt?
Das würde es, wenn es meine Eigenzeit wäre, aber du weißt
doch, ich bin ein Dieb. Ich stehle den Leuten die Zeit, wo ich nur kann, und
jetzt nehme ich mir Zeit aus dem Vorrat, den ich angesammelt habe. Ah, sieh
mal, es funktioniert.
Ich deute auf die Anzeige, die zu flackern beginnt. Wilde Zahlen laufen durch,
dann nur noch Bruchstücke, dann bleibt sie stehen und erlischt. Wir sehen
in die Vitrine, und dort liegt das Ei, als wäre es nie wannanders gewesen.
Der Rest ist dein Job, sage ich, und er nickt und bringt aus seiner
Jacke eine Mappe zum Vorschein. Sie enthält feinmechanisches Werkzeug
und winzige elektronische Geräte. Er greift zu einem komplex aussehenden
Messgerät und macht sich ans Werk.
Ich sehe ihm zu, wie er an der Alarmanlage arbeitet. Es dauert. Minutenlang
starrt er auf Anzeigen, dreht dann an einem Rädchen oder drückt
einen Schalter, sieht auf die Anzeige, stellt wieder etwas nach...
Irgendwann sieht er zu mir hoch. Langweilst du dich nicht? Ich
schüttle den Kopf.
Deine Geduld möchte ich haben.
Ich grinse. Ist nicht meine.
Sag nicht, du hast sie auch jemandem gestohlen.
Musste ich gar nicht. Ich stand bei der Post in der Schlange vor dem
Paketschalter, und es dauerte und dauerte. Irgendwann hat der Typ vor mir
die Geduld verloren. Er hat sie einfach fallen lassen und ist rausgestürmt,
und ich habe sie aufgehoben. So eine Gelegenheit lässt man sich nicht
entgehen.
Er grinst, schüttelt den Kopf und macht weiter. Kurz darauf sagt er:
So, das wär's, nimmt einen gewöhnlichen Schraubenzieher,
löst vier Schrauben und öffnet die Vitrine. Das Ei liegt vor uns.
Es gibt keine weiteren Sicherungen, darauf würde ich schwören,
sagt er. Wir sehen uns an, dann holt er tief Luft und greift sich das Ei.
Nichts geschieht.
Und jetzt nichts wie raus hier, meint er und steuert auf den Ausgang
zu. Im Gehen wickelt er seine Beute in ein Taschentuch, und ich denke, das
muss ihn abgelenkt haben: Er macht einen falschen Schritt und kracht gegen
eine Vitrine. Drinnen fällt etwas klirrend um, und der Alarm geht los.
Wir bekommen das volle Programm: Sirenen heulen, die Beleuchtung geht an,
und über dem Durchgang rotiert ein blaues Alarmlicht. Wir stehen im Gang
und versuchen die Lage einzuschätzen.
Notausgang? frage ich.
Er schüttelt den Kopf. Der wird im Alarmfall automatisch verriegelt.
Das ist eine massive Tür, die bekämen wir nur mit schwerem Gerät
auf.
Dann ist der einzige Weg der durch die Halle, sage ich und öffne
die Feuertür vorsichtig einen Spalt. Wir spähen hindurch und sehen
unten in der Halle mindestens ein halbes Dutzend Wachleute, die durcheinander
reden und in Funkgeräte sprechen. Dann entdeckt uns einer und ruft: Da
oben sind sie!
Zwei oder drei setzen sich in Bewegung, aber eine andere Stimme befiehlt:
Nein, bleibt hier. Sie können nicht raus, wir müssen sie nur
hier drinnen festhalten, bis die Polizei kommt.
Wir fahren zurück und knallen die Tür zu. Was jetzt?
fragt mein Begleiter. Siehst du noch irgendeine Möglichkeit, wie
wir hier rauskommen können? Ich nehme an, du kannst uns nicht mit deinem
Trick von vorhin an ihnen vorbeibringen, oder?
Nein. Jetzt, wo sie wissen, dass wir hier sind, wird das nicht funktionieren.
Oh, verdammt. Weißt du einen anderen Ausweg?
Ich weiß, was ich machen würde, wenn ich alleine hier wäre:
Ich würde ein Zeitfenster öffnen und da hindurch verschwinden. Aber
das nützt uns nichts, denn ich könnte dich nicht mitnehmen.
Mach es trotzdem. Ich habe die Sache verbaselt, es hat keinen Sinn,
dass du dich meinetwegen in Schwierigkeiten bringst.
Ich sehe ihn an. Danke. Aber vielleicht haben wir noch eine Möglichkeit.
Ich setze so etwas zwar nur ungern gegen Unbeteiligte ein, aber ich denke,
hier kann ich es verantworten.
Vorsichtig hole ich ein kleines Kästchen aus meiner Jacke, entferne den
Schiebedeckel und lege meinen Daumen auf den Knopf, der darunter sichtbar
wird. Ich ziehe meinen Begleiter näher zu mir heran. Halte dich
an meinem Arm fest. Wenn du den Kontakt zu mir verlierst, kann ich dir nicht
mehr helfen. Und jetzt los.
Was ist das? Was hast du vor?
Ich werfe eine Zeitbombe. Jetzt ist nicht die Zeit für Erklärungen.
Komm.
Ich reiße die Tür auf, drücke den Knopf und werfe die Bombe.
Dann stürmen wir los, und wir sind schon halb die Treppe hinunter, als
sie losgeht. Im nächsten Augenblick... Spl i t te r v on Z e i t . .
. ause in an d erg er is s en . . . d u r ch un d hi n au s . . .
Und noch einen Augenblick später stehen wir beide hinter dem Gebäude,
auf der Straße, ganz alleine, mit wackeligen Knien, aber frei, von Verfolgern
nichts zu sehen und nichts zu hören. Mein Begleiter schüttelt sich
und hält sich den Kopf. Er ist ziemlich blass und stöhnt: Oh,
Himmel! Was um alles in der Welt war das denn?
Eine Zeitbombe. Ich stütze ihn, weil seine Beine ihm offensichtlich
noch nicht wieder völlig gehorchen. Sie hat die Zeit in Sekundenbruchteile
zerlegt, und ich bin von einem zum anderen gesprungen, immer dorthin, wo diese
Typen gerade nicht waren. Das schüttelt einen ganz schön durch,
aber mach dir keine Sorgen, die Wirkung verfliegt in ein paar Minuten. Jetzt
lass uns von hier verschwinden, bevor die Typen sich erholen und anfangen
nach uns zu suchen. Hast du das Ei?
Er hat es, und es ist unversehrt. Also machen wir uns auf den Weg zu unserem
Auftraggeber, um es abzuliefern und die Belohnung zu kassieren.
© P. Warmann