Der Dieb als Detektiv.

Ich bin ein Dieb. Eine besondere Art von Dieb: Gewöhnliche Diebe stehlen Dinge. Ich nicht. Ich stehle das Funkeln der Juwelen und lasse den Schmuck liegen, oder ich nehme von einem Gemälde das Bild mit und lasse die Leinwand mit der Farbe darauf im Rahmen zurück.
Manchmal stehle ich auch Zeit, aber selten. Ich muss das gar nicht. So viele Menschen vergeuden ihre Zeit, nutzen sie nicht und lassen sie unverbraucht fallen, dass ich nur an einer Bushaltestelle oder der Schlange vor einer Supermarktkasse vorbeigehen muss, um genügend Stunden für einen zusätzlichen Tag aufzusammeln.

Weil ich ein besonderer Dieb bin, habe ich natürlich auch das nötige Wissen, um besondere Diebstähle zu erkennen – oder besondere Umstände bei gewöhnliche Diebstählen. Ich arbeite dann und wann als ‘Temporärer Berater für Sicherheitsfragen’ für eine große Versicherung, und deshalb bin ich auch nicht überrascht, als mein Mobiltelefon klingelt und sich am anderen Ende ein Detektiv dieser Gesellschaft meldet. Wir hatten schon einige Male zusammengearbeitet und verstanden uns gut.
„Das ist ein wirklich kniffliger Fall, mit dem ich es hier zu tun habe“, sagt er, „und ich habe das Gefühl, er fällt in dein Spezialgebiet. Ich wünschte, du wärst hier und würdest dir das mal ansehen.“
„Ja“, sage ich, und dann stecke ich das Telefon weg, denn es ist wirklich blödsinnig, in ein Telefon zu sprechen, wenn der, mit dem man redet, direkt vor einem steht.
Er scheint ziemlich überrascht. „Wo kommst du denn her?“ fragt er, und: „Wie hast du das gemacht?“
Ich zucke mit den Achseln. „Nur ein kleiner Schritt seitlich durch die Zeit. Also, wobei brauchst du meine Hilfe?“
„Seitlich durch die Zeit?“ Er wirkt immer noch etwas erschüttert darüber, dass ich ohne Vorwarnung plötzlich vor ihm erschienen bin. Ich versuche ihm die Sache zu erklären.
„Ist eigentlich ganz einfach. Hier ist es jetzt. Überall anders ist es aber auch jetzt – zeitlich gesehen sind also alle Orte identisch. Wenn ich mich seitlich in der Zeit bewege, also nicht vorwärts in die Zukunft, sondern innerhalb der Gegenwart, kann ich so jeden beliebigen Ort erreichen, und es ist immer noch jetzt, wenn ich dort ankomme.“
„Aha“, sagt er und wirkt immer noch etwas verwirrt. „Und wie machst du das? Wieso kannst du das?“
„Das ist sozusagen ein besonderes Talent von mir. Beibringen kann ich es dir also leider nicht. Wo liegt nun das Problem?“
„Wir haben es hier mit einem Diebstahl zu tun“, sagt er sachlich und zeigt auf die Tür, vor der wir stehen.
Ich sehe mich um. Wir befinden uns in einem kurzen Gang, der mit einem teuren Teppich ausgelegt ist. Er endet vor besagter Tür, einer Stahltür mit elektronischem Nummernschloss, die aber einen Spalt offen steht. Das andere Ende des Ganges ist von einer hölzernen Flügeltür abgeschlossen. Ich habe das Gefühl, dass wir uns im Anbau eines größeren Wohnhauses befinden.
„Ein Privatsammler?“ vermute ich.
„Ja.“ Er öffnet die Stahltür, und wir betreten den Raum dahinter. „Wie du siehst, ist es eine sehr unsystematische Sammlung. Einfach eine Menge mehr oder weniger wertvoller Kram, den ein Mensch in seinem Leben zusammengetragen hat.“
Ich sehe mich um und gebe ihm Recht. In zwei Dutzend Vitrinen, die alle noch einmal alarmgesichert sind, stehen die unterschiedlichsten Dinge: hier vier chinesische Vasen aus der Ming-Dynastie, perfekt erhalten und sehr wertvoll, dort eine mittelmäßige Bronzestatuette eines fahnenschwingenden Reiters, einige römische Münzen, eine sehr schöne mittelamerikanische Jadesmaske, dazu außerhalb der Vitrinen eine Biedermeier-Kommode und eine moderne Skulptur, gut zwei Meter hoch, wirr zusammengeschweißt aus Fahrradteilen, Zahnrädern, Kupferrohren, Maschendraht, rostigen Blechen und etwas, das ausieht wie ein Zapfhahn von einer Tanksäule.
In der Mitte des Raumes steht eine kleine Vitrine, offensichtlich leer. Mein Bekannter, der Versicherungsdetektiv, zeigt darauf. „Hier stand das Prunkstück: eine Elfenbeinstatue aus der Renaissance, ‘Der Frühling’, Eine junge Frau, die aus einem Füllhorn Blumen streut. Venedig, 16. Jahrhundert, wunderbar gearbeitet und eindeutig ein Original. Ansonsten fehlt noch eine Geige, angeblich eine Stradivari, was aber ziemlich zweifelhaft ist. Wahrscheinlich stammt sie eher von einem seiner Zeitgenossen aus der zweiten Reihe.
Ich kann verstehen, warum sie die Statue gestohlen haben – sie war mit Abstand das wertvollste Stück hier. Aber warum die Geige? Sie ist sperrig und nicht einmal besonders viel wert. Warum nicht den Jadekopf aus der Maya-Zeit?“
Er geht zu der Biedermeier-Kommode. „Sieh dir bitte mal das hier an“, sagt er und weist auf einen langen Riss in der Deckplatte. Auch die Seitenwand und eine der Schubladen zeigen Risse. „Oder das hier.“ Er weist auf eine Vitrine, in der ein emaillierter Krug aus dem 17. Jahrhundert steht. Der Holzgriff ist in zwei Teile zerbrochen, und das Email zeigt deutliche Sprünge.
„Ich habe vor drei Wochen geholfen, die Stücke dieser Sammlung für die Versicherung zu katalogisieren, und den Einbau der Alarmanlage überwacht. Damals gab es diese Schäden noch nicht. Denkst du, was ich denke?“
„Zeitschäden“, bestätige ich seinen Verdacht. „Ach ja, die gute alte Zeit. Sie sitzt in der Substanz alter Dinge, man kann sie spüren – genau das macht ja den Reiz von Antiquitäten aus –, aber wehe, es gibt zeitliche Turbulenzen in der Nähe. Dann fängt sie an zu arbeiten, und das Ergebnis ist etwas wie das hier.“
„Könnte jemand in diesem Raum ein Zeitfenster geöffnet haben, um hier einzudringen? Könnte das die Schäden verursacht haben?“
Ich überlege. „Möglich.“
„Fällt dir jemand ein, der das gewesen sein könnte?“
„Außer mir? Niemand in diesem Teil des bekannten Universums. Es gibt nicht viele von uns.“
„Jaa-a“, sagt er gedehnt und sieht mich durchdringend an.
„Denkst du, ich könnte es gewesen sein?“
„Der Gedanke ist mir gekommen“, gibt er zu. „Allerdings glaube ich nicht an einen echten Diebstahl. Ich habe so das Gefühl, dass dies ein Versuch ist, die Versicherung zu betrügen: die Versicherungssumme zu kassieren und die Stücke trotzdem zu behalten. Und wenn das so wäre...“
„Würdest du mir die Chance geben, das unter uns zu klären. Nein, ich war es nicht. Du hast mein Wort. Überhaupt würde niemand, der ein Zeitfenster öffnen kann, versuchen, ausgerechnet eine Elfenbeinstatue und eine dreihundert Jahre alte Geige da durchzubringen.“
„Wieso?“
„Weil du hinterher nur noch die Trümmer zusammenfegen könntest. In Holz und ganz besonders in Elfenbein werden während des Wachstums Partikel der Entstehungszeit eingelagert. Metall, Stein und Keramik sind da viel unempfindlicher, aber ein mehrere hundert Jahre alter Gegenstand aus Holz oder Elfenbein würde die Belastungen beim Durchgang durch ein Zeitfenster nie aushalten. Er würde in tausend Splitter zerspringen.“ Ich überlege. „Wie ist der Diebstahl überhaupt entdeckt worden?“
„Gestern Abend hat der Hausherr seine Sammlung einigen Gästen gezeigt, da war noch alles in Ordnung. Heute Morgen hat er einem Angestellten die Tür geöffnet, damit der hier saubermachen konnte. Als der fertig war, hat er sich im Raum umgesehen, und die Statue war weg. Er hat sofort den Hausherrn gerufen, und der hat uns verständigt. Als ich kam, hatte er entdeckt, dass auch die Geige fehlte.
Die Tür ist zwischendurch nicht geöffnet worden, das habe ich überprüft. Die Alarmanlage der Vitrine war die ganze Zeit an, auch als der Angestellte hier im Raum war, und hat nicht angeschlagen. Er war auch nur ein paar Minuten alleine – sie benutzen einen neuen Saugentstauber, der extrem schnell ist...“
„Halt“, unterbreche ich ihn. „Ist das das Gerät, das draußen im Gang steht? Mist. Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen.“ Ich eile nach draußen und untersuche den Saugentstauber. Mein Bekannter ist mir gefolgt.
„Ich habe über dieses Modell gelesen“, sage ich. „Besonders kraftvoll und besonders zeitsparend. Um genau zu sein, es spart seine Zeit beim Saugen, indem es sich bei der Zeit bedient, die im Raum vorhanden ist. Man darf so etwas auf keinen Fall in die Nähe von Antiquitäten lassen – es saugt ihnen die Zeit aus. Das erklärt die Schäden an der Kommode und dem Krug. Die Statue und die Geige waren noch viel empfindlicher...“
Ich gehe zurück in den Raum und blicke in die Vitrine. „Da, siehst du? Da liegen noch Reste von Elfenbeinstaub. Aber die Geige dürfte eigentlich nicht vollkommen zu Staub zerfallen sein.“
Ich sehe mich um. „Nein, ist sie auch nicht. Sieh mal hier.“ Ich zeige auf die seltsame Schrottskulptur. Zwischen Maschendraht und einer Fahrradkette hängen die traurigen Überreste: die Saiten und ein Teil der Spannmechanik.
„Du hattest Recht, es ist ein Versuch, die Versicherung zu betrügen. Dein Sammler hat mit seiner modernen, Zeit einsparenden Technik den Untergang seiner eigenen Stücke herbeigeführt, dann hat er die Trümmer verschwinden lassen und es als einen Diebstahl hingestellt.“
Mein Bekannter bedankt sich für meine Hilfe, und ich verlasse das Haus, diesmal in der Zeit und durch die Tür.

© P. Warmann