Tote Zeit.

Der Wind ist kalt. Und es ist nicht nur der Wind.
Ich sehe dem Taxi nach, das mich hergebracht hat und jetzt zurückfährt durch diese Ödnis einer halb abgerissenen Fabrik. Um mich herum sind weite Flächen voller Schutt und andere, die blankliegen, abgeräumt, Beton und nackter Boden. Dazwischen einige leerstehende Gebäude, einzeln auf der freien Fläche, herausgelöst aus ihrer gewohnten Umgebung, unter einem wolkenlosen blauen Himmel im hellen Mittagslicht. Aber der Wind ist kalt.
Er bewegt den Staub in Wirbeln, die über die öden Flächen wandern und wieder zusammenbrechen, aber er trägt mehr mit sich als nur Staub. Ich schaudere. Oh ja, es gibt einen Grund, warum ich hier bin, warum man mich gerufen hat an diesen leeren stillen Ort, an dem sich nichts bewegt außer dem Wind und es keine Geräusche gibt außer seinem Flüstern und dem Knirschen des Schutts unter meinen Stiefeln. Die Abrissmaschinerie ruht, denn es ist Sonntag.
Aber ich bin hier nicht allein. Ich wende mich der Gruppe von fünf Männern zu, die auf mich gewartet haben. Vier von ihnen kenne ich nicht, den fünften dafür recht gut. Wir haben schon einige Male zusammen gearbeitet, und er war es auch, der mich hierher gerufen hat.
Wir begrüßen uns nach den Ritualen, die an diesem Ort und für diese Zeit gelten: Hände schütteln, Namen sagen, lächeln, nicken. Mein Bekannter stellt mir die anderen vor. Einer von ihnen ist ein Vertreter der Firma, die für den Abriss zuständig ist, der Mann neben ihm ist sein Bauleiter. Von dem dritten der Männer erfahre ich nur den Namen; er ist noch sehr jung, und ich kann ihn nicht recht einordnen. Und schließlich ist da noch ein Mann mittleren Alters aus dem oberen Management jenes Unternehmens, das hier sein alter Fabrikgelände neu gestalten lässt.
Er erklärt ausführlich, nach Verlagerung der Produktion habe die Firma sich entschlossen, die alten Fertigungsanlagen abreißen zu lassen, um eine neue Vertriebs- und Verwaltungszentrale zu errichten, während auf einem großen Teil des jetzt ungenutzten Geländes ein moderner Industriepark entstehen würde ... und so weiter. Nun aber wäre man auf ein Problem gestoßen.
„Das kann man wohl sagen“, wirft der Mann von der Abrissfirma ein. „Und weil wir nicht wussten, wie wir damit umgehen sollten und ob es möglicherweise gefährlich werden könnte, haben wir uns an einen Experten für Zeitschäden und andere temporal bedingte Schwierigkeiten gewandt.“ Er nickt in Richtung meines Bekannten. „Er hat uns Sie als einen Spezialisten für solche Dinge empfohlen.“
„Wobei ich mich frage, ob wir einen solchen Spezialisten überhaupt brauchen“, wendet der Mann aus dem Management ein. „Ich sehe nicht, dass ein derartiger Aufwand überhaupt gerechtfertigt ist.“
„Sie waren ja auch nicht dort unten und haben die ganze Sache hautnah mitbekommen“, meint der Bauleiter. „Ansonsten würden Sie anders darüber denken.“
„Jemand sagte etwas von einem zeitdicht abgeschlossenen Raum“, werfe ich ein.
„Stimmt“, sagt der Bauleiter, „damit fing es an. Als nächstes auf der Liste der abzureißenden Gebäude stand dieses hier“ – er zeigt auf die ziemlich große Fabrikhalle, vor der wir stehen. „Meine Leute waren dabei alles zu demontieren, was nicht im Bauschutt landen darf, und in einem Seitentrakt mit den ehemaligen Labors für die Materialanalyse fanden sie dann eine verschlossene Tür. Sie haben versucht sie aufzubrechen, und damit ging der Ärger los. Es sind verdammt merkwürdige Dinge passiert...“ Er bricht ab, unsicher, ob wir ihm glauben werden.
„Es ist eine zeitdicht verschlossene Tür“, sage ich, „und Ihre Leute haben die Versiegelung beschädigt.“
„Wie wollen Sie das von hier aus erkennen können?“ fragt der Mann aus dem Management scharf.
„Etwas sickert heraus“, sage ich ruhig. „Ich kann es spüren, es ist hier überall, im Wind und in den Strömungen der Zeit an diesem Ort.“
Skeptische Blicke von allen Seiten, nur mein Bekannter nickt – er kennt sich mit Temporalanomalien gut genug aus, und er kennt mich und weiß um meine Fähigkeiten. Der Bauleiter scheint mir zwar auch nicht unbedingt zu glauben, aber er wirkt doch erleichtert. „Da unten ist die Wirkung noch viel stärker“, sagt er. „Mumifizierte Frühstücksbrote, eine Bohrmaschine ... ich weiß nicht, sie war wie Schaum und ist einfach in den Händen zerbröselt ... und alle Glasscheiben wurden milchig und flossen unten aus den Rahmen ... und es wirkt auch auf Menschen. Es ist da unten kaum auszuhalten – man ist wie gelähmt im Kopf. Man sitzt da und starrt gegen die Wand, die Zeit vergeht und man merkt es gar nicht. Man kann sich nicht einmal dazu aufraffen, aufzustehen und rauszugehen. Und es wird immer schlimmer.“
„Ich sehe ja ein, dass da unten etwas vor sich geht“, sagt der Mann aus dem Management gereizt. „Es ist auch klar, dass dagegen etwas unternommen werden muss. Aber wieso müssen wir deswegen irgendwelche sündteuren Spezialisten einfliegen lassen? Ich schlage vor, wir schicken Leute runter, die die Tür aufbrechen, sperren das Gebäude für ein paar Tage, bis sich dieser Einfluss verflüchtigt hat, und reißen es dann ab.“
„Nein!“ sage ich scharf.
„Wieso denn nicht? Ich glaube Ihnen ja die Geschichte mit dem zeitdicht verschlossenen Raum, aber wieso sollte das ein besonderes Problem sein? Solche zeitgekapselten Dinger werden heutzutage doch in praktisch jedes Gebäudefundament gelegt, und wenn mal eines davon ausgegraben und geöffnet wird, passiert auch nichts.“
„Das ist nicht dasselbe“, erkläre ich. „Zeitkapseln entkoppeln die darin eingeschlossenen Dinge nicht vom allgemeinen Zeitstrom. Sie schirmen sie nur – bedingt – von den Wirkungen der Zeit ab, das heißt, die Dinge altern praktisch nicht. Das ist eine Technik, die die Menschen schon seit der Zeit des alten Ägypten beherrschen, und sie ist wirklich harmlos. Das einzige, was geschieht, wenn man eine Zeitkapsel öffnet, ist, dass die Dinge darin wieder anfangen normal zu altern.
Aber dieser Raum hier war absolut zeitdicht abgeschlossen. Das heißt, die Dinge darin hatten keine Berührung mehr mit der Zeit außerhalb des Raumes, und daher konnten sie ihre Eigenzeit nicht mehr erneuern. Sie haben sie wieder und wieder und wieder recycelt, und die tote Zeit hat sich im Raum angesammelt, Minuten, Stunden, Tage, Jahre und Jahrzehnte – in diesem Raum lagern etwa fünfzig Jahre tote Zeit, so wie es sich anfühlt. Wenn ein Mensch damit in Berührung kommt, wird das seinen Geist zerstören, unaufhaltsam und unwiederbringlich.“
Die fünf starren mich an, als hätte ich ihnen erklärt, dass sie mitten in einer radioaktiven Wolke stünden. Ich schüttle den Kopf. „Nein, die Mengen, die im Moment aus dem Raum heraussickern, sind ungefährlich. Körperlich werden Lebewesen von toter Zeit sowieso nicht beeinflusst. Und gegen den Einfluss auf ihren Geist sind Menschen bis zu einem gewissen Grade immun.
Tote Zeit entsteht auch auf natürliche Weise, überall da, wo Leben stockt und in der Zeit festgehalten wird – in verlassenen Häusern und in Kellern voller vergessener Gegenstände, und alte Gefängnisse sind voll davon. Aber das sind immer nur kleinere Mengen, und nie unverdünnt. Menschen werden damit fertig, es gibt ihnen nur das Gefühl, dass dies ein absolut öder und trostloser Ort ist. Selbst wenn sie von einer größeren Dosis getroffen werden, wie offenbar Ihre Männer, schütteln sie die Wirkung wieder ab. Aber fünfzig Jahre toter Zeit, die einen Menschen direkt treffen, sind etwas ganz anderes. Sie wirken wie fünfzig Jahre Isolierhaft: Sie löschen den Geist aus und hinterlassen eine leere Hülle.“
„Und man kann die Männer, die die Tür öffnen, nicht davor schützen?“ fragt der Mann von der Abrissfirma bedrückt.
„Nein. Und es wird nicht nur sie treffen. Sobald der zeitdichte Raum geöffnet ist, wird die tote Zeit in Bewegung geraten. Sie wird von den Zeitströmungen getragen über die Stadt ziehen, und in den Tagen, bis sie sich aufgelöst hat, werden noch Hunderte, vielleicht Tausende Menschen von ihr berührt werden.“
Sie sehen mich erschrocken an, alle fünf. Dann ist es ausgerechnet der junge Mann, von dem ich immer noch nicht weiß, wie er in diese Runde passt, der als erster etwas sagt.
„Das klingt ausgesprochen ausweglos ... und den Raum einfach wieder zeitdicht zu versiegeln würde das Problem auch nur verschieben. Aber irgend etwas gibt mir das Gefühl, Sie hätten da noch eine Alternative anzubieten.“ Er sieht mich direkt an.
Respekt, denke ich. „Das stimmt. Ich kann die Versiegelung kontrolliert öffnen und die tote Zeit dann so in den Zeitstrom lenken, dass sich ein großer Teil davon auflöst. Der Rest wird so verdünnt, dass er keinen Schaden mehr anrichten kann.“
„Ach, das können Sie? Einfach so aus dem Handgelenk?“ unterbricht mich der Mann aus dem Management sarkastisch. „Natürlich gegen ein entsprechendes Honorar – wir kennen ja die Summe, die Sie fordern. Wissen Sie, was ich glaube? Sie erzählen uns hier Schreckensgeschichten, bis uns die Knie schlottern und wir Sie anflehen, uns zu retten, dann nehmen Sie das Geld, gehen in den Keller, machen die Tür auf, es passiert überhaupt nichts, und sie lachen noch den ganzen Tag über uns Idioten, während Sie Ihr Geld zählen. Ich halte dies hier für einen großen Bluff von Ihnen, um an das Geld zu kommen.“
„Ach ja? Dann möchte ich, dass Sie neben mir vor der Tür dort unten stehen, wenn sie geöffnet wird“, sage ich und lächle ihm ins Gesicht.
Er wird unsicher. Ja, denke ich, es ist wirklich ein Bluff, um an das Geld zu kommen, nur liegt der Bluff nicht da, wo er ihn vermutet. Was ich über die tote Zeit gesagt habe, über ihre Wirkung und die Gefahr für jeden, den sie berührt, ist die Wahrheit, jedes Wort davon. Der Bluff ist, dass ich ihn glauben lasse, ich würde mit den Schultern zucken und gehen, wenn er mich nicht bezahlt. Denn das werde ich natürlich nicht tun: Es sind Menschen in Gefahr, und ich werde diese Gefahr aus der Welt schaffen und die tote Zeit auflösen, egal ob mir jemand dafür auch nur einen Cent zahlt. Aber das sage ich ihm natürlich nicht.
„Das ist kein Bluff“, erklärt mein Bekannter ruhig. „Ich verstehe genug von Zeitproblemen, um zu erkennen, wie ernst die Lage hier ist. Und ich kenne niemanden außer ihm, der mit dieser Geschichte fertig werden könnte.“
„Ich sehe das auch so“, sagt der junge Mann entschieden. „Also gut, Sie sind engagiert. Wie wollen Sie vorgehen?“
Sieh mal einer an, denke ich, du entscheidest hier also. Ich möchte doch wirklich wissen, wer du bist. Dann beantworte ich seine Frage: „Wie ich vorgehen werde? Ich gehe in den Keller und erledige die Sache.“
„Jetzt gleich?“ fragt der junge Mann verblüfft.
„Ja, natürlich. Wir sollten das wirklich nicht länger aufschieben. Hat jemand einen Gebäudeplan oder etwas ähnliches, damit ich mich da drinnen zurechtfinde?“
Der Mann von der Abrissfirma hat einen zur Hand.

Mit meinem Bekannten mache ich mich daran, das weitere Vorgehen zu planen. Die anderen bitte ich, aus Sicherheitsgründen das Gelände zu verlassen, worüber keiner von ihnen wirklich unglücklich zu sein scheint.
Als wir allein sind, frage ich meinen Bekannten: „Du bist also Experte für Temporalprobleme aller Art?“
„Ja“, sagt er mit einem Lächeln, „ich jage nicht nur Zeitdiebe.“
Ich muss auch lächeln, den so haben wir uns kennen gelernt: Ich war durch ein Zeitfenster in einen streng gesicherten Tresorraum eingedrungen und hatte das Funkeln der dort aufbewahrten unschätzbar wertvollen Juwelen gestohlen (nein, nicht die Juwelen selbst; ich stehle keine Dinge, das wäre keine echte Herausforderung). Er schaffte es tatsächlich mich aufzuspüren, und am Ende schlossen wir einen Handel: Die Versicherung zahlte mir eine ‘Wiederbeschaffungsprämie’, und ich gab das Gestohlene zurück. Seitdem hatten wir einige Male zusammengearbeitet, und wir waren ganz gute Freunde geworden.
Jetzt sieht er mich nachdenklich an. „Ich gehe davon aus, dass du weißt, was du tust“, sagt er. „Wie riskant ist die Sache für dich?“
„Nichts ist ohne Risiko“, sage ich. „Körperlich kann die tote Zeit mir so wenig anhaben wie jedem anderen Lebewesen. Mein Geist ist gegen sie verschlossen, aber du weißt um meine besonderen Fähigkeiten: Ich kann Zeit stehlen und in gewissem Sinne in mich aufnehmen, und deswegen muss ich vorsichtig sein. Ich darf mit der toten Zeit nicht direkt in Berührung kommen, das würde mich vergiften und könnte mich umbringen. Außerdem wissen wir immer noch nicht, was in dem Raum sein könnte.“
„Auf den ältesten Gebäudeplänen ist er einfach als ein weiteres Labor der Abteilung für Materialanalyse ausgewiesen“, sagt mein Bekannter nachdenklich. „In den späteren wurde er weggelassen. Aber du hast natürlich Recht: Irgend etwas muss dort drinnen zeitdicht eingeschlossen worden sein.“
Dann gibt er mir ein Headset aus seiner Ausrüstung, damit wir während der Aktion miteinander in Verbindung bleiben können.

Als auch er das Gelände verlassen hat, meldet er sich bei mir, und ich betrete das Gebäude. Den Weg zu dem seltsamen Raum zu finden ist einfach genug – ich muss nur die Treppe bis ins erste Untergeschoss hinuntersteigen und lande im Labortrakt. Nackter Beton, leere, saubere Räume, Türöffnungen ohne Türen. Das Licht funktioniert noch. Zu sehen gibt es hier nichts, nichts für die Augen eines Menschen jedenfalls, aber die tote Zeit ist überall. Wie Staub hat sie sich auf alles gelegt und wird über den Boden getrieben wie feiner Schnee, von den Strömungen der Zeit, der echten, lebendigen Zeit. Und ich wirble die Zeit auf – Zeit bleibt nicht ruhig in meiner Gegenwart –, und meine Wirbel machen mir den Weg frei. Dann stehe ich vor der Tür.
Es ist eine gewöhnliche Stahltür, und so, wie es aussieht, war sie hinter einer Wandverkleidung verborgen, bis diese für den Abriss entfernt wurde. Jetzt liegt sie frei, und ich kann auch die frischen Spuren sehen, die die Werkzeuge der Männer hinterlassen haben. Ich kann die Zeitversiegelung erkennen und die Stellen, wo sie beschädigt ist und die tote Zeit heraussickert, in feinen Fäden wie Rauch.
„Ich stehe jetzt vor der Tür“, melde ich über das Headset. „Ich kann nicht erkennen, was dahinter ist, aber vielleicht finde ich ein paar Hinweise.“
Ich halte meine Hand in den Strom der toten Zeit, vorsichtig, um nicht versehentlich etwas davon aufzunehmen. Ich kann sie spüren wie feinste Körnchen, die über meine Haut gleiten, rauh wie Schleifpulver, und eisig, kälter als kalt. Dahinter spüre ich die fünfzig Jahre toter Zeit, die jenseits der Tür warten, eine brutale Masse, die sich auftürmt, bereit durchzubrechen, wenn ihr jemand den Weg öffnet. Und da ist noch etwas. In dem Strom, der aus dem Raum dringt, treiben zarte Schlieren wie feinste Gaze: Erinnerungen. Ich versuche die Fäden aufzunehmen: ein junger Mann, dann der gleiche Mann, nicht mehr ganz so jung, Untersuchungen, ein neues Verfahren, das funktioniert, Begeisterung ... und ein Name. „Kannst du mit dem Namen Werner Schubert etwas anfangen?“ frage ich über das Headset.
„Nein, aber warte kurz“, sagt mein Bekannter. Dann höre ich leise Stimmen im Hintergrund, und dann ein Kratzen, das mir sagt, dass das Headset an eine andere Person übergeben wird. „Hallo?“ sagt die Stimme des jungen Mannes. „Sagten Sie Werner Schubert?“ Ich bestätige das. „Ja... Hermann Schubert war der Gründer dieser Firma; Werner Schubert war sein einziger Sohn. Er ist 1962 bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Hermann Schubert hat der Tod seines Sohnes sehr hart getroffen, und er ist wenige Jahre danach gestorben. Geerbt haben das Unternehmen seine beiden Töchter, und die ältere davon ist meine Großmutter. Ähm ... meine Eltern führen jetzt die Firma.
Ja, und Werner Schubert hat die Abteilung für Materialforschung geleitet. Er hat eine Reihe von neuen Verfahren für die Analyse entwickelt... Ich nehme an, der Raum war damals sein persönliches Labor.“
„Und sein Vater hat ihn dann zeitdicht versiegeln lassen, um die Erinnerungen an seinen Sohn zu erhalten... Hören Sie, die Erinnerungen sind noch immer hier, vollständig und frisch. Ich könnte versuchen, sie zu konservieren ... denken Sie, jemand in Ihrer Familie legt Wert darauf? Ich müsste versuchen, sie aus der toten Zeit herauszufiltern, aber das wäre mit einem ziemlich großen persönlichen Risiko für mich verbunden. Soll ich es versuchen?“
„Vielleicht würde meine Großmutter sie behalten wollen, immerhin war er ihr Bruder ... aber nach fünfzig Jahren? Nein, gehen Sie deswegen kein Risiko ein: Wenn Sie sie löschen müssen, dann machen Sie es.“
„In Ordnung“, sage ich, und er übergibt das Headset wieder an meinen Bekannten.

Ich erkläre ihm, dass ich jetzt anfangen werde, und dass ich das Headset solange ablege, damit ich nicht gestört werde. Ich brauche meine ganze Konzentration.
Dann mache ich mich ans Werk: Ich löse die Versiegelung, und als die tote Zeit sich in Bewegung setzt und auf mich zugleitet wie ein kalbender Eisberg, leite ich einen Zeitstrom in die Kammer, der sie aufnimmt. Und während der Zeitstrom die tote Zeit abträgt wie ein Sandstrahlgebläse, Schicht für Schicht, sie zu einem großen Teil auflöst und vernichtet und den Rest mitnimmt, verdünnt und harmlos, spüre ich, wie sich auch die Erinnerungen auflösen, Freude und Sorgen und Ziele und die Begeisterung für die Arbeit, ein ganzes Leben, das im Nichts hinter der Zeit verschwindet.
Irgendwann bin ich fertig. Ich lasse den Zeitstrom versiegen und sehe mich um. Nur noch leere Räume, sauberer Beton und ein Labor voller Geräte aus einer Zeit vor einem halben Jahrhundert, perfekt erhalten. Vielleicht gibt es irgendwo ein Museum, das sich dafür interessiert, denke ich.
Ich steige die Treppe wieder nach oben und halte Ausschau nach neuen Zeitschäden, aber ich finde keine. Offensichtlich habe ich so gut wie keine Turbulenzen erzeugt – das war saubere Arbeit, die ich hier geleistet habe.

Als ich nach draußen trete, spüre ich den Wind. Er ist kalt, aber diesmal ist es nur der Wind, und die Kälte des Abends. Ich habe Stunden dort unten verbracht, die Sonne steht tief und wird bald hinter den Gebäuden versinken. Ich rufe über das Headset meinen Bekannten und lasse mich abholen.
Wieder unter Menschen nehme ich die Glückwünsche entgegen und, ja, auch das Geld. Als ich in das Taxi steige, denke ich, dass ich heute Abend das Geld zählen werde, aber dabei lachen werde ich nicht.

© P. Warmann