In der Zwischenzeit.

Ich stehe in der Vorhalle zum Sonderausstellungsraum des Museums für bildende Kunst und warte auf meinen Begleiter. Er heißt Martin (oder nennt sich zumindest so – inzwischen glaube ich aber, dass dies sein wirklicher Vorname ist), und er ist ein Spezialist für Alarmanlagen. Ja, ich bin hier, um etwas zu stehlen – ich bin ein Dieb, aber kein gewöhnlicher Dieb. Doch auch ungewöhnliche Diebe müssen sich manchmal mit gewöhnlichen Alarmanlagen herumschlagen, und dafür brauche ich Martin.
Um mich herum stehen Menschen in kleinen Gruppen, unterhalten sich und warten darauf, dass sich die Türen öffnen, denn heute ist der große Tag der Ausstellungseröffnung, mit geladenen Gästen, Festrednern und allem, was sonst noch so dazugehört. Ich bin gewohnt, mich unter Menschen zu bewegen, und ich kann ihre gesellschaftlichen Rituale perfekt imitieren, wenn ich das möchte, aber ich mag es nicht. Es engt mich ein, genau wie die Krawatte, die zu tragen hier heute Pflicht ist, aber andererseits trage jetzt schon seit mehr als dreißig Jahren diese menschliche Gestalt, da macht eine Krawatte mehr oder weniger keinen großen Unterschied.

Mein Begleiter erscheint, sieht mich und kommt zu mir herüber. Er trägt die Haare jetzt lang, fällt mir auf. Es steht ihm. Und Sakko und Hemd sind dem Anlass zwar angemessen, aber die Krawatte sieht aus, als hätte er sie sich von seinem Vater geliehen.
„Hallo”, sagt er und klingt etwas abgehetzt. „Ich dachte schon, ich komme zu spät. Ich hatte nicht viel Zeit mich vorzubereiten – wohinter genau sind wir eigentlich her?”
„Unser Auftraggeber wünscht, dass wir ihm eine Madonna von Rigani bringen – dem Maler, dem diese Ausstellung gewidmet ist”, sage ich leise.
„Und das heute, mitten zwischen all den Leuten? Na gut, ich gehe davon aus, dass du einen Plan hast. Übrigens, wie willst du uns da reinbringen?”
„Ja, ich habe einen Plan”, bestätige ich. „Und rein kommen wir ganz einfach: Ich habe eine Einladung. Ich bin hier als ein sehr vermögender Kunstfreund ungewisser Nationalität, und du bist mein Assistent.”
So funktioniert es dann auch: Als sich die Türen öffnen, zeige ich die Einladung vor, und wir werden ohne ein Zeichen von Misstrauen durchgewunken.

Während wir hineingehen, meint mein Begleiter: „Um ein Madonnen-Gemälde geht es also? Dann lass uns mal rausfinden, wo es... Ach du Schreck!”
„Tja, wenn du dich im Vorfeld informiert hättest, wüsstest du, dass diese Ausstellung ganz den Madonnen von Rigani gewidmet ist. Antonio Rigani lebte vom Ende des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Von ihm sind zwar auch noch etwa sechzig andere Bilder mit den verschiedensten Motiven bekannt, aber berühmt wurde er für seine Madonnen. Er hat davon genau 45 gemalt, und jede einzelne davon hängt in diesem Raum – alles Leihgaben der verschiedensten Museen und Privatsammler.”
„Ich fasse es nicht!” Martin dreht sich langsam um sich selbst. „45 Stück? Und alle sehen genau gleich aus!”
„Nein, das stimmt nicht, sie unterscheiden sich jeweils in Details – allerdings muss man dazu schon genauer hinsehen.“
Wir schreiten die Reihen der Gemälde ab, und er bemerkt: „Du hast Recht, sie unterscheiden sich. Sieh mal, bei der hier ist zur Abwechslung mal das Kleid rot und der Mantel blau. Oh, und die hier ist spiegelverkehrt. Aber trotzdem, mir kommt das vor wie so ein Suchbild der Art ‘Finde die zehn Unterschiede’.” Er sieht mich an. „Und wie geht es weiter? Schnappen wir uns irgendeine und verschwinden? Oder was hast du vor?”
„Wie du dir sicher vorstellen kannst, bin ich nicht hier, um die Holzplatte mit der Farbe darauf mitgehen zu lassen, sondern ich werde das Bild selbst stehlen – die immaterielle Essenz dessen, was das Bild zum Bild macht. Dazu muss ich aber das Bild berühren, und das kann ich nicht, weil die Bilder von einer Alarmanlage geschützt sind, wie du siehst.” Ich zeige auf die unauffälligen Sensoren an den Rahmen und die Schaltstation der Anlage in einer Ecke des Raumes. „Die musst du nachher knacken”, fahre ich fort. „Das geht aber nicht, solange all die Menschen hier herumstehen. Gleich wird aber ein Kunstwissenschaftler einen längeren Vortrag halten, und in der Zwischenzeit schlagen wir zu.
Übrigens sollen wir nicht irgendeine Madonna besorgen, sondern eine ganz bestimmte. Der Auftraggeber wünscht die Madonna im Fliederbusch, nicht zu verwechseln mit der Madonna mit dem Federbusch – oder der mit der Fledermaus.” Ich zeige auf letztgenannte.
Martin sieht genauer hin und schaudert. „Wer gibt denn so etwas in Auftrag?”
„Das ist eine Leihgabe aus einem rumänischen Museum. Ursprünglich gehörte sie einem Grafen aus einem eher abgelegenen Teil des Landes.”
„Lass mich raten: Transsylvanien?” sagt Martin und schüttelt den Kopf.
„Oh, das ist noch gar nichts”, meine ich, „verglichen mit den Geschichten um die Madonna mit dem Schwertfisch...”
„Erzähle sie mir nicht”, sagt Martin, und ich komme auch nicht mehr dazu, denn man fordert uns auf Platz zu nehmen für die Eröffnungsansprachen.

Es sprechen der Museumsdirektor und der Kurator der Ausstellung, und sie fassen sich erfreulich kurz. Dann allerdings erhält ein Professor für Kunstgeschichte das Wort und macht sich daran, ausführlichst die Entstehungsgeschichte der Bilder zu erklären.
„Oh nein, er wird doch nicht minutenlang über jedes einzelne Bild reden?” jammert Martin.
„Doch, wird er”, antworte ich und muss lächeln, als Martin sich krümmt.
„Vertraue mir: Genau das ist der Kern meines Planes”, flüstere ich ihm ins Ohr. „Andererseits hätte ich ja vielleicht vorhin etwas versuchen können, aber die Wachmänner behielten uns zu scharf im Auge. Ich vermute, das lag an deiner verdächtigen Krawatte.”
„Das ist eine gute!” protestiert er. „Ich habe sie mir extra von meinem Vater geliehen.”
„Das meine ich ja”, sage ich trocken.
Als er zu einer Erwiderung ansetzen will, tippt ihm die junge Frau, die hinter ihm sitzt, auf die Schulter und sagt leise: „Etwas mehr Ruhe bitte! Wenn Sie der Vortrag nicht interessiert, warum sind Sie dann überhaupt hier?”
„Er hat mich mitgeschleppt”, behauptet Martin und zeigt auf mich. „Ich brauche den Job, ich stecke jeden Cent in meine Experimente zur Tröpfchenbewässerung. Wenn es klappt, wird es den Gemüseanbau in Trockengebieten revolutionieren...”
„Tröpfchenbewässerung?” fragt die junge Frau interessiert, aber eine ältere Dame beugt sich zu ihr hinüber und sagt vorwurfsvoll „Pscht!”

Daraufhin sind wir alle wieder still, der Professor langweilt uns weiter, und die Minuten kriechen dahin. Martin rutscht ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her und flüstert: „Oh Mann, ich habe das Gefühl, der Typ sagt immer wieder denselben Satz...”
„Ja”, sage ich, „gleich ist es soweit. Nimm meine Hand.”
Er nimmt sie, ich konzentriere mich, und dann ... geschieht eigentlich nicht wirklich viel. Nur ist es plötzlich still, und niemand bewegt sich mehr. Alles um uns herum ist wie erstarrt.
„Hast du die Zeit angehalten?” fragt Martin.
„Das ist unmöglich, selbst für mich. Nein, ich hatte dir doch gesagt, wir erledigen die Sache in der Zwischenzeit. Da sind wir jetzt.” Ich bewege mich langsam durch die Stuhlreihen und winke ihm mir zu folgen. „Sei vorsichtig. Wir können reden und uns bewegen, aber du darfst niemanden berühren.”
Martin folgt mir. „Zwischenzeit?” fragt er. „Zeit wozwischen?”
„Zwischen einem Zeitpunkt und dem nächsten. Ich erkläre es dir, aber kümmerst du dich inzwischen bitte um die Alarmanlage?”
Martin nickt und macht sich ans Werk, wobei er dann und wann einen misstrauischen Blick auf den Wachmann wirft, der wie eine Statue direkt neben dem Schaltkasten steht.
„Wie viel Zeit haben wir?” fragt er, will auf die Uhr sehen, schüttelt dann den Kopf und meint: „Vergiss die Frage. Aber wie war das mit der Zwischenzeit?”
„Zeit besteht aus Zeitpunkten”, erkläre ich bereitwillig. „Und zwischen einem Zeitpunkt und dem nächsten befindet sich die Zwischenzeit. Das ist normalerweise ein fast unendlich kurzer Augenblick, aber Langeweile dehnt die Zeit.”
„Langeweile dehnt die Zeit?” fragt Martin verblüfft.
„Ja, das ist dir doch bestimmt schon aufgefallen. In einem bestimmten Zeitraum gibt es immer dieselbe Menge Zeitpunkte, aber Langeweile dehnt die Zeit dazwischen so sehr, dass selbst Menschen das spüren können. Und ein ganzer Saal voller extrem gelangweilter Leute hat die Zwischenzeiträume hier heute so breit gemacht, dass ich dich mitnehmen konnte.”
„Oh”, sagt er, und dann: „Die Alarmanlage ist stillgelegt.”
Wir gehen hinüber zum Gemälde der Madonna im Fliederbusch.

Ich berühre vorsichtig den Rahmen. Nichts geschieht – die Alarmanlage ist wirklich aus. Martin ist ein Profi, daher hatte ich auch nichts anderes erwartet. Ich schließe die Augen und konzentriere mich, dann greife ich nach dem Bild, dem wahren Bild, umfasse es und – oh verflucht.
„Oh, verdammt”, sage ich, „Rigani war ein Wiederholungstäter!”
„Das ist ja wohl offensichtlich”, sagt Martin sarkastisch und zeigt auf die Madonnen ringsum.
„Nein, du verstehst das nicht ganz: Rigani hat nicht lauter sehr ähnliche Bilder gemalt, es ist immer dasselbe Bild. Er hat dieses Bild einmal geschaffen und dann immer wieder neu in Farben auf Holzplatten gebracht. Unter Menschen gibt es das manchmal. Wiederholungstäter begehen zum Beispiel immer wieder denselben Einbruch an verschiedenen Orten, oder sie heiraten sogar zweimal dieselbe Frau in verschiedenen Personen.”
„Und was bedeutet das jetzt?”
„Ich kann das Bild nicht stehlen. Alle Bilder hier sind ein Bild, und ich kann nicht eines herauslösen und mitnehmen. Und das ganze Bild kann ich nicht stehlen, das ist viel zu groß, ich kann es mit meinen Kräften nicht bewegen. Also gut, wir brechen ab. Stelle die Alarmanlage wieder an.”
Martin geht zum Schaltschrank, und ich betrachte immer noch das Bild. Irgend etwas stimmt hier nicht. Ja, alle Bilder sind Teil eines Bildes ... und etwas ist dabei, sich zu verändern.
„Stopp!” sage ich. „Warte. Hier bereitet sich eine Fusion vor.”
„Was? Fusion, Kernschmelze und dann ein großer Knall? Meinst du das?”
„Nein, natürlich nicht. Die Bilder fusionieren. Es war nie vorgesehen, dass sie sich einmal in ein und demselben Raum befinden sollten. Jetzt wirken sie aufeinander ein, und bald ist die kritische Masse erreicht. Dann werden sie fusionieren, und jedes wird zum eigentlichen Bild werden und seine Besonderheiten abstoßen.”
„Heißt das, dann hängen hier 45 identische Kopien? Das wäre wirklich schade um die ganzen Fledermäuse und Schwertfische und ... ist das eine Brechstange?”
„Nein, tatsächlich soll es eine Bratengabel sein”, sage ich abwesend. „Und du hast Recht. Aber ich glaube, dagegen kann ich etwas tun. Ja ... das müsste gehen.” Ich greife noch einmal nach dem Bild – nach dem Gesamtbild – und drehe etwas daran ... hier und dort ... und dann habe ich es. Etwas wie ein Flimmern geht durch den Raum, und ein Klang wie das Knistern von Funken. Ich lächle.
„Gut, stell die Alarmanlage wieder an”, sage ich. „Dann setzen wir uns wieder auf unsere Plätze, und ich bringe uns zu einem Zeitpunkt – zu einem, der ganz am Ende des Vortrags liegt.”

Und so tauchen wir aus der Zwischenzeit genau zu dem Zeitpunkt wieder auf, als der Vortragende „Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit” sagt. Alle erheben sich, und es wird Sekt gereicht.
Ich nippe an meinem Glas, höre Martin zu, wie er sich mit seiner neuen Bekannten angeregt über Tröpfchenbewässerung unterhält und überlege gerade, dass es an der Zeit wäre, zu gehen und meinem Auftraggeber zu erklären, warum ich seinen Auftrag nicht ausführen konnte. Dann bemerke ich, wie der Kurator aufgeregt auf den Museumsdirektor einredet.
„...hing dort vorher definitiv noch nicht”, höre ich ihn sagen. „Wenn Sie mir nicht glauben wollen, dann zählen Sie die Bilder doch selber durch: Es sind jetzt 46!”
Martin hat das Gespräch offensichtlich auch mitgehört, denn er zieht mich unauffällig zur Seite und fragt: „Warst du das? Hast du ein Bild erschaffen, das Rigani nie gemalt hat?”
„Doch, er hat es gemalt – 45 Mal”, sage ich leise. „Es ist das eigentliche Bild, das alle Bilder in sich gespürt haben. Sie haben es gemeinsam freigesetzt, ich habe nur ein wenig nachgeholfen. Jetzt verspüren sie keinen Drang mehr, das eigentliche Bild zu werden. Ich halte das für die bessere Lösung.”
„Ja, unbedingt”, sagt Martin ironisch. „Ich wüsste nur gerne, wie der Kunstgeschichtstyp das erklären wird. Oder besser nicht, dann muss ich mir noch einen Vortrag von ihm anhören. Übrigens, ich habe vielleicht einen Geldgeber für meine Bewässerungs-Experimente gefunden.”
„Ich wünsche dir viel Glück”, sage ich, und dann verabschiede ich mich und mache mich auf den Weg zu meinem Auftraggeber.

© P. Warmann