Berufe.

Ich hatte gerade in der Bahnhofsbuchhandlung für meine Frau die neuste Nummer von ‘Kräuter & Gifte’ gekauft, als mir jemand auffiel, der mir bekannt vorkam. Ich sah noch einmal genauer hin: Doch, er war es.
„Hallo, Knut“, sprach ich ihn an.
Erstaunt drehte er sich um und erkannte mich. Es war ein Studienfreund von mir, und seit dieser Zeit hatten wir uns nicht mehr gesehen. Wie sich herausstellte, war er auf der Durchreise und hatte eine Dreiviertelstunde Aufenthalt. Wir beschlossen, zusammen einen Kaffee trinken zu gehen.

Als wir uns mit Kaffee versorgt hatten und am Tisch saßen, betrachtete ich ihn näher. Er sah gut aus, braungebrannt und durchtrainiert. Knut war schon immer ein sportlicher Typ gewesen, aber er hatte seitdem noch ein paar Pfund Muskeln draufgepackt.
„Dir scheint es gut ergangen zu sein“, bemerkte ich.
„Ja, das kann man sagen. Obwohl es zuerst gar nicht danach aussah. Nach dem Studium wusste ich nicht recht, was ich machen sollte, und bin erst einmal durch die Welt gegondelt. Habe mich als Segellehrer durchgeschlagen. Dann hatte ich sechs Jahre lang einen großartigen Job als Teilzeit-Tarzan in einem Erlebnis-Urwald, aber den musste ich aufgeben.“ Er grinste schief. „Ich habe eine Allergie gegen Schimpansenhaare entwickelt.“
„Das ist Pech“, sagte ich mit ehrlichem Bedauern.
„Ja. Die haben mir eine sehr anständige Abfindung bezahlt, und mit der habe ich mich bei einer meiner Ex-Janes in die Firma eingekauft. Wir betreiben eine Event-Agentur, unsere Spezialität sind Demolition Events. Dafür haben wir praktisch das Monopol im Rhein-Main-Gebiet.“
„Und was hat man sich darunter vorzustellen?“
„Ganz einfach: Wir organisieren Touren dorthin, wo etwas zerstört wird. Ist dir aufgefallen, wie fasziniert die Leute zusehen, wenn irgendwo die Abrissbirne am Werk ist? Nur gilt normalerweise ‘Betreten der Baustelle verboten’. Wir machen es genau umgekehrt: Wir bringen die Leute ganz dicht ran. Wir haben regelmäßige Touren zu Schrottpressen und zum Abbruch von Gebäuden, wir machen aber auch Spezial-Events. Bei einer Schornstein-Sprengung im letzten Monat mussten wir sogar Tribünen aufstellen. Wir hatten über 1500 zahlende Gäste!
Und was ist mit dir? Entwirfst du immer noch Schleusensteuerungen?“
„Oh nein,“ erklärte ich, „ich bin jetzt bei einer Agentur, die fast ausschließlich Aufträge von ganz unten erhält.“ Ich zeigte mit dem Daumen zum Boden.
„Aus der Hölle?“ fragte Knut nach.
„So ist es. Zum Beispiel machen wir jedes Jahr die Entwürfe für die neue Erkältungswelle. Für nächstes Jahr haben wir schon einen besonders hartnäckigen Husten in der Planung. Außerdem arbeiten wir auf dem Gebiet ‘Virusdesign’.“
„Etwa AIDS?“ fragte Knut.
„Nein, das war eine Entwicklung direkt aus der Zentrale. Es heißt sogar – und ich glaube, es stimmt –, dass der Entwurf dazu vom alleruntersten Chef persönlich stammt.
Aber von uns kommen Herpes 2.0 und die modernisierte Version der Schweinegrippe. Ach, und eine neue Kastanienkrankheit ist dabei auch abgefallen.
Meine Arbeitsgruppe ist übrigens gerade mit der völligen Überarbeitung der Parameter für Mirgäneanfälle fertig geworden. Und stell dir vor, wir konnten dafür praktisch unverändert die Routinen übernehmen, die ich für die Umgestaltung der Post entwickelt hatte!“
„Dann arbeitet ihr nicht nur auf dem Gesundheitssektor?“
„Nein, wir sind vielseitig, besonders, seit wir den Konzept-De-Optimierer einsetzen können.“
„Den was?“
„Einen De-Optimierer für beliebige Konzepte. Er sorgt dafür, dass sich die entsprechende Sache erstens bestens verkaufen lässt und andererseits ihr Nerv-Faktor nicht unter 80 Prozent liegt. Wir haben ihn schon erfolgreich angewendet auf Volksmusik-Sendungen, kindersichere Verschlüsse, Handy-Klingeltöne und die Werbung dafür und in diesem Jahr erstmals auch für Adventsdekorationen. Du weißt schon, singende Weihnachtsmänner und blinkende Elche.“
„Du liebe Güte!“ Knut grinste. „Es sieht wirklich so aus, als hättest du genau den richtigen Job für dich gefunden.“

© P. Warmann