Mehr Dimensionen.

Ich schob mein Fahrrad zu Alex, weil der Rahmen gebrochen war und er versuchen wollte es zu reparieren. Dort bockte Alex das Rad auf und sah sich den Schaden an. Ich setzte mich inzwischen auf den Hocker neben der Werkbank. Auf der lag irgendein auseinandergenommenes elektronisches Teil, das an einen Lautsprecher angeschlossen war.
„Was ist das?“ wollte ich wissen.
„MP3-Player, Radio, mobiler Phrasenabzug und Antilärm-Stille-Generator in einem. Ich arbeite daran.“
Alex wandte sich wieder meinem Fahrrad zu, und ich besah mir seine neuste Erfindung. Als ich den An-Schalter drückte, drang klassische Musik aus dem Lautsprecher.
„Ups, mach das aus!“ rief Alex, und das tat ich.
„Ich habe seit meiner Kinderzeit eine Mozart-Allergie“, erklärte er.
„Dann wird dieses Jahr bestimmt hart für dich. Wie äußert die sich? Bekommst du Ausschlag?“
„Nein, unkontrollierbaren Optimismus. Mein Arzt hat mir deswegen schon ein Beunruhigungsmittel verschrieben.“
Er deutete auf das Fahrrad. „Das Rad ist aus Aluminium, schweißen kann ich den Bruch also nicht. Ich denke, ich werde ihn kleben.“
„Meinst du, das hält?“
„Oh ja, mit meinem neuen Alles-und-Nichts-zwei-Komponenten-Kleber wird es halten.“
Alex suchte eine Dose, zwei kleine Spatel und Schleifpapier zusammen und machte sich ans Werk.
„Was ist ein Alles-und-Nichts-Kleber?“ fragte ich nach.
Er öffnete die Dose und zeigte mir den Inhalt. Sie war in zwei Hälften geteilt, und in beiden schien der gleiche durchsichtige Glibber zu sein.
„Mit der Alles-Komponente verbinde ich die Ränder des Rohrs. Mit der Nichts-Komponente klebe ich das, was darin ist.“
„Alex, das Rohr ist hohl. Da drinnen sind höchstens ein paar Luftmoleküle. Das kannst du nicht kleben.“
„Da hast du natürlich Recht.“ Er begann die Bruchränder mit dem Schleifpapier zu bearbeiten. „Das mit dem ‘Alles-und-Nichts’ ist eigentlich nur ein Wortspiel. In Wirklichkeit verklebe ich die Teile des Rohrs, die sich in anderen Dimensionen befinden.“
Er legte das Schleifpapier beiseite und begann mit einem Spatel Kleber auf die Bruchränder aufzutragen. „Die Wissenschaftler wissen schon lange, dass es mehr als die üblichen drei Dimensionen gibt, sie waren sich nur nicht einig, wie viele. Ich glaube, es sind sechs, zusammen also neun – drei mal drei, das passt sehr schön in die fundamentale Symmetrie des Universums.
Entdeckt habe ich sie vor ein paar Wochen. Du kennst doch meinen Werkzeugschrank.“
Er zeigte auf das Monstrum mit den Stahltüren, und ich schauderte. Wenn ein anderer als Alex diesen Schrank öffnet, riskiert er es, auf der Stelle unter Hämmern, Zangen, Bohrern, Stichsägen und mit Flügelschrauben gefüllten Keksdosen begraben zu werden.
„Irgendwann fiel mir auf, dass ich viel mehr Zeug in dem Schrank aufbewahre, als er beim besten Willen fassen kann“, erklärte Alex weiter. „Als wäre er innen größer als außen. Schließlich habe ich ihn ausgeräumt und dabei festgestellt, dass ich ohne es zu merken zwei zusätzliche Dimensionen benutzt habe. Ich habe dann etwas nachgeforscht und diesen Kleber entwickelt.“
Er legte den einen Spatel weg und nahm den anderen. Damit schien er Kleber sonstwohin zu schmieren – die meisten Stellen lagen einige Zentimeter vom Rohr entfernt. Er sah meinen skeptischen Blick und beruhigte mich: „Ich setze ein paar Verbindungen in die anderen Dimensionen. Mach dir keine Sorgen, du wirst in diesen nichts davon bemerken.“
„Alex, wieso kannst du in neun Dimensionen sehen und ich nur in drei?“
„Weil dein drittes Auge nicht entwickelt ist, wie übrigens bei den meisten Menschen. Aber dir entgeht da nicht viel: Man sieht hauptsächlich seltsame Winkel und dann und wann ein paar Termiten.“
Termiten?“
„Ja, die benutzen anscheinend öfter mal eine Extra-Dimension für ihre Gänge.“

Er stand auf. „Gut, das hätten wir. Der Kleber muss jetzt eine halbe Stunde aushärten. Möchtest du einen Kaffee?“
„Danke, gerne.“
„Elektrisch oder normal?“
„Elektrisch, bitte.“

Alex begab sich in die Küche, um die Kaffeemaschine anzuwerfen, und ich wanderte ins Wohnzimmer. Dort fand ich eine von diesen Kugelleuchten, die die Farbe wechseln, obwohl diese im Moment konstant gelb leuchtete. Ich wunderte mich, denn Alex hat für solchen Schnickschnack normalerweise nichts übrig.
Er kam mit den Tassen ins Zimmer und bemerkte, worauf meine Aufmerksamkeit gerichtet war.
„Das ist eine Auftragsarbeit“, erklärte er. „Die Firma meint, einfache Farbwechsel wären auf die Dauer zu langweilig, und daher habe ich eine künstliche Intelligenz entwickelt, die die Farbe der Stimmung des Betrachters anpasst. Versuche es mal.“
Ich näherte mich der Lampe und warf ihr einen schrägen Blick zu. Sie änderte ihre Farbe kurz zu Orange und dann zu einem scheußlich süßlichen Rosarot. Ich schauderte. Sie flackerte, wurde dann eisblau, dann immer dunkler, bis die Farbe plötzlich zu Grau verblasste.
„Ach du liebe Güte“, sagte Alex, „das war aber wirklich feindselig von dir. Jetzt ist sie in Ohnmacht gefallen. Sie sind sehr sensibel, musst du wissen.“
Er holte einen Ultraschall-Schraubenzieher aus der Tasche und öffnete eine Klappe auf der Unterseite der Lampe. „Erst einmal ein Reset, dann mal sehen, wie sie reagiert.“ Er trat einige Schritte zurück.
Die Lampe wechselte kurz durch alle Farben, dann versuchte sie es mit Lavendel. Ich verzog das Gesicht, und sie schaltete hastig auf ein helles Limonengrün. Damit konnte ich leben, entschied ich, und setzte mich in einen Sessel.
„Sehr gut“, sagte Alex. „Sie lernt.“

Aus der Küche war eine Folge von Morsezeichen zu hören. Alex hat alle seine Geräte so umgebaut, dass sie nicht nur piepsen oder klingeln, wenn sie fertig sind, sondern auch einen kurzen Statusbericht senden.
„Muss mal wieder entkalkt werden“, murmelte er, als er in die Küche ging.
Kurz darauf kam er mit dem Kaffee wieder und schenkte ein. Ich nahm einen Schluck. Dzingg! Ein Stromstoß schoss mir durch den Körper, und die Haare standen mir zu Berge.
„Ist er zu stark?“ fragte Alex.
„Nein, er ist genau richtig. Nichts macht einen so munter wie dein elektrischer Kaffee.“

© P. Warmann