Auf dem Golfplatz.

Sorgfältig strich ich die letzte Schicht Creme auf der Torte glatt, als mich etwas erstarren ließ. Im Nachbarraum hörte ich eine Stimme sagen: „... natürlich ist das noch immer ein sehr experimentelles Verfahren.“ Eine Stimme, die ich kannte... Alex? Hier?
Ich warf einen Blick durch die Tür. Ja, es war unzweifelhaft Alex, der dort mit dem Manager des Golfplatzes stand – ungefähr an dem letzten Ort, an dem ich ihn erwartet hätte.
Ich war hier, weil die Konditorei, für die ich arbeite, mich und unsere Auszubildende im letzten Lehrjahr hierher geschickt hatte, um einige Leckereien auf Erdbeerbasis für eine Art festlicher Kaffeetafel zuzubereiten. Anlass war das 25jährige Jubiläum dieses Golfplatzes. Aber warum war Alex hier? Und, worüber ich mir viel mehr Gedanken machte: Was war das für ein noch sehr experimentelles Verfahren, von dem er so begeistert sprach? Wenn man diesen Tonfall in seiner Stimme hörte, ging man besser in Deckung, bis die Geschichte erheblich ausgereifter war.
Ich spähte noch einmal in den Raum – das Restaurant des Golfplatzes, in dessen Küche wir uns ausgebreitet hatten – und sah, dass Alex inzwischen an einem technischen Gerät hantierte. Es sah wie eine typische Alex-Erfindung aus, diesmal wie eine grob zusammengelötete Kreuzung aus einem DJ-Mischpult und einem altmodischen Radarschirm.
Nun gut. Ich hatte meinen eigenen Job zu machen. Entschlossen wandte ich mich wieder der Torte zu ... die genau diesen Moment wählte, um in Bewegung zu geraten. Genau genommen war es nur die Creme, die sich bewegte (eine moderne Torte mit leichter Erdbeercreme auf hauchzarten Biskuitböden). Eine Woge lief über die Oberfläche, und ich schrak zurück, denn ich befürchtete eine von Alex’ berüchtigten Tortenwellen, aber das hier sah eher aus wie das leichte Kräuseln von Wasser, in das man einen Stein wirft. Aber es wurde schnell komplexer, Ringmuster und gewellte Kreise und sich strahlenförmig ausbreitende Wirbel, und wo sich die Muster überschnitten, wuchsen schlanke Kegel auf. Es war wunderschön, fast wie feinste Spitze, aber dreidimensional und ständig in Bewegung. Und dann erstarrte es plötzlich.
Ich starrte darauf, aber es veränderte sich nicht mehr. Es sank auch nicht in sich zusammen, sondern behielt seine Form, mit all den feinen Details.
„Das nenne ich mal ein Tortendekor“, sagte ich halblaut.
Unser Lehrling tauchte neben mir auf und staunte. „Wie haben Sie das gemacht?“ fragte sie ehrfürchtig.
Ich lächelte. „Sobald Sie die Prüfung bestanden haben, erkläre ich es Ihnen“, sagte ich. Nur würde ich dazu Alex’ Unterstützung brauchen. Wenn das hier keine ungeplante Nebenwirkung eines seiner Experimente war, dachte ich, dann würde ich freiwillig auf Grobschmied umschulen.

Nebenan füllte sich der Raum mit Gästen. Angestellte des Restaurants verteilten die üblichen Gläser mit Sekt und Orangensaft – Zeit für uns in der Küche, die hauchfeinen Waffelschälchen in Angriff zu nehmen (warme Waffelschälchen mit frischen Erdbeeren, vegan und diabetikergeeignet). Waffelschälchen formen, Erdbeeren glasieren – bis es plötzlich nebenan krachte. Rumms! Ich riskierte einen Blick in den Raum. Hm. Offensichtlich hatte sich ein Gast neben seinen Stuhl gesetzt ... oder nein, es sah eher so aus, als wenn er in dem Stuhl saß – auf dem Boden, aber von dem Stuhl umgeben. Das konnte natürlich nur eine optische Täuschung sein ... dachte ich, aber dann ging Alex zu dem Mann und half ihm auf.
„Ich hatte Ihnen allen doch ausdrücklich gesagt, dass Sie die Durchdringungsfunktion deaktivieren müssen, sobald Sie den Platz verlassen. Ich versuche zwar, die Wirkung auf den eigentlichen Platz zu beschränken, aber so genau lässt sich das nicht einstellen... Sie sehen ja, was mit Gegenständen aus Holz geschehen kann, wenn Sie nicht darauf achten.“ Er griff nach einem kleinen Kästchen, das der Mann am Gürtel trug, und schaltete es offensichtlich aus.
Durchdringungsfunktion? Menschen, die sich durch Stühle setzen? Das klang wirklich stark nach Alex, aber was hatte das auf einem Golfplatz zu suchen? Interessante Frage, aber im Augenblick hatte ich meine eigene Arbeit zu machen. Also kümmerte ich mich um die Waffelschälchen, während drüben der Manager die übliche Ansprache vom Typ ?Erfolge der Vergangenheit und eine brilliante Zukunft’ hielt. Immerhin fasste er sich erfreulich kurz. Ich hörte mit halbem Ohr zu, bis er plötzlich Alex’ Namen erwähnte.
„... so ist heute ein besonderer Tag in der Geschichte der Sportart Golf“, hörte ich ihn sagen. „Diese revolutionäre Erfindung gestattet es uns – das heißt Ihnen als den Premium-Mitgliedern dieses Golfclubs – Hindernisse auf dem Platz einfach zu durchdringen. Ob Bäume, Sträucher oder Blumenbeete, Sandbunker oder hohes Gras: Gehen Sie einfach hindurch, als wären sie nicht vorhanden. Keine Beschädigungen der Vegetation, keine zerwühlten Sandbunker mehr, und vor allem: Nie wieder die mühsame Suche nach dem richtigen Standpunkt für den nächsten Schlag. Stehen Sie im Baum, und schlagen Sie durch den Baum! Und Sie, sehr geehrte Mitglieder dieses Clubs, sind weltexklusiv die ersten und einzigen, die diese grandiose neue Technik nutzen können!“
Applaus brandete auf, aber zumindest eine grauhaarige Dame in teurem Tweedkostüm war offensichtlich nicht der gleichen Meinung wie der Redner.
„Ich halte das für eine Verfälschung der Sportart Golf“, sagte sie scharf. „Hindernisse sollten Hindernisse bleiben, dafür sind sie da. Sich mit Hilfe solchen technischen Schnickschnacks das Leben leichter zu machen, ist genau der falsche Weg, und...“
„Aber für den Ball bleiben die Hindernisse doch bestehen“, warf der Manager ein. „Er prallt weiterhin von den Bäumen ab und gräbt sich im Sand ein. Nur der Spieler hat ... äh ... sozusagen etwas mehr Bewegungsfreiheit.“
„Aber durch Bäume zu gehen...“, sagte sie zweifelnd.
„Oh, genau genommen gehen Sie nicht hindurch“, sagte Alex fröhlich. „Sie werden in einem sechsdimensionalen Kontimuum sozusagen parallelverschoben und bewegen sich auf diese Weise um den Baum herum.“
„Sehen Sie?“ sagte der Manager erleichtert.
„Wie auch immer.“ Die Dame war offensichtlich keineswegs überzeugt. „Dinge wie das dort drüben sprechen allen Prinzipien unseres Sportes Hohn!“
Sie zeigte aus dem Fenster, und Alex und der Manager sagten zeitgleich „Oh“. Dort draußen auf der Oberfläche des hübschen Teichs, der in der Mitte der Anlage ein Wasserhindernis bildete, stand ein Golfer und holte gerade zum Schlag aus. Ja, er stand, und der Ball lag vor ihm. Offensichtlich war die Wasseroberfläche fest und begehbar, sie gab unter ihm nicht einmal ein wenig nach. Um ihn herum verwirrte dieses Phänomen auch eine Schar Enten, die herumwatschelten und immer wieder versuchten, ihre Schäbel in das Wasser zu tunken. Es gelang ihnen nicht.
„Oh“, sagte Alex, „das war so nicht geplant. Ein ungewollter Nebeneffekt ... Sie haben Recht, ich werde dafür sorgen, dass er aufgehoben wird.“
Er eilte zu seiner Apparatur, überprüfte etwas auf dem Bildschirm und stellte zwei der Regler neu ein. „Ein kurzer Puls“, sagte er, „das sollte reichen.“ Er zog einen der Schieberegler energisch nach unten, und ich hörte in der Küche etwas klirren. Ich achtete aber nicht darauf, denn drüben auf dem Teich gingen der Golfball, der Spieler und alle Enten schlagartig unter – ohne Spritzen, ohne Platschen, sie fielen einfach durch das Wasser, als wäre es nicht vorhanden.
Ein paar Leute im Raum sahen besorgt zu Alex hinüber, aber der erklärte ungerührt: „Damit war zu rechnen – ein typischer überschießender Kompensationseffekt. Kurzzeitig wird das Wasser vollkommen durchdringbar, aber das ändert sich schnell durch die Übermacht der allgemeinen Wirklichkeit – ah, genau!“
Drüben ploppten die Enten an die Oberfläche wie untergetauchte Korken, und zwischen ihnen tauchte prustend der Golfer wieder auf und watete durch das panisch schnatternden Federvieh ans Ufer.
In Ordnung, dachte ich, das war ja ganz amüsant, aber es gab wichtiges für uns zu tun – ich musste mich um das geeiste Erdbeersorbet kümmern (geeistes Erdbeersorbet auf Walnussmakronen mit Schokoladenbaiser-Haube). Also holte ich die Schüssel mit dem Sorbet aus dem Gefrierschrank – aber wo, bitte, waren die Dessertschalen? Sie hatten in Reih und Glied auf der Anrichte gestanden, aber dort waren sie nicht mehr. Oder besser, sie waren noch dort, aber keine Dessertschalen mehr. Anstelle der Kristallglas-Schalen mit eingeschliffenem Blumenmuster lagen dort nur noch Häufchen, die aussahen wie zusammengeknüllte Plastikfolie. Das hatte also vorhin geklirrt. „Alex“, sagte ich mit einem Seufzer, stellte die Schüssel etwas härter als nötig ab und ging nach nebenan. Alex sah mich und war erstaunt. „Was machst du denn hier?“
„Wie du weißt, bin ich Konditor. Wir bereiten die Leckereien für die Kaffeetafel. Und im Moment habe ich ein Problem. Komm mal mit in die Küche.“
Er folgte mir, und ich zeigte auf die Glashäufchen. „Offensichtlich hat deine Wasser-Weichmach-Aktion als Nebeneffekt unsere Dessertschalen gefaltet. Also sieh zu, dass du sie wieder hingebügelt bekommst.“
Alex versuchte etwas zu sagen, aber ich schüttelte den Kopf. „Ich brauche jetzt keine Erklärung, ich brauche die Schalen. Da drüben taut mein Sorbet, und nebenan wird schon der Kaffee serviert. Dies sind die einzigen Schalen, die in diesem Laden greifbar waren, das haben wir vorhin überprüft. Wenn du sie nicht irgendwie wieder aufgefaltet bekommst, muss ich das Halbgefrorene in Suppentellern servieren. Also sieh zu, dass du eine Lösung für das Problem findest.“
„Aber dieser Knittereffekt...“, sagte Alex zweifelnd. „Um das wieder sorgfältig zu entfalten, muss ich die Parameter präzise bestimmen, und das dauert Stunden.“ Er sah meinen Blick. „Na gut. Ich versuche etwas, das schnell geht. Aber ich muss dich warnen, das Ergebnis wird höchstens suboptimal.“
Er zog ein Gerät aus der Tasche, das aussah wie ein alter Raumschiff-Enterprise-Tricorder mit aufgesetzter Mini-Satellitenschüssel, richtete es auf die gefalteten Dinger und tat etwas damit. Ein klirrendes Knistern ertönte – oder ein knisterndes Klirren –, und die Schalen entfalteten sich vor unseren Augen. Jedenfalls mehr oder weniger.
Sie sahen aus, wie eine zusammengeknüllte und dann nachlässig entfaltete Kristallschale eben aussieht. Außerdem hatte sich das Blumenmuster anscheinend in eine Entenparade verwandelt – warum auch immer. Aber sie waren wieder als Schalen nutzbar, und darauf kam es an.
„Makronen, Sorbet, Baiserhaube“, wies ich unseren Lehrling an. „Sind die Waffelschalen gefülllt? Gut; vergiss die gehackten Pistazien nicht. Schön, dann sag bitte den Kellnern, dass sie die Sachen jetzt auftragen können.“ Ich wandte mich der zweiten Torte zu, die noch dekoriert werden musste.
Während es mir zu meiner eigene Überraschung gelang, darauf ?25 Jahre’ fehlerfrei und säuberlich mit der Spritztüte zu schreiben, hörte ich aus dem Nachbarraum anerkennende Worte der Speisenden – für die Qualität des Desserts und das ?umwerfende avantgadistische’ Design der Dessertschalen.

Das war der Augenblick, in dem ich dachte, ab jetzt würden sich die Dinge beruhigen. Natürlich war es nicht so.
Unser Lehrling hatte die zweite Torte mit Erdbeeren dekoriert, drehte den Wasserhahn auf, um irgend etwas abzuspülen – und schrie auf. „Au! Was um alles in der Welt ist das denn?“
Wir sahen ihr über die Schulter, Alex und ich. Das Wasser kam aus dem Hahn weder als Schwall noch als Tropfen, sondern im Form von kleinen Kugeln, etwa so groß wie eine Haselnuss, die rundum mit sehr spitz aussehenden Stacheln besetzt waren. Sie stapelten sich im Waschbecken und machten keine Anstalten, wie vernünftiges Wasser zu zerfließen.
„Oh“, sagte Alex. „Das scheint eine sechsdimensionale Modifikation von Wasser zu sein... Es gab Untersuchungen, die auf so etwas hindeuteten.“ Er griff sich einen Löffel und versuchte damit die Kugeln umzurühren. Sie schnitten ihm den Löffel säuberlich in zwei Teile.
„Oh“, sagte er noch einmal. „Das sind mir jetzt zu viele unkontrollierte sechsdimensionale Effekte. Ich glaube, es ist besser, wenn ich die Apparatur herunterfahre.“
Oh ja, der Ansicht bin ich auch, dachte ich, aber jetzt war es erst einmal Zeit, die Torten aufzutragen. Das taten wir, die Auszubildende und ich, und auf dem Weg durch den Speiseraum hörte ich eine Frau sagen: „Du wirst nicht glauben, was mir beim Händewaschen passiert ist.“ Sie hatte sich ein Taschentuch um ihren blutenden Daumen gewickelt und ich dachte, oh doch, zumindest ich glaube Ihnen.
Was die Torten anging, so kamen sie sehr gut an, und ich hörte einige Bemerkungen über das ?unglaublich aufwändige’ Dekor der Erdbeercremetorte. Irgendwann tauchte Alex neben mir auf und sagte leise: „Die Geräte fahren gerade herunter. Mal sehen, wie gut die Sicherheitsschaltung greift ... ah, ausgezeichnet!“
Er meinte offensichtlich den Mann, der draußen auf dem Golfplatz gerade aus einer Baumgruppe geschossen kam, als hätte ihm jemand einen sehr herzhaften Stoß versetzt. Ein zweiter folgte ihm, und beide taumelten über das Grün, bis sie sich wieder gefangen hatten. Dann sah ich einen dritten, der neben einem Baum stand und an etwas zerrte. Es ragte aus dem Baumstamm wie ein großer altmodischer Schalthebel und ließ sich offensichtlich nicht bewegen.
„Ah, er hat den Golfschläger losgelassen, als die Dimensionen sich wieder normalisierten“, sagte Alex. „Und da sich beide, der Schläger und der Baum, danach am selben Ort befanden, wurden sie untrennbar verbunden. Tja, er kann sich das Herumzerren sparen, seinen Schläger bekommt er da nicht mehr heraus.
Genau deshalb habe ich ja die Sicherheitsschaltung eingebaut“, fuhr Alex munter fort..“Es wäre schließlich nicht gut, wenn sich bei der Abschaltung ein Mensch und ein Baum an derselben Stelle befinden würden, denn ich vermute, dann würde mit ihnen das gleiche geschenen. Ich nehme an, die Person würde stark komprimiert, vielleicht auch mit dem Baum verschmolzen, deswegen versetzt die Schaltung in solchen Fällen den Menschen vorsorglich aus der Gefahrenzone. Augenscheinlich funktioniert das sehr gut ... ich hatte nämlich keine Möglichkeit, das vorher zu testen.“
Mir stellten sich die Nackenhaare auf – das, dachte ich, war mal wieder typisch Alex.
Der stand neben mir und lächelte. „Wunderbar“, sagte er, „ich habe eine Menge Daten gesammelt, die mir helfen werden, das Verfahren zu verfeinern. In ein oder zwei Wochen, würde ich sagen, werden wir den Dimensionsverschieber auf Dauerbetrieb stellen können. Aber für einen ersten Versuch ist doch alles wunderbar gelaufen.“
Ja, dachte ich – abgesehen von ein paar blauen Flecken, zerknitterten Dessertschalen, einem blutenden Daumen, einem triefnassen Golfer – und einer dauerhaft in ihrem Weltbild erschütterten Entenfamilie.

Als wir später unsere Sachen zusammenpackten, nahm ich mir zwei Dinge vor: erstens unserem Chef zu sagen, er solle nie wieder einen Auftrag annehmen, wenn Alex in irgend einer Weise daran beteiligt war, und zweitens Alex zu bitten, mir ein Gerät zu bauen, das Torten mit jenen Interferrenzmustern verziert. Das wäre im Konditorgewerbe die revolutionärste Neuerung seit der Erfindung des Spritzbeutels.

© P. Warmann