Die Welt ist ein Knoten.

Als ich von der Arbeit nach Hause kam, fand ich auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht von Alex’ Schwester. „Alex liegt im Krankenhaus. Nichts Ernstes, nur ein gebrochener Arm, aber er wird ein paar Tage dort bleiben müssen. Falls du ihn besuchen möchtest“, und dann folgte die Angabe des Krankenhauses und der Zimmernummer.
Also machte ich mich auf, um nach ihm zu sehen und ihm die Langeweile zu vertreiben. Ich machte mir ein wenig Sorgen um ihn, aber im Krankenhaus angekommen fand ich ihn aufrecht im Bett sitzend und offensichtlich nicht allzu schwer mitgenommen. Er trug einen komplizierten Gips um den linken Oberarm, hatte einen Block auf den Knien und einen Stift in der Hand und grübelte augenscheinlich über irgendwelchen Berechnungen.
Als er mich sah, legte er den Stift beiseite und hob grüßend die Hand. Ich zog mir einen Stuhl neben das Bett und fragte: „Wie fühlst du dich?“
„Geht so. Drehbruch im linken Oberarm. Ist aber nichts wirklich Schlimmes. Irgendwo bin ich ganz froh: Wenn ich hier für ein paar Tage festsitze, komme ich wenigstens dazu, mich endlich mit einigen theoretischen Problemen zu beschäftigen.“
Ich warf einen Blick auf die Blätter, die über die Bettdecke verstreut lagen und über und über mit Zahlen und Symbolen in Alex’ winziger Handschrift bedeckt waren. „Und worum geht es da?“
„Hier zum Beispiel.“ Er hielt eines der Blätter hoch. „Das ist eine seltsame Sache. Ich habe mal alle Daten zur Wahrscheinlichkeit der Existenz dieses Universums und seinen Entwicklungswegen zusammengetragen und daraus eine invertierte Möglichkeits-Matrix berechnet, und das Ergebnis ist, dass das Universum unmöglich noch existieren kann. Ich habe alles dreimal nachgerechnet und alle Annahmen überprüft, aber es kommt immer dasselbe heraus: Die Welt ist vor einigen Jahrzehnten untergegangen. Ich frage mich, wo der Fehler liegt.“
„Vielleicht gibt es keinen“, sagte ich und klaute Alex eine Weintraube aus seinem gut gefüllten Obstkorb. „Vielleicht ist die Welt wirklich untergegangen, und wir haben es nur nicht gemerkt. Ich meine, wer sagt denn, dass ein Weltuntergang irgendwie dramatisch ablaufen muss? Und gibt es irgendwelche Voraussagen, wie die Dinge danach auszusehen haben?“
„Stimmt, daran habe ich gar nicht gedacht.“ Er starrte auf sein Blatt. „Mal sehen, ich könnte die Daten in die Zukunft extrapolieren...“
Ich nutzte die Gelegenheit und wollte mir eine Mandarine greifen. „Vorsicht“, sagte Alex, „das Obst kommt von meiner Schwester. Es sind, glaube ich, ein paar Würgefeigen dabei und wahrscheinlich auch Krachmandeln.“
Ich zog die Hand wieder zurück. Seine Schwester beschäftigt sich mit experimenteller Pflanzenzucht, und seit einigen bösen Erfahrungen mit Granatenäpfeln und Kalaschnikow-Popcorn war ich lieber vorsichtig.

„Wie war die Hochzeit?“ fragte Alex. „Und wie fand Ulla das Kleid?“
„Die Hochzeit war sehr lustig, und von dem Kleid war sie begeistert“, antwortete ich, und dann erzählte ich von der Feier. Eine von Ullas Freundinnen hatte vorgestern geheiratet, und wir waren eingeladen gewesen. Ulla suchte nach einem besonderen Kleid für diesen Anlass, und als Alex davon hörte, hatte er sie an seine Schwester weitergereicht.
„Wie seid ihr eigentlich auf die Idee mit den Blattschneiderameisen gekommen?“ fragte ich Alex.
„Ach, meiner Schwester war aufgefallen, dass die im Gewächshaus bei dem Überangebot an Blättern ständig welche miteinander verbinden, auch wenn sie gar nicht am Nest bauen müssen. Sie hat dann festgestellt, dass die Ameisen sich lenken lassen, und sie schließlich nach Schnittmustern schneidern lassen.“
„Ulla sah großartig aus in dem Blätterkleid“, sagte ich. „Es hat anstandslos den ganzen Tag gehalten und wunderbar frisch geduftet.“ Und es war auch eine Freude gewesen, Ulla hinterher zu entblättern, aber das sprach ich nicht aus.

Statt dessen fragte ich: „Wie hast du dir eigentlich den Arm gebrochen?“
„Oh, angefangen hat das mit noch so einer theoretischen Berechnung. Ich wollte wissen, welche Form das Universum als Ganzes hat.“
„Ich dachte, die Welt ist untergegangen“, warf ich ein.
„Äh, ja, aber das hat sich ja jetzt geklärt. Wenn der Weltuntergang an den Dingen nichts ändert, kann man ihn einfach ignorieren. Also, die Gestalt des Universums: Vermutet wurde, dass es eine Kugel ist, oder vielleicht auch eine komplizierte Sattelform. Ich habe aber berechnet, dass es in Wirklichkeit ein geschlossener Knoten ist.“
Er hielt ein paar Blätter hoch.
Ich wunderte mich, dass er so etwas schriftlich berechnete. „Wieso benutzt du keinen Computer?“ fragte ich.
„Ach, Computer... Im Kopf geht das immer noch viel schneller. Jedenfalls ging aus den Berechnungen nicht hervor, ob ein Knoten aus allen neun Dimensionen stabil wäre. Daher wollte ich das im kleinen Maßstab ausprobieren und habe eine Art Dimensionsverknoter gebaut – hemdsärmelig gesprochen. Er hat auch wunderbar funktioniert, und ich hatte in der Werkstatt einen Knoten von etwa einem Meter Durchmesser – das haben jedenfalls die Instrumente angezeigt, sehen konnte ich ihn nicht. Blöderweise fing das Ding aber an zu wandern, direkt auf den Generator zu. Ich wollte den Notausschalter ziehen, und dabei ist mein Arm in den Knoten geraten. Tja, der Knochen war etwas zu starr, um verknotet zu werden. Knacks. Zum Glück habe ich den Notschalter noch erreicht. Ich denke, ich werde das Experiment nicht wiederholen.“
„Alex“, sagte ich, „das halte ich für eine sehr gute Idee.“

© P. Warmann