Die Schattenschleuder.

Es war ein heißer Tag, und Ulla und ich hatten uns zu Alex geflüchtet. Wir saßen in bequemen Liegestühlen unter dem großen Baum, der in der Mitte seines Gartens wächst. Ulla sah hoch in die Baumkrone.
„Komisch“, sagte sie, „als ich im Winter hier war, ist mir der Baum gar nicht aufgefallen.“
„Da war er auch nicht hier“, erklärte Alex. „Das ist eine Sommerlinde, die überwintert in Afrika.“
„Ziemlich beweglich für eine so große Pflanze“, meinte Ulla. „Wie macht sie das?“
„Das weiß ich auch nicht“, gab Alex zu. „Irgendwann im Herbst ist sie plötzlich weg, und im Frühling taucht sie über Nacht wieder auf. Ich habe gehört, die Bäume haben ein Abkommen mit den Zugvögeln, aber wie das genau funktioniert – keine Ahnung.“

Ich schüttelte den Kopf und griff nach meinem Limonadenglas. „Hier ist es ja auszuhalten“, sagte ich, „Schatten und eine kühle Brise. Aber mich graut schon davor, nachher mit dem Fahrrad nach Hause zu fahren, fast den ganzen Weg in der prallen Sonne. Alex, du bist doch der geniale Erfinder. Lass dir etwas einfallen. Wie wäre es mit tragbarem Schatten?“
Ulla lachte. „Gute Idee. Ich bekomme immer Kopfschmerzen, wenn die Sonne so brennt wie heute. Alex, hast du nichts, mit dem man einen kühlen Kopf bewahren kann, ohne einen Hut, der einem die Frisur ruiniert?“
Alex grinste, runzelte dann aber nachdenklich die Stirn und meinte: „Du bringst mich da auf etwas... Mal sehen, das müsste eigentlich klappen.“ Sprach’s, sprang auf und stürzte ins Haus. Ulla und ich sahen uns an und fragten uns im Stillen, was wir da gerade angestoßen hatten.

Alex kam erstaunlich schnell wieder zurück, beladen mit allerlei Kram. Er schob die Limonadengläser beiseite und verteilte das Zeug auf dem Tisch. Dann fing er an, an etwas herumzubasteln, das wie eine an einem Stirnband befestigte Lampe aussah. Zuerst nahm er sie auseinander, dann fischte er verschiedene elektronische Bauteile aus einem Kasten, in dem sie sorgfältig in kleine Fächer einsortiert waren. Schließlich lötete er sie in die Überreste der Lampe ein.
„Das hier ist eine tragbare Version des Nachtlichts“, erklärte er. „Ihr wisst schon, diese Lampe, die Dunkelheit ausstrahlt. Ich bin mit der großen Version noch nicht viel weiter gekommen, ich bekomme einfach nicht genug Reichweite. Nach ein paar Metern ist Schluss, dann fängt die Dunkelheit an zu klumpen und sammelt sich auf dem Boden. Das ist aber hier kein Problem, weil ich nur einen knappen halben Meter brauche, und da arbeitet das Nachtlicht einwandfrei.
Also, Ulla, versuche es einmal.“
Ulla sah aus, als wäre ihr nicht ganz wohl, während Alex ihr das Stirnband anlegte und das Nachtlicht justierte. Er betrachtete es noch einmal kritisch, sagte: „So, das müsste jetzt funktionieren“, und schaltete das Gerät ein. Fast augenblicklich bildete sich über Ullas Kopf eine Blase aus Dunkelheit.
Ich musste lachen. „Du siehst aus, als wenn du eine aufgepumpte Baskenmütze trägst“, sagte ich.
Sie schielte nach oben. „Ich kann den Rand von der Dunkelheit sehen... Irgendwie ein komisches Gefühl.“
„Bewege dich mal etwas“, sagte Alex. „Und gehe in die Sonne – ich möchte sehen, ob es auch dann funktioniert.“
Ulla stand auf und ging ein wenig umher. Das Zeug über ihrem Kopf waberte leise. In der Sonne sah es noch seltsamer aus: halbfeste, undurchdringliche Dunkelheit.

Plötzlich rief Ulla: „Hilfe, Alex, mir wird schwarz vor Augen!“ und griff sich an die Stirn. Ich eilte ihr zur Hilfe. Offensichtlich begann das schwarze Zeug seinen Halt zu verlieren und lief ihr über das Gesicht. Es sah wie schmelzendes Softeis aus.
Ich versuchte ihr das Zeug aus dem Gesicht zu streichen und kam mir deutlich blöd dabei vor, denn schließlich war dies Dunkelheit, ohne Substanz, die man anfassen konnte – aber es ging! Zwar spürte ich gar nichts unter meinen Fingern, aber es ließ sich formen wie Buttercreme. Und mit Buttercreme kenne ich mich aus: Schließlich bin ich Konditor.
Ich formte einen kunstvollen Dutt über Ullas Hinterkopf. Alex nahm ihr währenddessen die Lampe ab und erklärte: „Keine Angst, in zehn Minuten ist der Rest verdunstet. Ich hatte schon befürchtet, dass es nicht klappen würde – bei zu viel Licht wird die Dunkelheit instabil und gibt unter dem Lichtdruck nach.“
„Immerhin, es hat meinen Kopf schön kühlgehalten“, sagte Ulla und setzte sich wieder hin.
„Es sah aber ziemlich unheimlich aus“, meinte ich.

Wir tranken Limonade, und ich sah zu, wie die letzten Reste der Dunkelheit über Ullas Kopf verschwanden. „Alex, was ist eigentlich Schatten?“ fragte ich.
„Und was ist Licht?“ erweiterte Ulla die Frage.
„Licht besteht aus winzigen, energiehaltigen Teilchen“, erklärte Alex. „Wo sie sind, ist Licht. Und je mehr Teilchen auf einem Haufen sind, umso heller ist das Licht.“
„Dann ist Schatten eine Art verdünntes Licht?“ fragte ich. „Und was ist Dunkelheit? Der Zwischenraum zwischen den Lichtteilchen?“
„In gewisser Weise schon“, sagte Alex nachdenklich. „Es stimmt: Wenn weniger Teilchen vorhanden sind, wird es dunkler, und wenn irgendwann überhaupt keine mehr da sind, ist es stockfinster. Das ist aber nicht die Art Dunkelheit, die ich mit dem Nachtlicht erzeuge. Die ist nicht einfach die Abwesenheit von Licht, sondern eine echte, feste Dunkelheit, eine Art Anti-Licht.“
„Besteht das dann ebenfalls aus Teilchen?“ wollte Ulla wissen.
Alex wirkte verblüfft. „Darüber habe ich nie nachgedacht... Aber genau da könnte der Fehler liegen. Ich habe immer versucht, mehr Reichweite zu bekommen, indem ich mehr Substanz erzeuge, aber offensichtlich breitet es sich nicht von alleine aus. Ich muss den Teilchen wahrscheinlich mehr Schwung mitgeben... Das bringt mich auf eine Idee.“ Alex sprang auf und stürzte zum Haus.

Sekunden später war er wieder da. Er hielt ein kleines silbriges Teil hoch. „Ich versuche es mit einem Zyklotron“, rief er und machte sich sofort ans löten.
Ein paar Minuten später hielt er die umgebaute Lampe hoch. „Das ist jetzt eine Art Schatten-Partikel-Emitter“, sagte er und hielt mir das Dings hin. „Möchtest du ihn testen?“
Ich schluckte, aber da Ulla heute schon zu einem Versuch bereit gewesen war, konnte ich mich nicht drücken. Also ließ ich mir das Stirnband anlegen.
Alex schaltete ein, und zuerst schien gar nichts zu geschehen. Dann hatte ich das Gefühl, dass sich die Welt um mich herum leicht verdüsterte, etwa so, als wenn man durch eine mittelstarke Sonnenbrille sieht.
„Es funktioniert!“ rief Alex. Ich sah an mir herunter, konnte aber nichts erkennen.
„Um dich herum ist eine Art Schattenwolke“, sagte Ulla aufgeregt.
Ich trat in den Sonnenschein. Jetzt merkte ich die Wirkung deutlicher: Von der Wolke konnte ich immer noch nicht mehr erkennen als diesen Abdunklungs-Effekt, aber ich spürte den Schatten auf meiner Haut.
„Sehr schön kühl“, sagte ich. „Aber, Alex, ich habe das Gefühl, dass ich Schleier sehe, die sich bewegen.“
„Das kann schon sein. Damit die Wolke dich ganz umhüllt, musste ich sie in eine leichte Drehung versetzen – die Partikel kreisen also um dich.“
Ich ging hin und her, und Alex betrachtete aufmerksam, wie sich der Schatten verhielt. „Sehr gut“, sagte er. „Als nächstes solltest du es einmal auf dem Fahrrad ausprobieren, ich möchte wissen, ob der Fahrtwind den Schatten abstreift. Das sollte aber nicht...“
Er unterbrach sich, als es in der Lampe an meiner Stirn plötzlich laut knackte, erst einmal, dann einige Male schnell hintereinander. Die Schleier um mich herum wurden schlagartig dunkler. Sie begannen sich zu drehen, immer schneller. Schwarze Schatten wirbelten um mich herum, und ich taumelte.
Dann war Alex bei mir, packte mich am Arm und nahm mir die Lampe ab. Die Welt hörte auf sich zu drehen, ich blinzelte und sah wieder klar. Alex untersuchte die Lampe.
„Offensichtlich läuft das Zyklotron nicht ganz stabil. Vielleicht kann ich es mit einem Kreisel stabilisieren? Es müsste sowieso kardanisch aufgehängt werden...“
„Alex“, unterbrach ich ihn, „entwickle deine Schatten-Schleuder ruhig weiter. Scheint eine vielversprechende Sache zu sein. Ich bin auch gerne bereit, sie zu testen – aber erst, wenn du mir garantierst, dass sie zuverlässig läuft. Und ganz bestimmt nicht auf dem Fahrrad.“

© P. Warmann