Der Engel.

Es war an einem Sonntagmittag, als ich aus dem Waschraum auf den Gang trat. Das Institut war wie ausgestorben, nur ich war hier, weil ich eine Messung überwachen musste, Teil meiner Doktorarbeit. Ich ging den langen, langen Gang wieder hinunter auf mein Zimmer zu, wo die Messung lief.
Da schwebt plötzlich ein Typ durch die Decke. Ich meine, wir sind hier im fünften Stock, darüber ist nur noch das Dach, und durch das kam er heruntergeschwebt, einfach so durch die Decke, und landete keine drei Meter vor mir.
„Fürchte dich nicht“, verkündete er. „Ich bin ein Engel.“
Ein Engel? Er trug seine schwarzen Locken ziemlich lang, hatte schwarze Lederjeans an und eine wirklich fiese Lederjacke, dito schwarz. Immerhin, sein T-Shirt, das irgendwie wie Seide aussah, war von einer Art Kirchenlila. Dazu trug er eine von diesen verspiegelten Sonnenbrillen, die er jetzt abnahm und in die Jacke steckte. Flügel hatte er auch keine.
„Ein Engel?“ sagte ich skeptisch. „Sie sehen eher aus, als kämen Sie von der Konkurrenz.“
„Was haben Sie erwartet? Wallendes Goldhaar und ein bodenlanges Nachthemd? Danke, so gefalle ich mir wesentlich besser. Ist auch praktischer für den Job.
Übrigens, wo kann man hier einen anständigen Kaffee bekommen?“
„Unten vor dem Hörsaal gibt es einen Automaten, aber die Brühe ist zum brechen. Kommen Sie doch mit in mein Zimmer, dann gebe ich Ihnen eine Tasse ab.“
„Herzlichen Dank“, sagte er, und ging mit mir.

Ich regelte kurz die Messung nach, dann goss ich uns beiden Kaffee ein.
„Was macht ein Engel hier im Institut?“ wollte ich wissen.
„Ach, ich habe hier einen Auftrag. Ist aber noch etwasZeit bis dahin.“
„Was für eine Art Engel sind Sie eigentlich? Bote? Schutzengel?“
„Todesengel. Der Kaffee ist sehr gut.“
Todesengel? Möglicherweise erklärte das sein Outfit. Aber ... ich musste schlucken.
„Ich hoffe, Sie sind nicht meinetwegen hier?“
„Oh nein. Ich erwarte einen von der Gegenseite.“
„Sie meinen ...“ Ich deutete mit dem Daumen Richtung Boden.
„Ja, genau.“ Er stand auf. „Sie bekommen Besuch. Ich verschwinde lieber, er muss mich nicht sehen.“
Er stellte seinen Becher ab und trat durch die Wand zum Nachbarzimmer, einfach so. Weg war er.
Im gleichen Augenblick klopfte es. „Ist offen“, rief ich, und die Tür ging auf. Es war Tim Kreutzmann, auch ein Doktorand hier im Haus. Ich mochte ihn nicht besonders – er war arrogant und versuchte immer, andere seine Arbeit machen zu lassen. Dumm war er aber ganz bestimmt nicht.
„Ich muss was im Gerber nachsehen“, sagte er. Er meinte ein achtzehnbändiges Referenzwerk, das in meinem Zimmer steht, weil nirgendwo sonst dafür Platz ist.
„Mach nur“, meinte ich und kümmerte mich wieder um meine Messung.

Kreutzmann blättert also im Gerber, und ich greife nach meinem Kaffeebecher. Da kommt plötzlich ein schwarz gekleideter Arm durch die Wand und knallt mir aufs Handgelenk. Ich lasse den Becher fallen, der geht zu Bruch, Kaffee schwappt über meine neuen Turnschuhe.
„Ach, Mist“, sage ich und bücke mich, um die Scherben aufzusammeln. Was ist das? In der Kaffeelache treiben zwei kleine weiße Tabletten und lösen sich langsam auf. Wie sind die in meinen Kaffee gekommen?
„Scheiße“, sagt Kreutzmann laut und deutlich. „Wieso konntest du den Kaffee nicht trinken, dann wärst du jetzt tot und die Sache wäre erledigt.“
Ich kann nur stammeln: „Du wolltest ... du wolltest ... wieso?“
„Ja, ich wollte. Wieso? Keine Ahnung, Befehl von ganz oben. Besser gesagt, von ganz unten, direkt aus der Hölle.“
Er grinst und zeigt seine Zähne. Sollten Menschen solche spitzen Eckzähne haben?
„Heißt das, du hast dich dem Teufel verschrieben?“ Ich kann es nicht fassen.
„Ja, ich bin ein Jünger Satans. Der Chef persönlich will deinen Tod, frage mich nicht warum. Na gut, wenn nicht so, dann anders.“
Er schnippt mit den Fingern, und ich kann mich nicht mehr bewegen. Wie erstarrt stehe ich da und sehe ihn an. Er zieht etwas aus seinem Gürtel, eine Art langer Nadel.
„Dann mache ich es eben hiermit. Die stoße ich dir hinten in den Nacken und von unten ins Gehirn. Morgen werden sie dich finden: Tod durch Gehirnblutung. Wie tragisch, er war ein so vielversprechender junger Mann.“
Kreutzmann kommt mit der Nadel auf mich zu. Ich würde gern schreien, aber ich kann nicht. Dann...
Eine Stimme sagt „Nein.“ Der Engel tritt aus der Wand neben mir. Kreutzmann macht zwei Schritte zurück und fragt verblüfft: „Wer sind Sie denn?“
Der Engel sieht ihn nur an, tut nichts, sagt nichts. Kreutzmann wird blass. „Nein“, stammelt er, entsetzt. „Nein, nicht ... ich ... Meister hilf! Aah ... aargh...“ Er greift sich ans Herz, röchelt, bricht zusammen, zuckt noch einmal, liegt dann still.
„Tut mir leid“, sagt der Engel und berührt meine Stirn. Augenblicklich kann ich mich wieder bewegen. „Ich musste abwarten, ob er es wirklich tun würde – bloße Absicht reicht nicht, um jemanden zur Hölle zu schicken. Geht es wieder?“
Ich nicke.
„Ich packe ihn in den Waschraum“, meint der Engel und lädt sich Kreutzmann auf die Schulter. „Sie sollten in etwa einer Viertelstunde den Notarzt rufen. Herzversagen, wie tragisch, er war ein so vielversprechender junger Mann.“
Ich gehe mit und sehe zu, wie der Engel Kreutzmann entsorgt.
„Dann waren Sie seinetwegen hier?“ will ich wissen.
„Ich war Ihretwegen hier“, stellt er klar.
„Meinetwegen? Was ist mit mir? Der da unten will meinen Tod, und Sie kommen extra, um das zu verhindern? Warum?“
„Nun, Sie werden einer der bedeutendsten Forscher des 21. Jahrhunderts werden und eine Entdeckung machen, die die beiden größten Probleme der Menschheit löst. Es war mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen.“
Er hält mir die Hand hin. Völlig verdaddert schüttle ich sie.
„Na gut, ich muss weiter. Der nächste Termin wartet.“ Er hebt ab und schwebt Richtung Decke. Kurz bevor er verschwindet, ruft er mir noch zu: „Wir sehen uns dann!“
Ich wünschte wirklich, er hätte das nicht gesagt.

© P. Warmann