Ich sehe ihn, als ich die Brücke überquere, über die der Weg
zum See hinunter führt. Es ist dunkel, keine Straßenbeleuchtung
hier, und er versucht sich außer Sicht zu halten. Er drückt sich
in die Büsche, daher sehe ich ihn nicht deutlich genug, nicht einmal
ich mit meinen Nachtaugen, und halte ihn zuerst für einen Hund. Nicht
gut. Ich habe gewisse Probleme mit Hunden, oder besser, sie haben gewisse
Probleme mit mir. Soweit ich weiß, verursache ich ihnen Migräne
kein Wunder, dass sie mich nicht mögen.
Er ist aber kein Hund. Er ist ein Wolf, und als er sich mir zeigt, als er
vor mir auf den Weg tritt, da macht es bei mir klick. Ich hätte
es wissen sollen. Schon seit Tagen berichten die Zeitungen von einem Wolf,
der sich hier in der Gegend herumtreibt und ungerührt mitten durch Dörfer
und Städte schlendert. Unnatürliches Verhalten, haben
sie geschrieben, und dass er zu groß und zu kräftig ist für
einen europäischen Wolf. Er ist auch kein europäischer Wolf. Er
ist nicht einmal ein irdischer Wolf.
Was er mir bestätigt, indem er mich anspricht. War ganz schön
schwierig, dich zu finden, sagt er.
Ich erkenne die Stimme. Leon hier, in dieser Gestalt und offensichtlich
auf der Suche nach mir? Das ist nicht gut.
Die ganzen Gerüche hier überlagern deine Witterung, und ich
habe die Nase voller Abgase. sagt er und niest. Und außerdem
riechst du nach Mensch.
Ich muss lachen, trotz meiner Besorgnis. Was erwartest du nach mehr
als drei Jahren in der Menschenwelt? Du hast übrigens für einigen
Aufruhr gesorgt mit deinem Auftritt als Wolf. Nicht gerade die unauffälligste
Gestalt, die du annehmen konntest.
Er knurrt, ein perfektes Wolfsknurren. Was hätte ich denn machen
sollen? Wenn ich mich in meiner wahren Gestalt gezeigt hätte, wäre
der Aufruhr noch verdammt viel größer gewesen. Ich brauchte etwas
mit scharfen Zähnen und einem guten Geruchssinn, und die haben hier wirklich
keine besondere Auswahl an einigermaßen großen Raubtieren mehr.
Was hätte ich denn sonst wählen sollen? Vielleicht ein Frettchen?
Ich muss lächeln. Warum nicht ein Fuchs? Einen Hund schlage
ich ihm gar nicht erst vor, ich habe nicht die Absicht, unsere Freundschaft
aufs Spiel zu setzen.
Er schnaubt. Ein Fuchs? Heiße ich Raymond?
Jetzt muss ich wirklich lachen, dann werde ich wieder ernst. Leon, das
hier ist die Menschenwelt. Als Mensch hättest du alle Möglichkeiten
und würdest am wenigsten auffallen.
Bah! Er schüttelt sich. Dann schon lieber ein Frettchen.
Du weißt genau, was ich von der Menschengestalt halte.
Dazu sage ich nichts. Es ist auch nicht wirklich wichtig. Leon, so sehr
ich mich freue, dich zu sehen, ich weiß auch, dass du gar nicht hier
sein solltest. Du bist nicht als offizieller Bote gekommen, und ein spontaner
Besuch bei einem alten Freund ist das auch nicht. Was ist los?
Es gibt etwas, das du wissen solltest, sagt er und klingt dabei
so ernst, dass ich erschrecke. Leon derart ernst zu sehen ist so ungewohnt,
dass ich weiß, dass etwas sehr einschneidend schlimmes geschehen ist.
Lass uns runter zum See gehen, sage ich. Auf dem Uferweg
ist um diese Zeit kein Mensch, da können wir ungestört reden.
Keiner von uns sagt etwas, während wir am Seeufer entlang gehen. Weder
seine noch meine Schritte verursachen ein Geräusch auf dem Kiesweg. Schließlich
kommen wir zu einem Aussichtspunkt, und ich stütze mich auf die Lehne
einer der Bänke und blicke über den See. Ich schweige und sehe in
die Ferne, in dieser viel zu hellen Nacht. Die Menschen fürchten sich
noch immer vor der Dunkelheit, denke ich, und halten sie mit Licht und Lampen
von sich fern. Ich werde mich hier nie heimisch fühlen.
Leon wartet, ob ich etwas sagen werde, aber dann spricht er selbst.
Die Prinzessin..., sagt er, und dann weicht er einen halben Schritt
zurück, als ich zu ihm herumfahre. Ja, ich weiß, ich weiß,
kein Wort mehr über sie, und so weiter, aber ich muss von ihr sprechen.
Darum geht es nämlich.
Ich hole tief Luft, sage nichts und nicke.
Ahh ... Die Prinzessin hat sich verlobt.
Ich schließe die Augen, und meine Hände krampfen sich um die Lehne
der Bank. Etwas steigt in mir auf, eine dunkle Woge, die ich zurückhalten
muss und nicht kann. Sie quillt auf und strömt durch mich hindurch, füllt
mich gänzlich aus und will überquellen, ausströmen und aus
mir herausgreifen. Das darf ich nicht zulassen. Ich muss sie zurückhalten,
und das schaffe ich auch, mit Mühe und auch nicht gänzlich. Etwas
geht durch die Bäume wie ein dunkler Wind, und eine große Trauerweide
neben mir senkt sich langsam über den See, bricht dann fast lautlos in
Stücke und versinkt im Wasser.
Ach, verdammt, sage ich und betrachte bedauernd die Baumtrümmer.
Das habe ich nicht gewollt.
Mach dir nichts draus, die war schon morsch, sagt Leon freundlich
und zuckt dann leicht zusammen, als ich ihn ansehe. Er steht immer noch neben
mir, was für mehr Vertrauen in meine Selbstbeherrschung spricht, als
ich für angebracht halten würde.
Sebastian..., sagt er, und ich nicke.
Ich habe mich unter Kontrolle. Erzähle einfach weiter.
Ah ... also, die Prinzessin ist verlobt. Mit Prinz Klingklong
wie ist noch sein richtiger Name? Prinz Rexroy, genau König Güldensterns
Sohn. Du hast ihn nie kennengelernt, oder? Ziemlich ansehnlicher Bursche,
gut gebaut wer ständig so viel Goldschmuck mit sich rumschleppt,
kann sich das Hanteltraining sparen. Und lange blonde Locken hat er, mit Goldglöckchen
dran, du weißt schon, davon hat er seinen Namen.
Ich werfe Leon wieder einen Blick zu, und er schüttelt sich.
Äh ... ja, also, der Prinz kam an den Hof, und keine zehn Tage
später waren er und die Prinzessin verlobt. Dafür hatten natürlich
ihre Eltern gesorgt... Sie selbst war relativ... wie soll ich es sagen? Sie
hat es akzeptiert. Sie hat zu mir gesagt: Was kann ich machen? Irgendwann
werde ich jemanden heiraten müssen, und ich hätte es wesentlich
schlechter treffen können. Er ist dumm, aber immerhin nett.
Also der ideale Ehemann, sage ich ironisch.
Naja, aber sie hat Recht. Es besteht im Moment wirklich keine große
Auswahl an möglichen Ehemännern für sie im Märchenland.
Ich meine, Prinz Jason ist Witwer, und so, wie seine Ehe gelaufen ist... Fürst
Jankl ist ein echter, zertifizierter Vollidiot, was keiner besser weiß
als ich, und Prinz Bodo von Unterberg hat sich gerade mit der schönen
Prinzessin Rosabella verlobt.
Im Ernst? Er reicht ihr doch höchstens bis ans Knie.
Nein, schon bis an die Hüfte er ist groß für
einen Zwerg. Außerdem ist da wahre Liebe im Spiel. Und was die Prinzessin
angeht: Eine Ehe zwischen der einzigen Tochter des Wahren Märchenkönigs,
des mächtigsten Königs im ganzen Märchenland, und dem einzigen
Sohn und Thronfolger des reichsten Königs liegt doch nahe.
Ich blicke wieder über den See, der still vor mir liegt. An einem anderen
Ort, denke ich, wäre unter meinem Blick der See verdampft, der Wald in
Flammen aufgegangen, und ein Sturmwind hätte die Asche über das
Land getragen, aber hier kann ich nicht auf diese Weise zeigen, was ich fühle.
Ich will es auch gar nicht. Es würde nicht das geringste ändern,
es wäre nur eine leere dramatische Geste.
Also wird demnächst eine Märchenhochzeit stattfinden,
sage ich leise, mit Fanfaren und Girlanden und flatternden Bannern,
mit einem Bankett für dreihundert Personen und Freibier und Kuchen für
das Volk.
Ah... nein, die Hochzeit war schon.
Ich starre Leon an.
Ja, genau das ist doch der Grund, warum ich hier bin. Die Hochzeit hat
stattgefunden, das heißt, teilweise. Alle waren im großen Krönungssaal
versammelt, und der Oberhofzeremonienmeister war gerade an dem Punkt angekommen,
wo er fragt, ob jemand etwas gegen die Hochzeit einzuwenden hat. Und in diesem
Moment fliegt das halbe Dach weg, und eine Nachthexe kommt von oben reingeschwebt.
Sie kreischt in einem Ton, dass ich das Gefühl habe, mir schraubt einer
die Nackenwirbel zusammen und ich stehe da und kann nichts tun, weil
ich nur so einen stumpfen Prunkspeer in der Hand habe.
Einen Speer in der Hand?
Ja, Ehrenwache in Menschengestalt, Befehl vom König. Jedenfalls,
wie du dir wahrscheinlich schon gedacht hast, spricht die Hexe einen Fluch
aus. Die Prinzessin ist schon seit langer Zeit jemandem versprochen,
kreischt sie, und deshalb wird weder er noch sonst jemand sie bekommen!
Und Rumms! lässt sie den Fluch los.
Wir gingen alle in einer schwarzen Wolke zu Boden, und als der Rauch sich
verzog, war die Nachthexe natürlich verschwunden. Die meisten Leute kamen
schnell wieder auf die Beine, nur den Prinzen hatte es schlimmer erwischt.
Er lag drei Tage wie tot, aber dann kam er wieder zu sich. Und die Prinzessin
natürlich. Leon seufzt. Auf sie war der Fluch gezielt, und
er hat sie mit voller Wirkung getroffen. Sie ist nicht wieder aufgewacht
erstarrt und gebannt, so liegt sie nun da, und niemand kann sie aufwecken.
Seitdem sind sechs Wochen vergangen.
Ich sage nichts ich kann einfach nichts sagen. Leon spricht weiter.
Ihre Eltern haben natürlich alles versucht. Sie haben jeden Zauberer
im Märchenland kommen lassen, egal ob gut oder böse, jede Fee, jeden
Druiden mit Blumen im Haar und jede Weise Frau. Aber niemand konnte ihr helfen.
Niemand hat herausgefunden, wie man die Prinzessin wieder aufwecken kann.
Schließlich ist sogar die Holde Dame selbst herabgestiegen, aber selbst
sie hat keine Lösung gefunden. Sie konnte uns nur sagen, dass es wirklich
der Fluch einer Nachthexe ist und dass es nur eine Person gibt, die ihn aufheben
könnte. Aber selbst sie weiß nicht, wer es ist und was man machen
müsste.
Ich versuche meine Gedanken auf praktische Fragen zu richten auf alles,
das vielleicht hilfreich sein könnte. Das hält mich davon ab, daran
zu denken, was ihr zugestoßen ist ihr, die ich immer noch liebe.
Habt ihr versucht, meinen Onkel um Rat zu fragen? Er ist immerhin der
Dunkle König, und die Nachthexen sind Geschöpfe unseres Reiches.
Vielleicht kann er diejenige finden, die den Fluch ausgesprochen hat, und
sie zwingen, uns zu helfen.
Leon nickt. Das Problem ist nur, dass das Dunkle Reich damals, als du
in die Verbannung geschickt wurdest, alle Verbindungen zu uns abgebrochen
hat. Sie haben die Grenzen geschlossen, und man kann den Nachtwald nicht mehr
durchqueren. Nicht, dass wir das nicht versucht haben, aber du weißt,
wie das läuft: Wir sind stundenlang einem Weg gefolgt, der ganz offensichtlich
in die richtige Richtung führte, und dann biegt er plötzlich rechts
ab, und wir stehen wieder am Waldrand. Wir sind nicht einmal in die Nähe
der Tore gekommen.
Du sagst wir?
Ja. Schließlich bin ich der persönliche Leibwächter
der Prinzessin, und ich wollte mehr für sie tun, als nur vor ihrem Zimmer
Wache zu halten. Ich habe mich freiwillig gemeldet, aber wir hatten keine
Chance. Der Nachtwald hat uns nicht durchgelassen.
Ich überlege. Ich kann dir mein Siegel mitgeben, damit müsstest
du es durch den Wald schaffen. Allerdings kann ich dir nicht versprechen,
dass mein Onkel euch empfängt. Er ist weder auf euch noch auf mich gut
zu sprechen wegen der Sache damals.
Danke, sagt Leon. Das könnte uns eine Hilfe sein, aber
ich bin hauptsächlich aus einem anderen Grund gekommen. Ich wollte dich
warnen.
Ich bin nicht überrascht. Lass mich raten: Sie glauben, dass ich
hinter der Sache stecke. Das wundert mich nicht Nachthexen sind Wesen
aus dem Dunklen Reich, und als sie gesagt hat die Prinzessin ist einem
anderen versprochen, müssen sie sofort an unsere heimliche Verlobung
damals gedacht haben. Aber wir haben die Verlobung gelöst, wie du weißt,
und Nachthexen arbeiten für jeden, der ihren Preis zahlen kann. Leon,
ich war es nicht.
Er sieht mir direkt in die Augen. Ich weiß. Ich wusste es schon,
als diese Hexe den Fluch aussprach. Aber sie sind davon überzeugt
nicht nur der Märchenkönig, auch die Güldensterns.
Und deshalb haben sie einen Preis auf meinen Kopf ausgesetzt?
Schlimmer. Sie haben einen direkten Kontrakt für deinen Tod ausgegeben.
An einen Eisbärkrieger.
Oh. Eisbärkrieger sind ganz sicher die stärksten Kämpfer im
Märchenland. Und sie sind nicht nur stark, sie sind auch vollkommen furchtlos,
dabei klug und zudem noch so gut wie unempfindlich gegen jede Art von Magie.
Sie sind furchterregende Gegner, selbst für Dunkle Wesen, aber ich bin
ein Schattenprinz und das heißt, es gibt einige Dinge, die ich
einem Eisbärkrieger entgegensetzen könnte.
Um dieses Problem werde ich mich kümmern, wenn er mich aufspüren
sollte, sage ich entschlossen. Bis dahin sollten wir versuchen
herauszufinden, wie man den Fluch brechen kann. Und ich denke, ich weiß
vielleicht, wo wir ansetzen könnten. Hier in der Nähe gibt es einen
Club, in dem die Nachthexen ziemlich häufig ihre Beute suchen.
Ich sehe in den Himmel. Es ist Freitag Nacht, wir haben Neumond ...
die Chancen sind gut, dass wir eine dort finden werden.
Du meinst, sie kommen hierher? fragt Leon verblüfft und starrt
auf den ruhigen See und die friedlichen Häuser der kleinen Stadt.
Nein, nicht hierher. Der Club ist in der nächsten größeren
Stadt. Ich betrachte den Stand der Sterne, um die Uhrzeit abzuschätzen.
Lass uns zum Bahnhof gehen, in einer halben Stunde fährt ein Zug.
Allerdings hast du keine ganz günstige Gestalt für eine Bahnfahrt.
Leon grinst, was bei einem Wolf ziemlich verwegen aussieht. Ich werde
mich im Schatten halten, dann wird das schon gehen.
Wir schaffen es nicht einmal ganz bis zum Bahnhof. Ich habe einen Weg durch
Seitenstraßen gewählt, die dunkler sind und wo ein Wolf weniger
auffällt, und das rächt sich jetzt. Hier fängt er uns ab.
Er sieht natürlich nicht aus wie ein Eisbär. Für diesen Auftrag
hat er Menschengestalt angenommen, aber das bedeutet nicht, dass er weniger
gefährlich ist. Als Mensch ist er sehr groß, über zwei Meter,
mit weißblonden Haaren und Augen von der Farbe eines arktischen Himmels
blassblau und sehr kalt. Und er ist nicht mehr jung wäre
er wirklich ein Mensch, würde ich ihn auf etwa sechzig Jahre schätzen.
Das hat aber nichts zu sagen: Eisbären behalten ihre Kraft bis ins hohe
Alter, und wenn die Jahre ihn vielleicht auch etwas langsamer gemacht haben,
so wiegen die Erfahrungen, die er gesammelt hat, das mehr als auf.
Als er sich uns zeigt, bleiben wir stehen, und dann macht Leon zwei Schritte
nach vorn und stellt sich vor mich. Er knurrt nicht und fletscht auch nicht
die Zähne, aber es ist klar, dass jeder, der an mich herankommen will,
zuerst an ihm vorbei muss.
Geh mir aus dem Weg, Wölfchen, sagt der Eisbärkrieger
freundlich. Du bist kein Gegner für mich.
Und Leon verwandelt sich. Wesen aus dem Märchenland können sich
in der Menschenwelt nicht mehr beliebig verwandeln, aber eine Möglichkeit
bleibt ihnen immer: Sie können ihre eigentliche Gestalt annehmen.
Das macht Leon jetzt. Er gleitet in seine Originalgestalt, schnell und fast
übergangslos. Aus Wolfsgrau werden Streifen, aus Pfoten Tatzen, aus dem
Wolf ein Tiger, ein geschmeidiger, kraftvoller Tiger mit unwahrscheinlichen
grünen Augen.
Der Eisbärkrieger lächelt. Ah, das ist schon fast so etwas
wie ein richtiger Gegner, sagt er fröhlich. Aber trotzdem,
tritt zur Seite, Tigerkater. Wir haben keinen Streit miteinander.
Wenn du Streit mit ihm hast, sagt Leon freundlich, dann
hast du auch Streit mit seinen Freunden.
Du nennst ihn deinen Freund? Gehörst du nicht zur Garde des Märchenkönigs?
Manche würden dies einen Treuebruch nennen.
Und manche würden es etwas ganz anderes nennen, sagt Leon
sehr sanft. Meine Treue gehört zuerst und vor allem der Prinzessin,
und die breche ich nicht.
Der Eisbärkrieger runzelt die Stirn, geht aber nicht weiter darauf ein.
Wenn du einen Kampf willst, kannst du ihn haben, sagt er, und
dann macht er eine leichte Bewegung mit der Hand, und plötzlich hat er
Klauen. Keine echten, sondern künstliche Klauen aus brüniertem Stahl,
die er über seine Hände gezogen hat, die Arbeit einen großen
Meisterschmiedes, ein Kunstwerk, scharf und tödlich. Werwesen wählen
fast immer Waffen, die ihren naturgegebenen entsprechen.
Das seltsame ist, dass er bis auf diese Klauen überhaupt nicht wie ein
Krieger aussieht. Er trägt eine helle Hose, einen Leinenblazer und ein
blassblaues Hemd, alles von bester Qualität und ganz sicher maßgearbeitet.
Er könnte in einem Terrassencafé am See in der Sonne sitzen und
einen Espresso trinken, und er würde niemandem auffallen, höchstens
durch seine Größe. Irgendwie macht ihn genau das jetzt noch erheblich
bedrohlicher.
Leon spannt sich, und der Eisbärkrieger lockert seine Schultern. Sie
sehen sich in die Augen sie nehmen Maß.
Wartet, sage ich. Bevor wir anfangen, uns in Stücke
zu reißen, sagt mir eines: Warum greift Ihr mich an?
Der Eisbärkrieger runzelt die Stirn, und dann begreift er, dass das eine
Frage war, kein Vorwurf. Er lächelt leicht. Ich habe einen Kontrakt
mit König Ottokar vom Märchenreich über Euren Tod.
Und wie genau lautet dieser Kontrakt?
Er hebt eine Augenbraue. Nun, ich denke, Ihr habt ein Recht, das zu
erfahren. Mal sehen: Den Prinzen Sebastian von den Schatten aufzuspüren
und zu töten, wo immer er zu finden ist, wegen des Unrechts, das er der
Prinzessin Serafine durch jenen Fluch angetan hat.
Wie ist denn das formuliert? sagt Leon und runzelt die Stirn.
Ziemlich altmodisch, das stimmt, aber eindeutig genug. Und Ihr seid
doch der Prinz Sebastian, oder?
Ja, der bin ich, sage ich. Aber ich habe der Prinzessin
nichts angetan.
Bah. Ja, ich weiß, den Fluch ausgesprochen hat diese Nachthexe,
aber wenn Ihr sie dazu angestiftet habt, dann genügt das, und das wisst
Ihr.
Das stimmt, aber der Punkt ist: Er war es nicht. Sebastian ist nicht
für diesen Fluch verantwortlich, sagt Leon sehr ruhig. Und
damit ist der Grund für den Kontrakt nicht gegeben und der ganze Kontrakt
hinfällig, nicht wahr?
Der Eisbärkrieger verzieht das Gesicht. Das wäre er, ja, wenn
der Prinz unschuldig wäre. Aber warum sollte ich das glauben? Weil er
es sagt, und Ihr, sein Freund, ihm glaubt?
Nein. Weil ich es weiß. Ich wusste es schon in dem Augenblick,
als die Hexe den Fluch aussprach. Ich weiß es, weil ich weiß,
dass Sebastian die Prinzessin liebt.
Ich mache eine Handbewegung, aber Leon schüttelt den Kopf. Nein.
Ich muss jetzt davon sprechen. Er wendet sich wieder an den Krieger.
Seht Ihr, ich war die ganze Zeit dabei, seit König Ottokar vor
vier Jahren beschloss, die Beziehungen zum Dunklen Königreich zu verbessern.
Ich war damals schon der Leibwächter der Prinzessin. Prinz Sebastian
kam an den Hof, und wir haben uns angefreundet. Ich war dabei, als er das
erste Mal mit der Prinzessin sprach, und ich habe gesehen, wie sich das zwischen
den beiden entwickelt hat. Sie hat mir gesagt, dass sie ihn liebt, und er
hat über seine Liebe zu ihr mit mir gesprochen, und ich war der erste,
der erfahren hat, dass sie sich heimlich verlobt hatten. Ich habe auch mitbekommen,
wie er reagiert hat, als der König sie beide gezwungen hat, die Verlobung
zu lösen. Als Sebastian dann deswegen in die Verbannung geschickt wurde,
war ich der letzte, der drüben mit ihm gesprochen hat. Und die ganze
Zeit über habe ich nur eines gesehen: Er liebte sie. Er hat sie geliebt
und liebt sie immer noch.
Selbst, als er in die Verbannung gehen musste, hat er sich nicht dagegen gewehrt,
weil er gesehen hat, dass er die Prinzessin sonst in Schwierigkeiten bringt.
Er liebt sie.
Aber dieser Fluch war das genaue Gegenteil von Liebe. Wenn ich sie nicht
bekommen kann, dann soll sie auch kein anderer haben. Das ist nicht
Liebe, das ist Eifersucht oder Neid. Deshalb weiß ich, dass nicht
Sebastian diesen Fluch in Auftrag gegeben hat. Er betrachtet den Eisbärkrieger
aufmerksam. Und da ist noch etwas. Ihr kennt mich und meine Art. Wenn
ich denken müsste, dass er es gewesen wäre, würde ich dann
noch an seiner Seite stehen?
Nein, das würdest du nicht, Tigerkämpfer. Hm. Sagen wir, du
hast mich so weit gebracht, dass ich an der Schuld des Prinzen zweifle. Aber
das genügt nicht, damit ich den Kontrakt zerreiße und mich auf
den Heimweg mache. Dazu müsstet ihr mir beweisen, dass er unschuldig
ist.
Das sehe ich ein, sage ich. Ich mache Euch einen Vorschlag.
Wir beide sind unterwegs, um einen Weg zu suchen, wie man den Fluch aufheben
kann, und wenn uns das gelingt, finden wir wahrscheinlich auch den wahren
Schuldigen. Lasst mich das versuchen. Ihr könnt uns dabei begleiten und
mich im Auge behalten, bis die Beweise für meine Unschuld vorliegen
oder für das Gegenteil.
Er nickt. Ein Aufschub und eine Chance für Euch? Das kann ich akzeptieren.
Ich würde nur sehr ungern einen Unschuldigen töten.
Ich erzähle ihm von der Möglichkeit, ganz in der Nähe auf eine
Nachthexe zu treffen, und er stimmt zu, dass das ein guter Ansatzpunkt ist.
Wenn wir uns beeilen, erwischen wir noch den Zug, sage ich. Oder
habt Ihr ein Auto?
Er lacht. Ich? Nein. Aber einer von uns hat für eine Zugfahrt definitiv
die falsche Form.
Wir beide sehen Leon an.
Zugfahrt mit Tiger geht gar nicht, sage ich. Du musst dich
verwandeln.
Wir sind nicht im Märchenland, protestiert Leon. Ich
kann meine Gestalt nicht beliebig wechseln.
Nein, aber das hier ist die Menschenwelt. Damit steht dir eine Option
immer offen.
Ein Mensch? Er sieht uns beide an, beschließt offensichtlich,
dass es nichts bringt, sich noch länger zu sträuben, und verwandelt
sich in einen Menschen bemerkenswert schnell und glatt. Offensichtlich
hat er darin mehr Übung, als er zugeben möchte.
Ich sehe ihn mir an. Als Mensch hat er breite Schultern und schmale Hüften
und Muskeln wie ein Kampfsportler. Er trägt eine schwarze Jeans, einen
außerordentlich flauschigen Pullover in gebrochenem Weiß und eine
edle rostorange Wildlederjacke. Seine Haare sind nur einen Hauch dunkler als
die Jacke und seine Augen immer noch grün.
Der Eisbärkrieger lacht. Du bleibst bei deinen Farben, hm, Tiger?
Du hast dich auch nicht gerade weit von Weiß entfernt, gibt
Leon zurück.
Ich mag eben helle Farben, sagt der Krieger. Ich schweige. Die
einzige Farbe in meinem Kleiderschrank ist Schwarz.
Wir erreichen den Zug noch rechtzeitig. Gar nicht so wenige Menschen wollen
ebenfalls zu dieser späten Stunde noch in die Stadt. Die, die zu uns
in den Wagen steigen, gehen an uns vorüber an das andere Ende. Vielleicht
ist es ein uralter Instinkt in den Menschen, der sie spüren lässt,
was wir wirklich sind oder vielleicht sehen sie nur drei Männer,
die auf unbestimmt beunruhigende Weise überhaupt nicht zueinander passen:
ein älterer Herr in gediegener, aber freundlicher Kleidung, ein jüngerer
Mann mit flammend roten Haaren, zu bunt gekleidet (von der unglücklichen
Pulloverwahl ganz zu schweigen), der sich bewegt wie ein Kampfsportler, und
ein zweiter jüngerer, zu schlank, zu blass und ganz in Schwarz.
Auf jeden Fall entsteht um uns herum eine menschenleere Zone, was bedeutet,
dass wir uns ungestört unterhalten können. Ich erzähle ihnen,
was ich von dem Club weiß, in dem wir nach einer Nachthexe suchen wollen,
und irgendwann spreche ich Leon mit seinem Namen an.
Der Eisbärkrieger lacht. Leon? Junge, du bist ein Tiger!
Leon zuckt mit den Achseln. Es gibt keinen gängigen Vornamen, der
Tiger bedeutet. Leon kam dem noch am nächsten.
Dann sieht er den Krieger an. Und wie heißt du?
Der zögert einen Augenblick. Rupert, sagt er dann.
Leon wirft einen Blick auf den Siegelring, der an der linken Hand des Kriegers
sitzt (rechts trägt er übrigens einen Ehering). Ich hatte den Ring
auch schon bemerkt, kann aber von hier aus das Wappen nicht erkennen. Leon
hat natürlich ganz andere Augen.
Du bist Sir Rupert Schildbrecher? Der den bösen Zauberer Nepomuk
besiegt und dabei mit seiner Armee von gepanzerten Besenkriegern aufgeräumt
hat? Der die Hexe von Endor drei Köpfe kürzer gemacht hat? Und der
den Irren Eberhardt und seine Bande wilder Waldwutzen mit nichts als einem
Bratspieß erledigt hat?
Ja, ja und ja. Die Schweinebacken schmeckten übrigens gar nicht
schlecht als Spießbraten. Und, ja, ich habe auch den menschenfressenden
Riesen Hrungir mit einem Tapeziertisch erschlagen er war gerade dabei,
seine Höhle zu renovieren.
Aber das sind alles alte Geschichten. Eigentlich hatte ich mich schon vor
ein paar Jahren aus dem Geschäft zurückgezogen ich habe mir
von den Honoraren im Nordland eine Lachszucht aufgebaut, alles vom Feinsten.
Außerdem handle ich noch mit anderen arktischen Spezialitäten,
Rentierschinken, Moosbeerenlikör, Robbenspeck, die ganzen leckeren Sachen.
Aber dann hat sich der Märchenkönig bei mir gemeldet und wollte
unbedingt, dass ich diesen Job übernehme. Das ist ein Angebot, das man
nicht ablehnt, und außerdem wurde mir das Feinkostgeschäft langsam
langweilig.
Moment, sagt Leon und sitzt plötzlich kerzengerade wie eine
Katze, die eine Maus gehört hat. Dieser Kontrakt ... wer hat den
mit dir geschlossen?
Das war der Märchenkönig selbst. Beim Honorar haben aber die
Güldensterns die Hälfte zugeschossen.
Das ist seltsam, sagt Leon. Selbst wenn sie annehmen, dass
Sebastian der Schuldige ist... Ich kann mir gerade noch vorstellen, das König
Ottokar so wütend ist, dass er Sebastian tot sehen will, obwohl das eigentlich
gar nicht zu ihm passt. Aber überlegt mal: Das größere Problem
ist doch der Fluch. Sie müssten eigentlich davon ausgehen, dass Sebastian
der einzige ist, der weiß, wie man ihn aufhebt. Und dann geben sie dir
den Auftrag, ihn einfach umzubringen?
Das ist wirklich seltsam, sagt Sir Rupert nachdenklich. So
langsam frage ich mich, was wirklich hinter der ganzen Sache steckt. Bah,
ich hoffe, das ist nicht eine von diesen Hofintrigen, wo am Ende keiner mehr
weiß, wer nun eigentlich was gegen wen hatte und ein Dutzend Unschuldiger
sterben muss. Gib mir einen Amok laufenden Drachen, gib mir einen durchgedrehten
Zauberer, aber verschone mich mit solchem Mist!
Da hast du verdammt Recht, sagt Leon lebhaft. Erinnert ihr
euch noch an die Geschichte mit Fürst Jankl? Sein mieser Stiefbruder
hatte ihn ausgebootet und den Thron an sich gerissen. Also belagern wir mit
einem Heer dessen Burg, ich schwimme durch den von Piranhas verseuchten Burggraben,
klettere die Wehrmauer hoch, schlage mich im Hof mit der halben Leibgarde
herum und werde viermal verwundet, bevor ich das Haupttor öffnen kann.
Und dann? Ja, Fürst Jankl kehrt auf den Thron zurück, aber was hat
das Märchenland davon? Wir haben einen brutalen Vollidioten durch einen
dekadenten Vollidioten ersetzt. Als Geschichte war das ein Totalausfall.
Solche Geschichten will doch schon seit hundert Jahren niemand mehr
hören, brummt Sir Rupert.
Sag das nicht, meine ich. So etwas kommt gerade wieder groß
in Mode. Seht euch doch an, wie wild die Menschen auf Game of Thrones
sind.
Game of Thrones ist Dallas mit Schwertern, brummt
Sir Rupert verächtlich.
Ja, aber es spielt in einem phantastischen Reich, gebe ich zu
bedenken. Solche Geschichten wirken sich immer auf das Märchenland
aus. Ich fürchte, wir werden in der nächsten Zeit noch einiges mehr
an derartigen Geschichten erleben.
Solange ich da nicht mit reingezogen werde..., grummelt Leon,
aber ich denke, das Sir Rupert vielleicht Recht hat und wir tatsächlich
schon mittendrin sind.
Der Zug bringt uns an unser Ziel, vom Bahnhof aus ist es nur ein kurzes Stück
Weg bis zu dem Club. Ich war schon dort, aber nur einmal, ganz am Anfang meiner
Verbannung, als mich ein paar Vertraute von dieser Seite dorthin mitgenommen
hatten. Es hatte mir nicht gefallen, deshalb ist es bei dem einen Mal geblieben,
aber immerhin finde ich mühelos den Weg.
Vor dem Club halten wir eine kurze Lagebesprechung ab.
Ich muss dort reingehen, sage ich, weil ihr sie in ihrer
angenommenen Gestalt vielleicht nicht erkennen würdet.
Dann gehe ich mit, sagt Sir Rupert und lächelt leicht. Ich
weiß, dass er damit andeuten will, dass er mich nicht aus den Augen
lassen wird.
Ich kann draußen bleiben und sie abfangen, kein Problem,
sagt Leon. Nur... Sie ist eine Nachthexe, und im Gegensatz zu euch bin
ich nicht immun gegen ihre Magie.
Sie hat keine aktiven magischen Kräfte, solange sie auf dieser
Seite ist, beruhige ich ihn, und Leon grinst. Dann geht rein und
schickt sie mir raus, sagt er.
In den Club zu kommen erweist sich als etwas schwieriger als gedacht, denn
eine Art Torwächter hält uns auf. Er versucht Sir Rupert den Zutritt
zu verwehren ich verstehe nicht ganz, warum, es hat wohl etwas mit
seiner Kleidung zu tun. Sir Rupert beendet die Diskussion, indem er den Mann
beiseite stellt.
Drinnen empfängt uns unangenehme und viel zu laute Musik. Ich spüre
fast sofort die Gegenwart einer Nachthexe und versuche sie zu entdecken. Das
ist nicht ganz leicht, denn der Club ist ziemlich gut besucht. Auf der Tanzfläche
bewegen sich Menschen rhythmisch unter blitzenden Lichtern hauptsächlich
Menschen, aber ich erkenne auch ein paar Nachtwesen, darunter einen Irrwisch,
der nach seinem eigenen Rhythmus tanzt, und zwei kleine Echsenwesen in Menschengestalt,
die aussehen, als trügen sie Lackklamotten und sich verliebt ins Ohr
züngeln.
Dann entdecke ich die Nachthexe. Sie steht an einer Art Theke und hat ein
Glas mit einem rot schimmernden Getränk in der Hand, das aber wahrscheinlich
kein Blut ist. Ich weise auf sie.
Sir Rupert knurrt. Die? Ich hätte sie tatsächlich nicht als
Nachthexe erkannt vielleicht aus der Nähe am Geruch. Weshalb ist
sie überhaupt hier?
Sie holt sich einen kleinen Snack. Sie betätigt sich als Sukkubus,
sie verführt Männer und stiehlt ihnen etwas von ihrer Lebenskraft.
Beute findet sie hier ja genug.
Wir sprechen uns kurz ab, dann steuert Sir Rupert direkt auf sie zu. Er ist
nicht zu übersehen, nicht nur durch seine Größe er
passt hierher wie ein Eisberg in einen Rosengarten. Sie wird ihn als einen
Eisbärkrieger auf der Jagd erkennen, und ich vermute, dass sie dann versuchen
wird, sich unauffällig zu verdrücken. Nachthexen gehen Ärger
grundsätzlich aus dem Weg.
Genau so kommt es auch: Sie bemerkt Sir Rupert und verschwindet in den Schatten
am Rande des Raumes. Dann gleitet sie unauffällig auf den Ausgang zu.
Wir folgen ihr langsamer und vertrauen auf Leons Fähigkeiten als Jäger.
Draußen sind weder die Nachthexe noch Leon zu sehen, aber ich spüre
ihre Präsenz, und ich vermute, Sir Rupert wittert Leon. Jedenfalls steuern
wir beide auf den gleichen dunklen Durchgang zwischen zwei Häusern zu.
Dort finden wir die beiden.
Leon hat die Nachthexe fest im Griff und hält ihr ein Messer an die Kehle,
einen kleinen Dolch mit einer gebogenen, sehr spitzen Klinge. Ich muss an
eine Tigerkralle denken wie gesagt, Werwesen wählen Waffen, die
ihren natürlichen entsprechen.
Ich betrachte die Hexe. Sie trägt ein Kleid, ein schwarzes natürlich,
das hauptsächlich aus Rüschen, Spitze und am Oberkörper aus
komplizierten Verschnürungen zu bestehen scheint, und dazu geschnürte
Stiefel. Ihr Gesicht ist auf Menschenart bemalt, was ich eher unvorteilhaft
finde, aber männlichen Menschen könnte es gefallen.
Erstaunlicherweise wirkt die Hexe nicht besonders beunruhigt, auch nicht,
als sie Sir Rupert bemerkt, aber dann sieht sie mich. Sie zuckt zusammen und
sagt: Scheiße, der Dunkle Prinz. Dann fängt sie sich
wieder. Was soll das? fragt sie und klingt eher genervt als besorgt.
Ich stehe unter dem Schutz des Dunklen Herrschers, also warum hetzt
du mir diese Typen auf den Hals?
Eine von euch hat die Prinzessin mit dem Fluch belegt, sagt Leon,
und ich kann spüren, wie die Wut in ihm brodelt. Wir möchten
wissen, welche von euch es war.
So eine Frage muss ich nicht beantworten, sagt sie. Ich
werde keine von meinen Schwestern reinreißen.
Du kannst es uns freiwillig sagen, erklärt Leon, und seine
Stimme ist seidenweich, aber schärfer als sein Dolch, oder wir
bekommen es auf andere Weise aus dir heraus.
Das kannst du nicht zulassen, protestiert sie und meint damit
mich. Ich stehe unter deinem Schutz. Du kannst nicht einfach den Pakt
brechen.
Du solltest nicht gerade mich um Schutz angehen, sage ich, aber
ich weiß, dass sie Recht hat. Es gibt eine Verpflichtung zwischen den
Nachthexen und den Herrschern des Dunklen Reiches, und ich kann sie nicht
einfach willkürlich brechen jedenfalls kann ich nicht eine von
ihnen von einem wütenden Tiger durch die Mangel drehen lassen, nur weil
sie etwas weiß und es nicht sagen will. Und das ist der Moment, in dem
ich merke, dass hier etwas nicht stimmt.
Nachthexen kennen keine Freundschaft oder Zuneigung. Sie sind zu so etwas
überhaupt nicht fähig. Ja, die Schwestern (alle Nachthexen betrachten
sich als Schwestern) halten zusammen, aber keine von ihnen würde sich
selbst in Schwierigkeiten bringen, um einer anderen zu helfen. In der Gefahr
muss jede selbst sehen, wie sie ihren Kopf rettet.
Was diese Nachthexe macht, ist also völlig untypisch. Und warum hat sie
die Bedrohung durch einen erheblich verärgerten Tiger und einen Eisbärkrieger
eher gelassen genommen und ist erst erschrocken, als sie mich sah? Das passt
nicht zusammen es sei denn...
Warte, sage ich zu Leon. Wir haben die wichtigste Frage
noch gar nicht gestellt. Ich sehe die Nachthexe an. Warst du es,
die den Fluch auf die Prinzessin gelegt hat?
Sie zuckt zusammen, und ihr Blick huscht auf der Suche nach einem Ausweg gehetzt
hin und her.
Warst du es? frage ich noch einmal, und sie weiß, dass sie
mich nicht anlügen kann auch das ist Teil des Pakts.
Ja, verdammt, quetscht sie zwischen zusammengebissenen Zähnen
hervor.
Ach, sagt Leon sehr leise, und ich spüre die Wut in ihm hochkochen,
aber seine Hand zittert nicht.
Dann dreht sich Sir Rupert mit einem Ruck zu mir um. Das ist schon seltsam,
sagt er und seine Stimme klingt eisig. Ganz zufällig gibt es in
der Nähe des Ortes, an den du verbannt wurdest, ein Nachtwesen-Nest,
und ganz zufällig finden wir genau dort die Hexe, die die Prinzessin
verflucht hat.
Das ist kein Zufall, sage ich. Der erste Teil auf jeden
Fall nicht: Dies ist einer der Orte in der Welt der Menschen, den die Nachtwesen
schon seit Jahrhunderten besuchen. Wir haben Verbündete hier, die mir
geholfen haben, als ich in die Verbannung ging. Deshalb habe ich mich in der
Nähe niedergelassen. Und ich glaube auch nicht, dass es ein Zufall war,
dass mein Gegner genau diese Nachthexe für den Fluch angeworben hat.
Er wusste, dass das den Verdacht gegen mich noch verstärken würde.
Das mag sein, sagt Sir Rupert, und seine Stimme klingt jetzt wieder
gelassen. Ich frage mich, wie kurz er davor stand, seinen Mordauftrag doch
noch auszuführen.
Was machen wir jetzt? fragt Leon.
Das hier ist nichts, was wir drei auf einem Hinterhof erledigen können,
sage ich nachdenklich. Ich denke, wir sollten sie mitnehmen, zurück
ins Märchenland gehen und dort König Ottokar um eine Untersuchung
bitten. Jetzt, wo wir die Hexe gefunden haben, können wir sie befragen
und so vielleicht die ganze Sache aufklären. Und ich könnte meine
Unschuld beweisen.
Eine Untersuchung vor dem König? sagt Sir Rupert. Damit
wäre ich einverstanden.
Auch Leon nickt, und ich sehe, dass die wilde Wut aus seinen Augen verschwunden
ist. Die Hexe allerdings protestiert: Das könnt ihr nicht machen.
Der König lässt mich köpfen! Dann stutzt sie. Obwohl
... hm, vielleicht doch ... ja, gut, nehmt mich mit rüber.
Ups, sagt Leon. Drüben bekommt sie ihre Kräfte
zurück, und dann kann ich sie nicht mehr halten.
Das stimmt, gebe ich zu. Gut, dann werde ich sie bannen.
Das kannst du nicht, sagt die Nachthexe höhnisch. Du
hast hier in der Verbannung genau so wenig Zauberkräfte wie ich.
Ich muss lächeln. Offensichtlich hast du das Kleingedruckte nicht
gelesen. Ich meine die genauen Bedingungen meiner Verbannung. Dort heißt
es Solange er sich in der Verbannung befindet, sind seine Kräfte
gebannt und können keine Wirkung entfalten gegen die Dinge oder Wesen
jener Welt.
Aber sie ist ein Wesen aus unserer Welt, sagt Sir Rupert und grinst.
Das Kleingedruckte, hm? Das war gerissen.
Danke, sage ich. Mein Onkel hat dafür gesorgt, dass
der Satz so formuliert wurde. Das ist eine kleine Rückversicherung gegen
Attentäter und andere böse Überraschungen aus der Heimat.
Ja, denke ich: Andere Reiche schützen sich durch Festungsmauern und Leibgarden,
aber wir hüllen uns in Schatten und Illusionen und wir haben die
besten Anwälte.
Jetzt wird es spannend, sagt Sir Rupert fröhlich. Du
musst zum zaubern deine wahre Gestalt annehmen, nicht wahr? Ich habe schon
immer wissen wollen, wie die aussieht. Man sagt, ihr seid dann geflügelte
Dämonen, mit Reißzähnen und Krallen und Fledermausflügeln.
Du solltest nicht jedes Märchen glauben, sage ich, und die
Nachthexe lacht. Das hier ist seine wahre Gestalt, sagt sie spöttisch.
Hat das keiner von euch gemerkt?
Leon runzelt die Stirn. Aber als ich dich fand...
War ich in Menschengestalt, ja, sage ich. Ich habe mich
am See verwandelt. Ich konnte es nicht verhindern, ich war zu aufgewühlt.
Ich bin enttäuscht, sagt Sir Rupert. Ein Dunkler Fürst
ist einfach nur eine andere Art Mensch?
Nein, sage ich. Erstmal sind meine Eckzähne länger
und spitzer, daran kannst du es erkennen. Vor allem aber bin ich halbmateriell.
Er hebt fragend die Augenbrauen, und ich halte ihm meinen Arm entgegen. Versuche,
mir den Arm zu brechen. Er sieht mich fragend an. Versuche es,
bestätige ich.
Er packt meinen Arm, und einen Augenblick lang spüre ich seine unheimliche
Kraft, dann fließt mein Arm wie Rauch durch seine Finger.
Ich kann entscheiden, wie fest ich sein möchte, sage ich,
von solide und körperlich bis zu verwehendem Dunst. Und jetzt sollten
wir zur Sache kommen.
Ich berühre mit drei Fingern die Stirn der Nachthexe und sage: Im
Namen der Schatten, sei gebannt.
Dann erkläre ich Leon, dass er sie loslassen kann. Als er es tut, bleibt
sie einfach stehen und funkelt mich wütend an. Sie hat keine Wahl, als
von jetzt an dorthin zu gehen, wohin ich sie führe.
Wir öffnen ein gemeinsames Tor in unsere Welt und gehen hinüber.
Als wir im Hof des Schlosses des Märchenkönigs auftauchen, verursachen
wir natürlich ein größeres Durcheinander. Umzingelt von der
Schlossgarde, die ihre Schwerter und Piken auf uns richtet, und einem äußeren
Ring aus tuschelnden Hofdamen, gähnenden Küchenjungen und Hufschmieden
im Nachthemd (es ist hier genauso spät wie in der Welt, aus der wir kamen)
versuche ich zu erklären, warum ich hier bin. Also sage ich zuerst einem
Gardisten, dann seinem Hauptmann und schließlich dem Geheimschreiber
des Königs, dass a) dies die Hexe ist, die die Prinzessin verflucht hat,
b) nicht ich dafür verantwortlich bin und c) ich eine Untersuchung durch
den König verlange. Dadurch wird das allgemeine Durcheinander aber erst
einmal nur größer.
Dann erscheint König Ottokar, und schlagartig kehrt Ruhe ein. Er wirft
einen kurzen Blick auf Leon und Sir Rupert und einen langen auf die Nachthexe,
dann wendet er sich mir zu. Ich kann nicht erkennen, wie er zu meinem Auftauchen
hier und zu der Tatsache steht, dass ich die verantwortliche Hexe im Schlepptau
habe. Er hört mich an und gewährt mir ohne zu zögern die Untersuchung.
Daraufhin entsteht eine ratlose Pause, weil nicht klar ist, wer die Untersuchung
leiten soll. Normalerweise wäre das Sache des Königs, aber er gibt
selbst zu, dass er dafür der Angelegenheit zu nahe steht schließlich
ist es seine Tochter, auf der der Fluch liegt. Und während alle noch
überlegen, wen man um den Vorsitz bei der Untersuchung bitten könnte,
erscheint aus einem Winkel des Hofes, der eben noch mit Sicherheit leer gewesen
war, die Holde Dame selbst.
Sofort herrscht tiefe Stille. Sie wendet sich an den König.
Ich werde niemanden verurteilen, sagt sie ernst. Aber wenn
diese Untersuchung dazu dienen soll, die Wahrheit aufzudecken, dann werde
ich den Vorsitz übernehmen.
Damit ist die Sache entschieden. Niemand würde jemals einen Vorschlag
der Holden Dame ablehnen, und jeder weiß, dass sie gerecht und weise
entscheiden wird.
Wir versammeln uns im kleinen Audienzsaal. Ich bin mir sicher, dass König
Ottokar von den Ereignissen aus dem Bett geholt wurde, aber man sieht es ihm
nicht an. Er trägt eine praktische Alltagskrone und wirkt ruhig und beherrscht
wie immer. An seiner Seite steht Königin Christine, seine Frau und Prinzessin
Serafines Mutter. Sie sieht so traurig und erschöpft aus, dass ich wünschte,
ihr etwas tröstendes sagen zu können. Ich weiß aber, dass
ich es besser nicht tun sollte, schließlich nehmen alle immer noch an,
ich wäre der Bösewicht in dieser Geschichte. Rund um die beiden
hat sich eine kleine Handvoll Hofdamen und königliche Sekretäre
versammelt.
Neben ihnen stehen die Güldensterns mit einer entsprechenden Auswahl
ihres Hofstaats. König Maximus ist ein immer noch stattlicher Mann, dessen
volle blonde Locken erst eine Spur von Grau zeigen. Seine Frau, deren Name
mir nicht einfallen will, könnte eine Schönheit sein, wenn sie nicht
so verkniffen dreinschauen würde.
Ihren Sohn sehe ich zum ersten Mal. Prinz Klingklong macht seinem Namen alle
Ehre, denn obwohl er sich offensichtlich hastig angekleidet hat, trägt
er Goldglöckchen an seinen prächtigen blonden Haaren. Überhaupt
sieht er sehr gut aus, hochgewachsen und sportlich, mit einem hübschen,
aber etwas leeren Gesicht. Er hat etwa viereinhalb Pfund gemischten Goldschmuck
angelegt.
Ich stehe ihnen gegenüber, immer noch in meiner wahren Gestalt, und trage
inzwischen Hofkleidung, in schwarz, natürlich. Neben mir wartet die Nachthexe,
und erfreulicherweise hat sie ihre Menschengestalt abgelegt. Die Bemalung
ist aus ihrem Gesicht verschwunden, sie trägt das typische Nachthexenkleid,
das aus unzähligen hauchfeinen Fetzen und Bändern zu bestehen scheint,
und natürlich keine Schuhe. Ihre bloßen Füße schweben
eine halbe Handbreit über dem Boden. Nachthexen berühren die Erde
nicht, wenn sie es vermeiden können.
Halb hinter uns beiden und damit, wie mir sehr wohl bewusst ist, zwischen
mir und dem Ausgang steht Sir Rupert, immer noch in Menschengestalt,
aber jetzt gekleidet wie ein wohlhabender Kaufmann, in eisblau und weiß.
Er trägt immer noch keine sichtbaren Waffen, aber ganz offensichtlich
ist er mein inoffizieller Bewacher.
Seitlich von uns steht die Holde Dame, gekleidet in ein wundervolles gewitterwolkengraues
Kleid, besetzt mit mattsilberner Spitze. Sie sieht sehr ernst aus, und das
beunruhigt mich mehr als alles andere.
Und noch jemand ist in dem Raum. Die Holde Dame hat auch die Prinzessin herbringen
lassen. Sie liegt auf einem Ruhelager, und man hat sorgfältig alles vermieden,
was an ein Totenbett erinnern könnte. Daher ruht sie auf sonnengelben
Polstern und trägt ein blassgrünes Frühlingskleid, aber nichts
kann darüber hinwegtäuschen, dass sie viel zu blass ist und keine
Atemzüge ihre Brust bewegen. Leon, wieder in Tigergestalt, steht schweigend
neben ihrem Kopfende.
Ich versuche, möglichst nicht zu ihr hinüber zu sehen, weil ich
es nicht ertragen kann. Ich habe Angst, dass meine Gefühle mich überspülen
wie eine schwarze Flut.
Alle stehen schweigend herum und wirken bedrückt, und niemand scheint
zu wissen, was er von der Untersuchung erwarten soll. Schließlich beginnt
König Ottokar die Befragung damit, dass er sich an die Nachthexe wendet:
Also warst du es, die den Fluch ausgesprochen hat?
Äh... ja, sagt sie und blickt unsicher zu mir, aber ich werde
ihr nicht helfen. Sie sollte nicht vergessen, dass es ihre Schuld ist, dass
die Frau, die ich liebe, dort reglos auf den Polstern liegt.
Der König will seine nächste Frage stellen, als überraschend
Königin Güldenstern sagt: Können wir denn überhaupt
sicher sein, dass diese Hexe die Wahrheit spricht? Schließlich steht
sie unter einem Bann, den er, sie weist in meine Richtung, auf
sie gelegt hat.
Es ist nicht diese Art von Bann, erklärt die Holde Dame ruhig.
Er hindert sie nur daran zu fliehen. Glaubt mir, ich würde es erkennen,
wenn sie lügt.
Äh, ich frage mich die ganze Zeit schon etwas, sagt plötzlich
Prinz Rexroy. Ich meine, wenn Ihr immer sicher wisst, ob jemand die
Wahrheit sagt ... warum fragt Ihr dann nicht einfach Prinz Sebastian, ob er
für den Fluch verantwortlich ist? Damit wäre doch alles geklärt.
Er ist ein Dunkler Fürst, und daher liegt über seinem Herzen
ein Schleier, erklärt die Holde Dame freundlich. Ich kann
in seinem Herzen nicht lesen und nicht erkennen, ob seine Antworten wahr sind.
Wir müssen diese Sache auf eine andere Weise klären.
Das stimmt, denke ich, aber es ist seltsam: Ich habe das Gefühl, dass
die Holde Dame diese Untersuchung aus einem ganz bestimmten Grund führt
dass sie will, dass wir etwas ganz bestimmtes herausfinden.
Wenn Ihr gestattet, werde ich jetzt fortfahren, sagt König
Ottokar und schafft es fast, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen.
Er wendet sich wieder an die Nachthexe: Wer war dein Auftraggeber?
Das weiß ich nicht, sagt sie, sieht den Ausdruck in seinen
Augen und spricht hastig weiter: Er hat mit mir über einen Mittelsmann
verhandelt. Ich habe ihn selbst nie getroffen, und ich habe auch seinen Namen
nicht erfahren.
Und der Mittelsmann?
War ein Fuchs. Er sah aus wie alle Füchse: tannengrüne Klamotten,
ein spitzzähniges Grinsen und ein flotter Hut.
Und er hieß natürlich Raymond, sagt der König
sarkastisch.
Natürlich. Dieser hier trug etwas mehr Gold als üblich und
hatte eine Fasanenfeder am Hut. Er hat alle Verhandlungen mit mir geführt
und mich auch bezahlt.
Der König fragt nicht, ob sie den Fuchs wiedererkennen würde
niemand kann das außer einem anderen Fuchs. Und jeder von ihnen nennt
sich Raymond.
Also gut, sagt der König. Aber jetzt sage mir: Wie
wird der Fluch aufgehoben?
Das weiß ich nicht.
Du hast den Fluch gewoben und weißt nicht, wie man ihn aufhebt?
Ja... Mein Auftraggeber wollte wohl nicht, dass ich es weiß...
Sie windet sich unter dem finsteren Blick des Königs. Ein paar
Dinge kann ich Euch aber doch sagen. Es gibt einen und nur einen Weg, den
Fluch zu lösen, und nur eine ganz bestimmte Person kann das. Ich weiß
aber nicht, wer... Seht Ihr, ich habe etwas von seinem Blut bekommen, darum
herum habe ich den Fluch aufgebaut. Es war aber hermetisch eingeschlossen
in einen Kristallflakon, daher weiß ich nicht, wessen Blut es war. Es
stammt aber mit Sicherheit von einem Mann also, von einem männlichen
Wesen. Und da ist noch etwas: Das Blut war vorbereitet. Sie klingt nachdenklich.
Jemand, der sich damit auskennt, hat die Aufhebebedingung darin eingebunden.
Es war keine meiner Schwestern, aber ganz sicher jemand, der etwas von Zauberei
versteht.
Ich kann Euch also wirkllich nicht sagen, wie der Fluch aufgehoben wird, aber
so viel ist sicher: Nur derjenige, dessen Blut ich benutzt habe, kann den
Fluch aufheben. Dazu muss er etwas ganz bestimmtes tun, und ich glaube, dass
dabei auch sein Blut eine Rolle spielt. Aber ich weiß nicht, welche.
Sie sieht vorsichtig zum König. Und ich habe natürlich die
Dornröschenklausel in den Fluch eingearbeitet, wie es vorgeschrieben
ist.
Was bedeutet, dass er nach hundert Jahren von selbst erlöschen wird,
wenn ihn niemand vorher aufhebt. Aber das ist kein Trost für irgendeinen
von uns.
Weißt du noch etwas, was uns weiterhelfen könnte? fragt
der König, offensichtlich ohne viel Hoffnung, und die Nachthexe schüttelt
verschüchtert den Kopf.
Die Holde Dame seufzt. Sie hat in allem die Wahrheit gesagt, bestätigt
sie, aber sie klingt nicht froh. Es kommt mir immer mehr so vor, als wenn
sie den Ausgang der Untersuchung genau kennt, es ihr aber wichtig ist, dass
wir die Wahrheit selbst herausfinden. Und was wir finden werden, gefällt
ihr nicht. Ich frage mich beunruhigt, was das für die Prinzessin bedeuten
wird.
Das alles hilft uns nicht im geringsten weiter, sagt der König
niedergeschlagen.
Und es entlastet auch den Herrn Prinzen Sebastian nicht, sagt
Königin Güldenstern und klingt fast befriedigt.
Warum?, denke ich. Was hast du gegen mich? Und überhaupt,
wird mir klar, sind zu viele Fragen offen: Hat jemand die Prinzessin verflucht,
weil er einen Groll gegen sie hegt? Oder gegen ihre Eltern? Oder zielt das
alles auf Prinz Rexroy oder die Güldensterns? Will jemand ihnen schaden,
indem er die Heirat verhindert? Oder geht es darum, mich zu treffen, indem
der Verdacht auf mich gelenkt wird? Und warum kommt es mir immer stärker
so vor, als wäre das alles unwichtig, als läge der wahre Grund für
den Fluch woanders und viel tiefer?
Lasst uns zurück zum Wortlaut gehen, denke ich, und dann
merke ich, dass ich das laut ausgesprochen habe, denn alle sehen mich an.
Zurück zum Wortlaut... Ich habe meine Eltern früh verloren und bin
bei meinem Onkel aufgewachsen, dem Bruder meiner Mutter, der königlicher
Archivar im Dunklen Reich ist. Er hat dort alle Streitigkeiten um Rechte und
Privillegien zu klären, und wenn er die entsprechenden Urkunden heraussuchte,
dann sagte er dies immer. Der König hat Recht, denke ich: Wir haben nichts
außer dem Wortlaut des Fluches.
Ja, wiederhole ich laut, lasst uns zum Wortlaut zurückgehen.
Wie genau lautete der Fluch?
Die Prinzessin ist schon seit langer Zeit jemandem versprochen,
sagt die Nachthexe leise und klingt verschüchtert, und deshalb
wird weder er noch sonst jemand sie bekommen!
Wenn wir davon ausgehen, wohin führt uns das? frage ich.
Der zweite Teil ist klar: Das ist der Kern, um den herum der Fluch gewoben
wurde. Aber was bedeutet der erste Teil? Die Prinzessin ist schon seit
langer Zeit jemandem versprochen man könnte das auf unsere
Verlobung beziehen, aber die war erst vor drei Jahren und nicht vor
langer Zeit. Außerdem heißt es seit langer Zeit
also immer noch, bis heute.
Vielleicht wurde das einfach nur so dahingesagt? wirft der König
ein.
Nein, sage ich, und Nein, sagt auch die Nachthexe.
Ich überlasse ihr die Erklärung.
Man kann einen Fluch nicht auf einer Lüge aufbauen, sagt
sie. Alles, was im Zusammenhang damit gesagt wird, muss die Wahrheit
sein, sonst wirkt er nicht.
Also, wem war die Prinzessin seit langem versprochen? überlege
ich weiter. Interessanterweise gab es nie einen Bewerber um ihre Hand,
außer mir natürlich. Warum? Sie ist immerhin die einzige Tochter
des mächtigsten Königs im Märchenland. Noch viel interessanter
ist, dass es nie Gerüchte gab, die Prinz Kli ... Prinz Rexroy mit einer
der anderen Prinzessinen im Land in Verbindung brachten. Dabei gibt es im
Moment tatsächlich so etwas wie ein Überangebot an heiratsfähigen
Prinzessinnen allein Königin Flora hat sieben wunderschöne
Töchter. Ich denke, in beiden Fällen haben die Eltern alle Bewerber
entmutigt. Aber dann taucht Prinz Rexroy hier am Hof auf, und kaum zehn Tage
später sind er und die Prinzessin verlobt. Steckt das dahinter, was ich
vermute?
Und wenn es eine solche Absprache gegeben hätte? fragt der
König. Das wäre zwischen den hohen Häusern im Land nicht
ungewöhnlich.
Gab es sie?
Ja ... seit die Prinzessin zwölf Jahre alt war. Dann runzelt
er die Stirn. Aber das ergibt keinen Sinn. Dann würde der Fluch
doch bedeuten Die Prinzessin ist dem Prinzen Rexroy versprochen, und
deshalb das sagt der Fluch schließlich wörtlich
soll der Prinz sie nicht bekommen. Das ist doch völlig unsinnig.
Da hat er Recht, denke ich ... oder nein, vielleicht ergibt es doch einen
Sinn. Es ist nicht unter allen Umständen unsinnig, sage ich
langsam. Schließlich ist mit dem Fluch die Hochzeit nicht unbedingt
für alle Zeit verhindert was wäre, wenn die Prinzessin wieder
erwachte?. Überlegen wir einmal: Wie wird die Geschichte am wahrscheinlichsten
weitergehen? Prinz Rexroy ist noch immer der Verlobte der Prinzessin. Stellen
wir uns vor, er würde jetzt aufbrechen, ganz allein oder zumindest
nur begleitet von einem einzigen Knappen um einen Weg zu finden, die
Prinzessin zu erlösen. Er würde weit reisen, seltsame Orte aufsuchen
und eine Reihe von mäßig gefährlichen Abenteuern bestehen.
Und wenn er dann schließlich mit einer Anweisung zurückkehrt, wie
man den Fluch bricht, sie ausführt und die Prinzessin erweckt
was wäre dann? Dann würden die Hochzeit doch noch stattfinden.
Dann denkt Ihr, ich habe wirklich eine Chance, die Prinzessin zu retten?
unterbricht mich Prinz Rexroy aufgeregt, Dass ich herausfinden werde,
wie man sie erlösen kann? Ich würde ihr so gerne helfen ich
liebe sie doch so sehr.
Er strahlt und merkt anscheinend gar nicht, dass ihn plötzlich alle anstarren.
Dann habt Ihr tatsächlich so eine Suche geplant? frage ich
freundlich.
Aber ja! Wir hatten das beschlossen und ich wollte es heute Morgen verkünden
dass ich aufbrechen werde, meine ich , aber dann kam dieses ganze
Durcheinander dazwischen.
Ich blicke zur Holden Dame, denn schließlich führt sie diese Untersuchung,
aber sie nickt mir nur leicht zu. Also spreche ich weiter: Das ist sehr
mutig von Euch, Prinz, besonders, weil es eine sehr lange Suche werden könnte.
Ihr wisst nicht, wohin sie Euch führt, und vielleicht findet Ihr am Ende
gar nicht, was Ihr sucht.
Oh nein, ich weiß schon, wohin ich mich wenden werde ... was ich
als erstes versuchen werde, meine ich. Seht Ihr, ich werde mich in den Nordosten
begeben und in die Weißen Berge jenseits unseres Reiches ziehen. Dort
werde ich den Elfenbeinturm suchen und den Bleichen Fürsten um Rat bitten.
Die Hälfte der Anwesenden schnappt nach Luft und Getuschel breitet sich
aus, aber Prinz Rexroy scheint es nicht zu bemerken. Er strahlt noch immer
und leuchtet fast vor Zuversicht. Ich sehe, wie König Ottokar den Kopf
schüttelt und mit einer Handbewegung seinen Hofleuten Schweigen gebietet.
Das klingt aber wie ein sehr gefährlicher Plan, sage ich
sanft zu Prinz Rexroy.
Nein ... nein, sie haben mir gesagt, dass ich den Bleichen Fürsten
nicht fürchten muss. Er ist nicht grausam oder böse ... er weiß
sehr viel, und es ist gut möglich, dass er mir helfen kann.
Wer hat Euch das gesagt?
Meine Eltern natürlich ... meine Mutter vor allem.
Ich sehe zu den Güldensterns hinüber. Der König wirkt etwas
besorgt, die Königin hat einen Gesichtsausdruck, den ich hoheitsvolle
Ruhe nennen würde ich kann daraus gar nichts lesen.
Wenn also der Prinz mit einer Antwort des Bleichen Fürsten zurückkäme,
wende ich mich an König Ottokar, und wenn diese wirklich dazu führte,
dass die Prinzessin erwacht würdet Ihr dem Bleichen Fürsten
dann nicht etwas freundlicher gesonnen sein? Vielleicht würdet Ihr sogar
seine Abgesandten empfangen...
Ganz sicher nicht, sagt der König entschieden. Ihr
wisst, dass ich damals in Neuenburg war, kurz nachdem es den Menschen dort
gelungen war, sich von seinen Lehren freizumachen, und ich werde das nie vergessen.
Was sie getan haben, um vollkommen zu werden, vollkommen auf die Art, wie
der Bleiche Fürst es verlangt... Leere deinen Kopf von Gedanken,
leere dein Leben von allem, was nicht vollkommen ist. Es gab keine Farben
mehr, keine Gespräche zwischen den Menschen, sie haben sogar ihre Kinder
einmauern lassen, damit sie ohne Ablenkung aufwachsen. Ich habe Menschen gesehen.
die sich selbst in Kristall einschließen ließen... ich werde ganz
sicher nicht zulassen, dass der Bleiche Fürst Einfluss in meinem Reich
gewinnt. Er sieht mich nachdenklich an. Denkt Ihr, das steckt
hinter diesem allen?
Ich weiß es nicht, sage ich. Aber da ist noch etwas
anderes: Wie Ihr wisst, können der Bleiche und seine Helfer Dunkle Wesen
nicht beeinflussen. Vor vier Jahren war ich hier, weil Euer und unser Reich
sich annähern wollten, aber dann wurde ich verbannt, und seitdem hat
sich das Dunkle Reich wieder gegen das restliche Märchenland abgeschottet.
Dann lenkt jemand den Verdacht auf mich, was den Fluch angeht, und Ihr unterschreibt
einen Kontrakt über meinen Tod. Ich kenne meinen Onkel: Wenn mich Euer
Eisbärkrieger tatsächlich getötet hätte, dann hätte
er die Grenzen endgültig geschlossen, und sie wären Jahrhunderte
lang nicht mehr geöffnet worden. Dem Bleichen hätte das sicher gefallen...
König Ottokar, bitte, sagt Königin Güldenstern
und klingt fast verzweifelt. An dem Schreckensbild, das Prinz Sebastian
malt, ist nichts wahres. Denkt Ihr wirklich, dies ist eine große Verschwörung
zugunsten des Bleichen Fürsten? Das Reich Güldenstern grenzt an
sein Gebiet, wie Ihr wisst, und wir hatten nie Probleme mit ihm. Was kann
er dafür, dass Menschen seine Lehren missverstehen, wie das in Neuenburg
offensichtlich geschah?
Ja, ich habe meinem Sohn geraten, den Bleichen Fürsten aufzusuchen. Er
ist sehr weise, auch wenn die Menschen ihn oft nicht verstehen können.
Ihr habt alle anderen Weisen des Märchenlandes befragt, und sie wussten
keinen Rat. Ich denke, wir sollten nichts unversucht lassen, und mein Sohn
wollte unbedingt helfen. Warum sollten wir diese Möglichkeit übergehen,
die Prinzessin zu retten? Das ist der einzige Grund, warum ich meinem Sohn
diesen Rat gegeben habe.
Ich sehe den Anwesenden an, dass sie nicht wissen, wem sie glauben sollen.
Es ist offensichtlich, dass die Königin viele von ihnen für sich
gewonnen hat. In die verunsicherte Stille hinein spricht die Holde Dame Nur
ist dies alles leider nicht wahr, sagt sie leise.
Sie sieht mich an, dann die Nachthexe, und ich denke, ja, es ist genau so
wie drüben in der Menschenwelt: Wir haben die wichtigste Frage noch gar
nicht gestellt. Es ist Zeit, dass ich es mache.
Verzeiht mir die Frage, aber ich muss sie stellen: Habt Ihr den Fluch
in Auftrag gegeben? frage ich Königin Güldenstern.
Sie funkelt mich wütend an erschrocken ist sie offensichtlich
nicht. Denkt Ihr wirklich...
Ja, das hat sie, sagt die Holde Dame ruhig.
Warum? fragt König Ottokar bestürzt.
Ihr müsst verstehen, es war nur wegen meines Sohnes, sagt
Königin Güldenstern bittend. Ihr wisst doch, dass eine Geschichte
nicht gut ausgeht, wenn der Prinz die Prinzessin zu leicht gewinnt. Er muss
Gefahren bestehen und sich wirklich würdig erweisen, nur dann können
die beiden glücklich werden.
Oh, sicher, sagt Sir Rupert sarkastisch, und am besten erreicht
man das natürlich, indem Muttern die Krise selbst organisiert und für
ihr Söhnchen eine gefälschte Lösung vorbereitet.
Wie auch immer und warum auch immer, sagt König Ottokar.
Das können wir später klären. Das einzig wirklich wichtige
ist doch: Wie kann der Fluch aufgehoben werden?
Königin Güldenstern schweigt, und ich sehe auf die Holde Dame, aber
sie steht nur dort und sieht aus, als würde sie einer Musik lauschen,
die in weiter, weiter Ferne spielt.
Nun, wie ist es, sagt Sir Rupert bissig, und ich denke, dass er
offensichtlich gar nicht mag, wie er in dieser Sache benutzt wurde, wie
lautet die Anweisung, mit der Prinz Goldlocke zurückgekommen wäre?
Also gut, sagt Königin Güldenstern. Der Fluch
wird so gebrochen: Der Prinz Rexroy muss einen Tropfen seines Blutes
auf die Lippen der Prinzessin Serafine fallen lassen. Dann muss er, der sie
wirklich liebt, sie auf die Stirn küssen, und sie wird erwachen.
Also dann, sagt der König, Prinz Rexroy, wenn
Ihr...
Das ist der Moment, in dem die Holde Dame plötzlich den Kopf hebt
als wenn sie das, worauf sie so lange gelauscht hat, plötzlich verstanden
hat. Wartet, sagt sie. König Ottokar, wenn Ihr wollt,
dass diese Geschichte gut endet, dann müsst Ihr noch zwei Dinge tun.
Zum ersten: Jetzt ist erwiesen, dass Prinz Sebastian an all dem völlig
unschuldig ist.
Das ist wahr, sagt der König, und Sir Rupert lacht.Da
löst sich gerade mein Honorar in Luft auf, sagt er, klingt aber
fröhlich.
Prinz Sebastian, fährt der König fort, verzeiht
uns. Wir haben Euch zu Unrecht verdächtigt. Auch Eure Verbannung war
nicht gerechtfertigt, es war falsch von mir, mich dazu überreden zu lassen.
Hiermit hebe ich sie auf. Willkommen an meinem Hof.
Gut, sagt die Holde Dame. Und jetzt, König, versprecht
etwas: Der Mann, der Eure Tochter durch den Kuss erlöst, ist der, der
sie wahrhaft liebt und den auch sie liebt. Versprecht, dass Ihr ihm Eure Tochter
zur Frau gebt. Der König sieht sie verblüfft an, und die Güldensterns
wirken beinahe noch verdutzter. Er scheint hauptsächlich verwirrt, aber
ihr sieht man den Triumph an: Es sieht so aus, als sollten sich ihre Pläne
doch noch erfüllen. Die Holde Dame lächelt leicht, und mir wird
klar, dass sie uns die ganze Zeit geleitet hat nur wüsste ich
gerne, zu welchem Ziel.
Sie bestätigt noch einmal: Glaubt mir, nur so wird die Geschichte
zu einem guten Ende kommen.
König Ottokar scheint sich nicht ganz sicher, worauf er sich da einlässt,
aber er gibt sein Versprechen.
Ich danke Euch, sagt sie. Und nun, Prinz Rexroy, bitte tut,
was Ihr zu tun habt.
Prinz Rexroy strafft die Schultern. Ich habe das Gefühl, dass er weitgehend
den Überblick verloren hat, aber er weiß, was von ihm erwartet
wird. Entschlossen tritt er an das Bett der Prinzessin. Dann stockt er.
Oh, ich habe meinen Dolch nicht dabei, sagt er, aber das ist kein
Problem: Leon hilft ihm mit einem kurzen Krallenhieb aus. Der Prinz zuckt
nicht einmal zusammen immerhin und hält seine Hand über
die Lippen der Prinzessin. Ich sehe, wie ein Tropfen von seinem Blut auf ihre
Lippen fällt ich sehe es sehr deutlich, denn ich stehe neben ihr,
auf der anderen Seite des Bettes, obwohl ich mich nicht erinnern kann, wie
ich hierher gekommen bin.
Ich sehe den Blutstropfen fallen, ich sehe, wie er ihre Lippen trifft und
wie er aufgesogen wird. Dann kehrt die Farbe in ihr Gesicht zurück, und
sie macht einen leichten Atemzug. Aber sie erwacht noch nicht. Natürlich
nicht: Dazu fehlt noch der Kuss.
Der Prinz streicht ihre Haare sanft beiseite, dann küsst er beherzt ihre
Stirn und nichts geschieht.
Aber..., sagt er verwirrt. König Ottokar wirkt schockiert,
Königin Christine verzweifelt, die Güldensterns vollkommen verblüfft
und die Holde Dame lächelt.
Prinz Rexroy, ich danke Euch, sagt sie, aber Ihr seid offensichtlich
nicht der Mann, der sie erlösen kann.
Der Wortlaut, hauche ich.
Ja, der Wortlaut. Prinz Rexroys Blut und der Kuss des Mannes, der sie
wirklich liebt. Prinz Sebastian...
Wie in einem Traum beuge ich mich über Prinzessin Serafine und küsse
ihre Stirn. Und sie schlägt die Augen auf und sieht mich an. Sebastian?
fragt sie. Wie kommst du hierher?
Das einzige, was mir einfällt, ist: Wie können heiraten, wenn
du das noch immer willst.
Und ob ich das will! sagt sie, legt ihre Arme um mich und küsst
mich.
Es wird ein langer Kuss. Er endet erst, als König Ottokar sich räuspert
und dann ziemlich laut sagt: Hiermit verkünde ich die Verlobung
meiner Tochter Serafine mit dem Prinzen Sebastian von den Schatten.
Das ist der Augenblick, in dem sich alle über das gute Ende freuen sollten,
aber statt dessen kreischt jemand derart, dass sich die empfindsameren Personen
im Raum ans Herz fassen. Es ist die Königin Güldenstern, und sie
schreit: Ich ertrage es nicht! Fünf Generationen lang haben wir
darauf hingearbeitet, und jetzt zerschlägt es sich in einem Augenblick!
Sie kreischt noch einmal, und dann wird sie bleich.
Das meine ich wörtlich. Alles an ihr, ihre Haare, ihre Augen, ihre Haut,
wird bleich wie altes Elfenbein, und ihr Kleid wird zu einer formlosen Hülle
aus vergilbtem Leinen. Eine Bleiche Hexe, ruft jemand, und das
ist sie. Jetzt verstehe ich, was die Holde Dame uns erkennen lassen wollte.
Dann stimmt es? fragt König Ottokar. Ihr dient dem
Bleichen Fürsten? Aber warum das alles? Was wollt Ihr von meiner Tochter?
Eure Tochter ist nur das Gefäß, sagt sie verächtlich.
Seit fünf Generationen arbeiten wir daran, dass eine von uns Königin
wird und ihr Kind ein Kind des Märchenkönigs heiratet, Jetzt, endlich,
war es soweit. Der Plan war, dass mein Sohn von Seinem Turm zurückkommt
und Seine Essenz in sich trägt. Mit seinem Blut hätte er sie an
die Prinzessin weitergegeben. Dann noch ein paar Rituale und nebenbei
hätte man den Bleichen Fürsten überall für seine Hilfe
geschätzt und wäre etwas offener für seine Lehren geworden.
Und schließlich wären Seine Essenz und Sein Geist in ihren Kindern
lebendig geworden. Versteht ihr nicht? Diese Kinder hätten in alle Reiche
des Märchenlandes geheiratet und Ihn in deren Mitte getragen. Sie
starrt mich wütend an. Nur hätten die dunklen Bastarde das
erkennen können, also mussten wir sie aus dem Spiel nehmen. Aber jetzt
... jetzt zerrinnt uns alles zwischen den Fingern. Ich ertrage das nicht!
Und dann, ohne Vorwarnung, schleudert sie einen Fluch auf uns, auf Serafine
und auf mich.
Ich reagiere zu spät. Ich kann den Fluch nicht abfangen, ich weiß,
was jetzt geschehen wird, und ich will es nicht. Aber ich muss die beschützen,
die ich liebe, also werfe ich mich zwischen Serafine und den Fluch.
Er trifft mich mit voller Wucht, und ich zerfließe zu verwehendem Dunst
...
... aber nur für eine Sekunde. Dann werde ich wieder körperlich
und sehe noch die letzten Flammen hochzüngeln, in einem kränklichen
Grün. Hat ihr das in ihrer Ausbildung denn niemand erklärt?
frage ich erschüttert.
Wie alle anderen starre ich auf das Häufchen bleicher Asche, die alles
ist, was von der ehemaligen Königin Güldenstern übrig ist.
Ihr Mann und ihr Sohn tun mir leid ganz offensichtlich wussten sie
nicht, was diese Frau wirklich war.
Ich lege einen Arm um Serafine. Ich wünschte, ich hätte etwas
anderes tun können, sage ich. Sie hätte es wissen müssen.
Wenn ein Bleicher Fluch auf ein Nachtwesen geworfen wird, dann kehrt er mit
doppelter Kraft zurück. Umgekehrt ist es genauso. Warum hat sie nicht
daran gedacht?
Es ist nicht deine Schuld, sagt Serafine und legt tröstend
ihre Arme um mich.
Was gibt es noch zu sagen? Serafine und ich heiraten. Es wird eine der größten
Hochzeitsfeiern, die das Märchenland je gesehen hat, und wir werden von
der Holden Dame selbst getraut.
Die Güldensterns reisen noch vor der Hochzeit ab, und alle schweigen
darüber, warum ihre Königin so plötzlich und überraschend
gestorben ist. Prinz Rexroy schickt uns Glückwünsche zur Hochzeit,
und ich denke, sie sind sogar ehrlich gemeint. Was unter anderem daran liegen
könnte, dass er die wunderschöne Prinzessin Iris mit den blauen
Haaren kennengelernt hat, Königin Floras zweitälteste Tochter. Überall
wird gemunkelt, sie würden sich nach Ablauf der Trauerzeit für seine
Mutter offiziell verloben.
Die Nachthexe löse ich aus ihrem Bann und schicke sie nach Hause, bevor
sich noch jemand daran erinnert, dass sie den Fluch gesprochen hatte.
Sir Rupert Schildbrecher ist Ehrengast bei der Hochzeit. Er erscheint dazu
in seiner Eisbärengestalt, was sehr eindrucksvoll ist, aber nicht jedem
gefällt besonders nicht dem Oberhofkoch, der eine größere
Portion roher Leber auf die Bankettliste setzen muss.
Vielleicht sollte ich mich um diesen Bleichen Fürsten kümmern,
sagt Sir Rupert zu mir während der Feier. Klingt, als wäre
das ein Job für einen Eisbärkrieger.
Aber was wird Eure Frau dazu sagen? fragt Serafine.
Er lacht. Sie ist eine Eisbärin sie wird mitkommen wollen.
Leon muss seinen Abschied von der königlichen Garde nehmen, weil er eigenmächtig
in die Menschenwelt gewechselt ist, um mich zu finden und zu warnen. Danach
wird ihm vom König der höchste Orden des Märchenreichs verliehen
aus demselben Grund. Wenn er es nicht getan hätte, dann wäre
ich jetzt wahrscheinlich tot und der Bleiche Fürst hätte sein Ziel
erreicht. Leon hat übrigens schon einen neuen Job: Er ist der Hauptmann
der neuen Garde des Fürsten von den Schatten und seiner Frau also
von Serafine und mir.
Jetzt bleibt uns nur noch, glücklich und zufrieden bis an unser Ende
zu leben.
© P. Warmann