Die Stadt.

Die Stadt ist alt. Tausend Jahre sind nicht viel auf diesem Kontinent der alten Städte, aber für die Menschen ist das alt.
Die Stadt ist alt, aber sie hat keine tiefen Wurzeln. Sie ist eine Stadt von Wasser und Wind, und das ist selten. Das Element der meisten Städte ist Stein, und sie schlagen ihre Wurzeln tief in das Land. Aber nicht diese Stadt. Sie steckt nicht im Land, sie steht darauf, denn dies ist kein Land für tiefe Wurzeln – dieses Land ist ein vorläufiges.
Das Wasser ist überall in diesem Land. Es fällt aus den Wolken, und die Leute beachten es nicht einmal, denn dies ist ihr Wetter. Wasser liegt in der Mitte der Stadt, dort, wo andere Städte einen großen Platz haben oder eine Akropolis oder ein Schloss mit hohen Türmen. Nicht hier. Das Herz der Stadt ist aus Wasser.
Wasser ist überall in der Stadt, und auch unter der Stadt, man muss nirgends tief graben, um Wasser zu finden. Wer in diesem Land gräbt, findet Wasser, nicht Fels. Dies ist ein vorläufiges Land, und es wurde vom Wasser geformt: vom Fluss, vom Meer und vom Eis der Gletscher.
Ach ja, der Fluss. Man übersieht ihn leicht, weil er so groß ist. Er ist so mächtig, dass man ihn nicht fließen sieht, zu groß für gemütliche Brücken, von denen man ins Wasser schaut und träumt. Dieser Fluss ist mächtig, aber er ist auch still, und deshalb nimmt man ihn nicht wahr.
Und dann ist da das Meer. Es berührt die Stadt nicht direkt, aber man kann es nicht vergessen. Manchmal kommt es den Fluss hoch. Manchmal riecht man es im Wind. Die Stadt liegt nicht am Meer, aber das Meer ist immer in der Stadt.
Es ist eine Stadt von Wasser und Wind; das Feuer ist ihr Feind. Nicht viel von der Stadt ist wirklich alt, denn alle hundert Jahre kommt ein Feuer und löscht, was sich angesammelt hat. Aber das ist nicht wichtig, denn die Stadt nimmt davon keinen Schaden. Sie verliert von ihrer Substanz, aber das Wesen der Stadt bleibt.
Es ist das Wesen der Stadt, dass nichts an ihr beständig ist. Alles ist ungewiss, verändert sich, hat unscharfe Grenzen. Bauten verschwinden und neue treten an ihre Stelle; die Stadt bleibt. Hier hat niemals jemand mächtige Schlösser gebaut, hohe Türme, Monumente. Niemand hat je die Stadt beherrscht, geformt, bestimmt. Diese Stadt hat kein Ziel, keine Aufgabe. Sie ist. Sie beobachtet. Sie kommentiert. Und sie verändert sich mit den Zeiten. Ihr Wesen bleibt
Die Menschen sind wie die Stadt. Sie laben hier, und ihre Wurzeln sind mit der Stadt verwoben, aber die Stadt hält sie nicht fest. Sie haben viele Schichten: Niemand ist nur das, was er scheint. Viele sind unbestimmt. Manche gehen verloren.

© P. Warmann