Das Kreistier.

Ich wachte auf, und etwas war anders. Was? Ich überlegte. Oh, ja: das Klavier. Seit gestern gehörte mir ein Klavier. Also ging ich rüber in mein Wohnzimmer, und da stand es: gebraucht und generalüberholt, dunkelbraun und glänzend, und jetzt war es meins. Ich stzte mich davor und spielte zögernd einige Läufe – immerhin hatte ich meine letzte Klavierstunde vor mehr als 15 Jahren gehabt.
So saß ich da also, in nichts als meiner Schlafanzughose, und versuchte ein paar Fingerübungen, die mir langsam wieder einfielen, und dann hob sich der Deckel, oder wie man das nennt, des Klaviers. Ganz langsam. Ich starrte darauf, und aus irgendeinem Grund dachte ich überhaupt nicht daran, mit dem Spielen aufzuhören, sondern meine Finger bewegten sich ganz automatisch weiter, während ich das seltsame Geschehen gebannt verfolgte. Ich meine, Klavierdeckel gehen nicht einfach so auf, das ist nicht normal, und es ist noch weniger normal, wenn sich dann etwas durch den Spalt schiebt, etwas ausgesprochen grünes.
Ja, es war grün. Und rund. Und es hatte eine Menge Beine. Und Stielaugen. Mit denen es mich ansah.
Ich schluckte und stellte fest, dass ich irgendwann dann doch aufgehört hatte zu spielen. Das Etwas war inzwischen mit einem eleganten Schlenker ganz aus dem Klavier gekommen und saß oben darauf. Und es sah mich immer noch an mit seinen blauen Stielaugen. Ansonsten war es, wie gesagt, grün, ein kräftiges dunkles Blaugrün. Es sah aus wie zwei flache Schüsseln oder tiefe Teller, die man aufeinander gestülpt hatte, mit einem Spalt dazwischen, aus dem die Stielaugen ausgefahren waren, die mich jetzt ansahen, und rundum viele, wirklich viele kleine Beine mit runden Tellerfüßen. Ich starrte es an, und es starrte zurück.
Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder, aber danach saß es immer noch auf meinem Klavier. Nun gut. Im wirklichen Leben kommen keine grünen Etwasse aus Klavieren, und etwas wie das da gab es im wirklichen Leben sowieso überhaupt nicht, jedenfalls nicht außerhalb der Requisitenabteilung größerer Filmstudios. Was bedeutete, dass ich gerade eine Haluzination hatte, und zwar eine ziemlich heftige.
In genau diesem Augenblick begann das Etwas zu sprechen. Seine Stimme war leise, und seltsam, wie das Rascheln von Blättern oder das Knistern von Papier, aber sie war gut zu verstehen.
„Bitte lassen Sie sich nicht stören“, sagte es. „Besonders, da ich mich sozusagen als blinder Passagier bei Ihnen eingeschmuggelt habe. Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel, aber ich sah das Schild ‘verkauft’ an diesem Instrument, und da habe ich spontan beschlossen, einzusteigen und mich mitnehmen zu lassen. Immerhin würde ich bei einem Musikliebhaber landen und damit bei einer Person, die meine Interessen teilt. Schließlich kann ich nicht erwarten, mit einem beliebigen Gesprächspartner sofort eine lebhafte Diskussion über die Feinheiten der Atomphysik zu beginnen.“
„Atomphysik?“ brachte ich heraus.
„Ja, mein eigentliches Fachgebiet. Subatomare Teilchen und ihr Verhalten in magnetischen Flussschlaufen und solches Zeug. Ungeheuer spannen natürlich, aber gewiss nicht jedermanns Sache.“
„Äh, ja. Und wer ... was sind Sie?“
„Ich bin das Kreistier. Ja, ‘das’, nicht ‘ein’. Ich bin eine Spezies eigener Art.“
„Ah ja. Und was machen Sie hier?“
„Hier? Wie gesagt, dass ich in Ihrem Klavier gelandet bin, war ein reiner Zufall. Ansonsten bin ich auf Urlaub. Sie wissen schon, statt trockener Forschungsarbeit mal eine Zeit lang ungefilterte Luft atmen und die Sonne aus einiger Entfernung sehen. In der Hoffnung, dass nicht irgendeine unerwartete Krise eintritt und man mich himmelblau zurückholt.“
„Himmelblau?“
„Ja ... das ist schwierig zu übersetzen, aber es trifft die Bedeutung doch recht genau.“
„Ah ja“, sagte ich nochmal, und dann fiel mein Blick auf die Uhr. „Oh, ich bin spät dran.“
„Bitte lassen Sie sich nicht aufhalten. Schließlich habe ich mich in ihr Privatleben gedrängt – und, bitte: Zögern Sie nicht, mich rauszuwerfen, wenn Ihnen danach ist. Ich glaube, wir könnten sehr anregende Gespräche führen, aber ich will mich nicht aufdrängen.“
„Oh, gut“, sagte ich, und dann ging ich unter die Dusche.

Ich ließ das heiße Wasser über mein Gesicht rinnen und dachte nach. Wie kam ich zu solch intensiven Haluzinationen? Warum ausgerechnet runde grüne Etwasse? Das Kreistier? Und hätte das Produkt eines wirren Geistes nicht auch wirr daherreden sollen? Statt dessen sprach meine Wahnvorstellung ruhig und gebildet. War das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

Als ich mit feuchten Haaren und anständig bekleidet wieder ins Wohnzimmer kam, saß es noch immer auf dem Klavier. Es blinzelte mir zu. Ich zuckte mit den Schultern, ging in die Küche und machte mir Frühstück.
Beim Frühstück leistete es mir Gesellschaft. Es kam vom Klavier zu mir herübergehuscht und bewegte sich auf seinen vielen Beinen auf eine entschieden beunruhigende Weise. Dann nahm es in einigem Abstand zu mir auf dem Tisch platz, wofür ich äußerst dankbar war – für den Abstand, meine ich.
Allerdings stellte ich fest, dass es tatsächlich Spaß machte, mich mit meinem Gast (nennen wir ihn mal so) zu unterhalten. Wir kamen über Filmmusik auf den Weißen Hai, dann auf den Osterhasen und auf Buchsbaumhecken (die von Kaninchen nicht angefressen werden, das ist der Zusammenhang), und dann musste ich los.

Mit Jacke und Aktentasche kam ich noch einmal ins Wohnzimmer und wollte meinem seltsamen Besucher etwas sagen – aber er war fort. Nicht mehr da, nirgends. Ich warf sogar einen verstohlenen Blick in das Innere des Klaviers, aber dort war er auch nicht. Fort, als hätte es ihn nie gegeben. Was andererseits natürlich ein völlig normales Verhalten für eine Haluzination war.

Im Büro setzte ich mich an meine Berechnungen, und alles lief wie an jedem anderen Tag. Seltsame Dinge sah ich nicht, jedenfalls keine seltsameren als in diesem Laden üblich. Als ich vorsichtig versuchte, das Thema ‘seltsame Wesen, die auftauchen und wieder verschwinden’ oder ‘Kreistier’ anzusprechen, zeigte niemand Interesse. Nur die Sekretärin des Chefs meinte: „Ja, wir hatten auch mal Tiere in unserem Haus, und schließlich wurde es so schlimm, dass wir den Kammerjäger kommen lassen mussten. Schrecklich! Wollen Sie die Adresse?“ Ich lehnte dankend ab.

Am Abend, wieder zuhause, sah ich noch einmal ins Klavier. Kein Kreistier. Gut, dann ist diese Episode also vorbei, dachte ich und ließ mich in meinen Sessel sinken, als eine leise, knisternde Stimme sagte: „Nein, dort bin ich nicht mehr. Ich hatte die Befürchtung, meine Anwesenheit dort könnte der empfindlichen Mechanik schaden, deshalb bin ich umgezogen.“
Ich drehte mich um, und da saß das Kreistier: oben auf meinem Wohnzimmerschrank. Es kam zu mir herübergehuscht und ließ sich neben meinem Sessel nieder.
„Heute Morgen waren Sie plötzlich fort“, sagte ich.
„Nein, nicht wirklich, ich war noch hier, nur nicht mehr da. Ich musste kurz irgendwo hin, aber ich war nicht weg... Später habe ich dann einen langen Spaziergang über die Dächer gemacht und die Wolken beobachtet. Die Strömungsmuster Ihrer Atmosphäre sind wirklich außerordentlich interessant. Übrigens, ist es möglich, eine Wolke käuflich zu erwerben? Zu Forschungszwecken, meine ich.“
„Nein. Wolken sind unbezahlbar.“
„Auf seine Weise auch wieder erfreulich... Sagen Sie, darf jeder den Himmel betrachten? Oder gilt das als eine Art öffentlicher Aufführung und ist lizensiert?“
Und so ergab ein Gesprächsthema das andere. Als ich ins Bett ging, ziemlich spät, schwirrte mir der Kopf, aber ich dachte auch, dass ich seit langem nicht mehr so gute Gespräche geführt hatte. Was allerdings mehr über mich aussagte und die Tatsache, dass ich nur sehr wenige enge Freunde habe.

Am nächsten Morgen war das Kreistier weg – oder jedenfalls nicht da. Am Abend zuvor war ich sicher gewesen, dass es real war, eine Art Alien, das durch welchen Zufall auch immer ausgerechnet bei mir gelandet war. Jetzt fragte ich mich wieder, ob es nicht doch nur in meiner Einbildung existierte.
Ich wollte einen Pullover aus dem Schrank nehmen, einen naturbraunen, aber dann zögerte ich. Mein ganzes Berufsleben lang hatte ich mich unauffällig gekleidet, nicht aus Überzeugung, auch nicht, um mich anzupassen, einfach nur, weil das am wenigsten Mühe machte. Aber da war dieser Pullover, dunkelgrau, aber mit Einsätzen in einem komplexen feinen Strickmuster in klaren Blautönen. Denn hatte ich vor Jahren gekauft und noch nie ernsthaft getragen. Heute schien mir der richtige Tag dafür. und überhaupt, mit einiger Wahrscheinlichkeit war mein Verstand gerade dabei, den Dienst zu quittieren, und ich würde den Rest meiner Tage damit verbringen, in einer Irrenanstalt Ketten aus Gänseblümchen zu flechten. Unter diesen Umständen war die Frage, ob meine Kollegen meine Kleidungswahl missbilligen würden, eher irrellevant.

Tatsächlich machte niemand eine Bemerkung über meinen Pullover, und auch sonst geschah bei der Arbeit nichts besonderes. Offensichtlich riss mein Verstand sich hier am Riemen.
Zurück zuhause betrat ich das Wohnzimmer, machte Licht, und – – oh. Damit hatte ich nicht gerechnet. Alle Möbel standen anders.
Und zwar so, wie ich mir immer gewünscht hatte, dass sie stehen sollten. Nur war ich nie dazu gekommen, sie umzustellen, was ich alleine sowieso nicht geschafft hätte – ich meine, wir reden hier unter anderem von drei Metern Schrankwand und, nicht zu vergessen, einem Klavier. Aber jetzt stand alles da, wo es schon immer hätte stehen sollen. Es war perfekt. Und der Urheber des Ganzen saß grün und rund auf dem Tisch und zwinkerte mir zu.
„Gefällt es dir? Du hattest gestern darüber gesprochen, wie du deine Einrichtung umarrangieren würdest, und ich dachte, ich könnte dir helfen – auch als kleine Entschädigung für die Mühe, die ich dir mache.“
„Himmel, ja, es ist großartig. Danke!“ brachte ich heraus (wir waren am Vorabend zum Du übergegangen). „Aber wie hast du das gemacht? Ich meine, der Schrank und das Klavier...“ Und du bist nur so groß wie eine Suppenschüssel, dachte ich, sprach es aber nicht aus.
„Oh, das war kein Problem. Wie sagte noch Archimedes? ‘Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln’. Alle Dinge haben einen Schwerpunkt, das ist das ganze Geheimnis.“
„Demnächst schlägst du mir noch vor, das Haus zu drehen...“
„Oh, möchtest du? Möglich wäre es ... aber das Gebäude ist mit Leitungen und ähnlichem verbunden, das stellt ein gewisses Problem dar. Außerdem erscheint es mir ein wenig zerbrechlich, ich müsste es erst festigen, bevor ich es im Stück bewegen könnte.“
„Nein, bitte lass es. Ich möchte nicht meinem Vermieter erklären müssen, wie ich das gemacht habe“, sagte ich und fragte mich, was für eine Art Wesen mir da in mein Leben geraten war.

Den Rest des Abends verbrachten wir mit angeregten Gesprächen, am nächsten Morgen frühstückten wir zusammen, und danach fuhr ich wie immer zur Arbeit. Dort war der Tag so wenig aufregend wie üblich, und in der Mittagspause fand ich mich in der Kantine und dort auf das Essensangebot des Tages starrend. Eine Kollegin trat hinter mich und sah mir über die Schulter. „Was gibt es denn so?“ fragte sie.
„Wir haben die Wahl zwischen zusammengeschmortem Paprikapamps und UFOs mit Petersilienkartoffeln“, erklärte ich.
„Was sind UFOs?“
„Unidentifizierbare Fleischähnliche Objekte. Ich kann mich nicht dazu durchringen, eines davon zu essen, und deshalb gehe ich jetzt rüber zu Feinkost-Knieps und hole mir ein Lachsbrötchen.“

Sie schloss sich mir an, nahm allerdings einen Pasta-Salat. Als wir an einem der Tische im Feinkost-Imbiss standen, meinte sie: „Ich habe immer gedacht, du kommst etwa so interessant rüber wie ein Glas Wasser, aber irgendwie bist du verändert.“
„Das hat alles mit meinem neuen Klavier begonnen...“
„Du spielst Klavier? Mozart und Chopin?“
„Nein, Scott Joplin und Ray Charles. Ich hatte zwar klassischen Klavierunterricht, aber mein Herz gehört Ragtime und Boogie. Das Problem ist aber nicht das Klavier, sondern das, was ich mir damit eingeschleppt habe. Weißt du vielleicht, wie man eine Haluzination nennt, die rund und grün ist, Stielaugen hat und einem die Möbel umstellt?“ Und dann gab ich ihr eine Zusammenfassung der Geschehnisse um das Kreistier.
Sie sah mich etwas seltsam an. „Hattest du etwas verbotenes geraucht?“
„Leider nein. Das würde die Dinge zwanglos erklären, aber ich war vollkommen nüchtern. Und nein, ich erzähle dir nicht wilde Geschichten, um dich zu verkohlen. Allerdings kann ich mich auch nicht dafür verbürgen, dass alles wahr ist, sondern nur dafür, dass ich es so erlebt habe. Das ist der knifflige Punkt: Ich alleine kann objektive Wahrheit nicht von purer Einbildung unterscheiden. In meinem Kopf sieht beides gleich aus.“
„Ist das eine Einladung an mich, die Sache zu überprüfen?“ fragte sie mit einem Lächeln.
„Wenn du es so auffassen willst“, fand ich den Mut zu antworten.

Ich hatte ehrlich gesagt nicht wirklich damit gerechnet, aber nach der Arbeit fuhren wir tatsächlich zusammen zu meiner Wohnung. Ich war mir nicht ganz sicher, was ich hoffen sollte: Wenn es kein Kreistier gab, war mit meinem Kopf eindeutig etwas nicht in Ordnung, und das wäre gar keine gute Nachricht. Andererseits, wenn auch Nina (so hieß meine Kollegin) das Kreistier sah, dann hauste tatsächlich ein sehr fremdartiges Wesen in meinem Wohnzimmer, und das warf dann ein Bündel ganz anderer Fragen auf.
So kamen wir bei mir zuhause an und betraten mein Wohnzimmer. „Also, zumindest das Klavier gibt es wirklich“, sagte sie. „Und mir gefällt, wie du deine Wohnung eingerichtet hast – ganz anders, als ich gedacht hätte, aber es passt zu dir. Aber ansonsten...“
Kein Kreistier. Nicht gut, dachte ich. Ich möchte, bitte, nicht wirklich verrückt sein. Es war ganz lustig gewesen, mit diesem Gedanken zu spielen, aber jetzt fing er an mir Angst zu machen. „Falls du hier bist, zeige dich bitte“, murmelte ich, „und falls es dir nichts ausmacht, dass Nina dich kennen lernt.“ Die sah mich etwas seltsam an, und dann wurden ihre Augen plötzlich groß, als sie etwas hinter mir bemerkte. Eine wispernde Stimme sagte: „Ich war mir nicht sicher, ob es dir recht wäre, wenn mich jemand zu Gesicht bekommt. Ich bin hoch erfreut, noch einen weiteren interessanten Menschen kennenzulernen.“
Es wurde ein bemerkenswerter Abend. Wir unterhielten uns lange angeregt mit dem Kreistier, bis es dann irgendwann meinte, es hätte noch etwas ungemein wichtiges zu erledigen, und sich verabschiedete. Wir waren uns aber ziemlich sicher, Nina und ich, dass es nur eine freundliche Ausrede gesucht hatte, um uns diskret allein zu lassen. Was eine sehr gut Idee war, wie sich im weiteren Verlauf des Abends zeigte, aber das ist eine andere Geschichte, und die geht nur Nina und mich etwas an.

© P. Warmann