Noch einmal der Engel.

Es war an einem Donnerstagmorgen, ich war gerade aus der S-Bahn gestiegen und fädelte mich in die Menschenmassen ein, die im Bahnhof in Richtung Ausgang strömten. Ich ging in Gedanken durch, was ich an diesem Tag vorhatte – ich wollte in der Universitätsbibliothek noch ein paar Zeitschriften durchgehen und dann weiter an meiner Doktorarbeit schreiben –, als eine freundliche Stimme neben mir sagte: „Ein schöner Morgen, oder?“
Ich starrte den Typen an, der ganz plötzlich neben mir aufgetaucht war. Groß, schwarze Jeans und eine schwarze Lederjacke, ein irgendwie lilafarbenes T-Shirt, schwarze Locken, die lang über die Schultern fielen, und eine verspiegelte Sonnenbrille ... oh ja, ich kannte die Stimme, und ich kannte den Mann. Obwohl ‘Mann’ vielleicht nicht ganz die richtige Bezeichnung war.
„Oh nein“, stöhnte ich, „es hätte ein wirklich schöner Tag werden können, aber wenn mein persönlicher Schutzengel auftaucht, erwarte ich eher das Schlimmste.“
„Schutzengel gibt es nicht“, stellte er richtig. „Meine korrekte Bezeichnung lautet Würgeengel, obwohl ich Todesengel vorziehe. Ich bin das Gefäß des Zornes Gottes.“
„Ja“, sagte ich grimmig, „ich weiß. Und dass du hier auftauchst, bedeutet doch wieder, dass jemand es auf mich abgesehen hat, oder?“
„Mal sehen“, sagte er zurückhaltend. „Erstmal begleite ich dich jedenfalls. Lass dich nicht stören bei dem, was du vorhast.“

Ich ging weiter und versuchte den Engel zu ignorieren, der ruhig an meiner Seite blieb.
„Warte mal“, sagte er plötzlich. „Hast du was dagegen, wenn ich mir schnell am Kiosk etwas mitnehme?“
Ich schüttelte den Kopf und stellte mich mit ihm in die Schlange. Natürlich hätte ich die Gelegenheit nutzen können, um mich abzusetzen, aber erstens hätte er mich sowieso sehr schnell wieder aufgespürt, zweitens interessierte es mich, was sich ein Engel wohl am Kiosk kaufen würde, und drittens fühlte ich mich mit ihm in meiner Nähe doch deutlich sicherer. Wenn Der da unten wieder seine Leute auf mich angesetzt hatte...

Während wir in der Schlange warteten, hörte ich mit halbem Ohr einem Typen zu, der ein paar Schritte weiter stand und vom Ende der Welt predigte.
„... und wenn das Jüngste Gericht über uns hereinbricht, wird es kein Entrinnen geben“, rief er mit volltönender Stimme. „Feuer und Schwefel werden auf die Menschen herabregnen...“
„Glaube das bloß nicht“, sagte der Engel leise.
„Wie?“ fragte ich verblüfft. „Kein Jüngstes Gericht?“
„Oh doch, aber glaube mir: ER schafft das auch ohne die billigen Spezialeffekte.“
Dann bezahlte er eine Tüte Lakritz.

„Möchtest du auch einen?“ fragte er und hielt mir die Tüte hin. Ich nahm mir eine pechschwarze Lakritzmünze.
„Engel mögen Lakritz?“ fragte ich einigermaßen verblüfft.
„Ich zumindest.“ Er grinste. „Passt doch zu meinem Image, oder? Die blondgelockten Typen stehen allerdings eher auf Pfefferminz.“

Wir standen immer noch in der Nähe des Predigers, und der kam jetzt richtig in Fahrt. „Am Ende der Zeiten wird über uns gerichtet werden“, tönte er. „Und die Gerechten werden zum Himmel auffahren.“
„Das stimmt so ungefähr“, kommentierte der Engel.
Der Prediger warf ihm einen scharfen Blick zu und verkündete: „Die Gottlosen jedoch wird der Engel des Herrn vernichten!“
„Das wüsste ich aber“, sagte der Engel trocken.
Wütend starrte der Prediger ihn an. „Wer sind Sie, dass Sie es wagen...“, keifte er. Und der Engel nahm seine Brille ab.
Ich hielt den Atem an. Ich hatte gesehen, wie ein Blick aus seinen Augen einen Mann tot zusammenbrechen ließ, und der Prediger hatte so etwas bestimmt nicht verdient. Aber der sah in die Augen des Engels und erstarrte. Einen Augenblick stand er so da, dann riss er die Arme hoch und rief: „Ich habe den Engel des Herrn gesehen!“
Er drehte sich um, wandte sich der Menge zu und rief: „Ich habe den Engel des Herrn gesehen, und wir werden alle gerettet werden! Alle, alle werden gerettet werden!“
„Jetzt hat er verstanden“, sagte der Engel befriedigt und setzte die Brille wieder auf.

„Bloß wird ihm keiner glauben“, sagte ich, als wir weiter zum Ausgang gingen.
„Ja, es ist schon seltsam“, meinte der Engel. „Wenn euch irgendein Halbverrückter erklärt, dass ihr auf ewig in der Hölle schmoren werdet, wenn ihr die falsche Sorte Aufschnitt esst, seid ihr bereit, das zumindest in Erwägung zu ziehen. Aber wenn der Herr selbst die Botschaft verkündet, die da heißt ‘Erlösung für jeden und das Ewige Leben’, dann glaubt ihm niemand.“
„Wir trauen uns nicht. Wir sind lieber immer auf das Schlimmste gefasst“, sagte ich. „Das hilft beim Überleben.“

Der Engel nickte, und wir machten uns daran, die Treppe zum Bahnhofsvorplatz hinaufzusteigen. Plötzlich blieb der Engel stehen. Er hielt seinen Arm einem Mann in den Weg, der sich an uns vorbeidrängen wollte, und sagte höflich: „Eine Sekunde bitte.“
Der Mann setzte zu einem ‘Was denken Sie eigentlich...’ an, aber in diesem Moment krachte es. Laut. Sehr, sehr laut.
Einen Moment lang sah ich nur Staub, und Steinsplitter prasselten gegen meine Hose. Dann legte sich der Staub, und ich sah, dass die Treppe kniehoch mit Schutt bedeckt war. Der Engel griff nach meinem Arm und lotste mich um den Schuttberg herum.
„Das war eine vier mal vier Meter große Verkleidungsplatte aus Granit, die im Zuge des Umbaus des Hotels Central am sechzehnten Stock angebracht werden sollte“, erklärte er sachlich. „Offensichtlich ist am Kran ein Seil gerissen.“
„Äh, ja“, sagte ich.
Oben stand eine Gruppe kreidebleicher Bauarbeiter zusammen und deutete immer wieder nach oben, aber glücklicherweise war anscheinend niemand verletzt worden.
Der Engel überquerte die Straße, und ich folgte ihm, leicht betäubt.

„Sag mal“, meinte ich, als wir zügig in Richtung Unibibliothek gingen, „was geschieht eigentlich, wenn du die Leute ansiehst? Ich dachte, dein Blick sei tödlich, aber das ist es nicht, oder?“
„Nein. Wenn ich sage, ich bin das Gefäß des Zornes Gottes, dann bedeutet das nicht, dass Gott wütend würde oder die Menschen durch mich vernichten will – er ist Liebe, vergiss das niemals. Aber ‘Zorn’ stimmt doch in gewisser Weise. Die Menschen sehen in meinem Blick die Wahrheit – was das, was sie tun oder zu tun vorhaben, vor Gott wirklich bedeutet. Der Prediger sah die Wahrheit über seinen Glauben, und die wirklich Bösen sehen, was sie hatten und verloren haben, und manchen von ihnen zerreißt es das Herz.“

Wir gingen weiter, an einem kleinen Park vorbei, wo ein Mensch am Straßenrand einen mobilen Würstchengrill aufbaute. Dort blieb der Engel wieder stehen und betrachtete versonnen einen Studenten, der eine Zigarette aus der Packung nahm und dann sein Feuerzeug zückte. Der Engel machte eine fast unmerkliche Geste mit der linken Hand, und als der Typ vor uns seine Zigarette anzünden wollte, machte es nur schnipp und wieder schnipp, aber es gab keine Flamme, nicht einmal Funken.
„Mist“, sagte er, steckte das Feuerzeug wieder weg und ging weiter. Der Engel beachtete ihn nicht mehr, sondern wandte sich dem Würstchenverkäufer zu.
„Entschuldigen Sie“, sagte er freundlich, „irre ich mich, oder strömt bei Ihnen Gas aus?“
Der Mann zuckte zusammen und starrte auf die Propangas-Flasche unter seinem Grill. Hastig drehte er an einem Regler.
„Um Himmels Willen!“ rief er. „Sie haben Recht! Wie konnte das passieren? Der kleinste Funke hätte eine Explosion auslösen können – wie gut, dass Sie das noch bemerkt haben.“
Der Engel nickte freundlich, und wir gingen weiter.

„Äh, Entschuldigung“, sagte ich vorsichtig. „Das waren keine Zufälle, oder? Erst die Steinplatte, dann fast eine Explosion – galt das mir?“
„Ja“, bestätigte der Engel ruhig.
„Aber warum? Du hast mir mal erklärt, ich würde eine Entdeckung machen, die der Menschheit hilft, aber ist das so wichtig, dass ihr euch direkt einmischt? Und wo wart ihr, sagen wir mal, bei der Sache mit dem World Trade Center damals?“
Er sah mich ruhig und etwas traurig an. „Zu deiner zweiten Frage: Wir konnten damals nicht eingreifen, weil es eine Angelegenheit der Menschen war, und der Menschen allein. Aber diesmal ist jemand anderer daran beteiligt“, er zeigte mit dem Daumen nach unten, „und daher ist es gestattet, dir direkt zu helfen. Was dich angeht: Deine Entdeckung wird bewirken, dass zwei der fundamentalen Probleme der Menschheit ein für alle Mal gelöst werden, und Millionen, nein Milliarden von Menschen werden glücklich leben können, denen das sonst nicht möglich wäre.“
„Und so eine Entdeckung werde ich machen?“
„Das hast du schon. Du hast es sogar niedergeschrieben. Da ist so eine blaue Kladde in deiner Tasche...“
Ich starrte erschrocken auf meine Schultertasche, und er fuhr fort: „Daher ist für dich offensichtlich ein gewaltsamer Tod geplant, der nicht nur dich vernichtet, sondern auch deine Aufzeichnungen. Aber fürchte dich nicht: Ich kann dich praktisch unbegrenzt beschützen, und ich werde den Verursacher finden und unschädlich machen.“
„Oh, fein“, sagte ich nur wenig beruhigt. „Aber was hilft mir das? Selbst wenn du den erwischst, morgen kommt der nächste.“
„Nein. Es gibt nicht viele Menschen, die sich ganz und gar dem Bösen verschreiben – Jener dort unten wird Schwierigkeiten haben, jemanden zu finden, bevor deine Entdeckung veröffentlicht ist und er sie nicht mehr aufhalten kann.“
„Dann jagt Der da unten mir eben gleich sein ganzes Heer von Dämonen auf den Hals.“
Der Engel sah mich an. „Es gibt keine Dämonen. Es gibt nur Ihn, und er ist allein. Glaubst du etwa an Dämonen?“
„Nein“, sagte ich. Aber genau genommen glaubte ich auch nicht an Engel.

„Aber du hast Recht“, sagte er nachdenklich. „Ich sollte diese Sache hier beenden. Ich darf nicht zögern, nur weil ich hoffe... Also gut. Komm!“
Er zog mich auf einen Fußgängerüberweg, wo die Ampel für uns soeben auf Grün umgesprungen war.
Wir überquerten die Straße, eine vierspurige, breite Straße, und dann wechselte er plötzlich auf meine andere Seite, ging dort, wo ich eben noch gegangen war, und dann sah ich aus dem Augenwinkel das Auto auf uns zuschleudern, viel zu schnell, und dann war es da, streifte mich ganz leicht, nur ein Schubser, der mich stolpern ließ, aber ihn traf es voll. Es schleuderte ihn über die halbe Fahrbahn, und er krachte auf den Boden, direkt neben dem Bürgersteig, vor die Füße von zwei Jungen, vielleicht siebzehn Jahre alt, die dort standen. Als er aufschlug wusste ich, dass kein Mensch diesen Unfall überleben könnte. Aber er war doch ein Engel...

Trotzdem lag er da, auf dem Rücken, bewegungslos, um seinen Kopf eine Blutlache, die schnell größer wurde, die Brille zerbrochen neben ihm, seine Augen weit offen.
Ich wollte zu ihm laufen, aber da hörte ich die Jungen sprechen, ganz deutlich, wie direkt neben meinem Ohr.
„Nein“, sagte der eine entsetzt, „nein, nein.“
„Ach, komm schon“, meinte der andere,„dann haben wir eben den Falschen erwischt. Wir kriegen den Richtigen schon noch. Komm, flenn nicht rum, irgendwie ist das hier doch auch ziemlich cool. Sieh mal, das ganze Blut!“
„Nein“, stammelte der andere. „So sollte das nicht sein. Wir sollten doch nur diesen einen erledigen. Die Stimme aus der Kristallkugel hat doch gesagt, er gibt uns diese Kräfte, wir erledigen nur den einen, dann bekommen wir alles, das Geld und so weiter. Aber doch nicht so!“
„Wieso nicht? Ist doch cool so. Weißt du was, wir warten, bis der Typ wieder in die S-Bahn steigt, dann lassen wir den Zug entgleisen, direkt im nächsten Bahnhof. Das wird spannend!“
Der erste Junge starrte ihn an, dann drehte er sich um und rannte davon.
„Wichser“, sagte der andere und zückte sein Handy. „Jetzt mache ich erstmal ein Erinnerungsfoto. Ich will das Blut draufhaben und die Augen...“
Er beugte sich vor, über den zerschmetterten Körper vor sich, und dann schrie er, schrie so hell und laut, dass es fast nichts Menschliches hatte. Dann brach er zusammen.

„Ich hatte gehofft, sie würden beide zur Einsicht kommen“, sagte eine Stimme neben mir betrübt. Ich drehte mich um, und da stand der Engel. Ich sah auf die Straße, und da lag kein Körper mehr.
„Aber ein Dutzend Leute hat den Unfall gesehen!“
„Die Erinnerung ist in ihren Köpfen schon verblasst. Sie denken, sie waren erschrocken über einen Jungen, der zusammenbrach. Bis auf ihn.“ Er zeigte auf den Autofahrer, der auf uns zugeschleudert war und jetzt zitternd neben seinem Wagen stand. „Er hat Tabletten genommen, weißt du. Jetzt erinnert er sich an einen Unfall, bei dem er beinahe einen Mann überfahren hat, und er wird sein Leben überdenken.
Also gut, ich muss los. Wir sehen uns irgendwann wieder.“
„Das fürchte ich auch“, brummte ich. „Oh, warte mal. Eine Frage habe ich: Wenn du Sachen wie diese so leicht geregelt bekommst, wieso macht Der da unten sich überhaupt noch die Mühe, seine Leute auf mich anzusetzen?“
Er lächelte. „Er glaubt nicht an Engel.“

© P. Warmann