In der Teestube.

„Was für eine schöne Teestube“, sage ich zu meinem Neffen, und er lächelt und antwortet: „Ich wusste, dass sie dir gefallen würde.“
Ich sehe mich um: ein recht großer heller Raum mit altem Bohlenfußboden, die Wände und die niedrige Decke weiß gekalkt, rundum viele kleine Fenster, echte altmodische Doppelfenster mit Fensterkreuzen und kleinen Scheiben und Blumen auf den Fensterbänken. An diesem Nachmittag ist die Teestube gut besucht, mein Neffe führt mich zu einem der wenigen noch freien Tische.
Ich lasse mich auf dem passend altmodischen gepolsterten Stuhl nieder und überfliege die Karte. „Wenn mich meine Lieblingstante endlich einmal besucht, wollte ich sie zumindest stilvoll ausführen“, sagt mein Neffe und lächelt wieder. „Habe ich deinen Geschmack getroffen?“
„Oh, unbedingt“, sage ich. „Sie erhalten die Atmosphäre der Zeit und machen weder auf Pferdegeschirr-pseudorustikal noch tappen sie in die Landhausstil-Streublümchen-Falle.“ Anerkennend betrachte ich den Tisch, auf dem über einer Unterdecke in schlichtem gedämpftem Rot eine weiße Häkelspitzendecke liegt.

Eine Kellnerin erscheint an unserem Tisch. „Ich kann dir den Darjeeling empfehlen, aber der Oolong ist auch sehr gut“, meint mein Neffe. Ich wähle den Oolong, und dazu schwedischen Zwieback und Orangenmarmelade. Mein Neffe entscheidet sich für Darjeeling und fragt, ob es noch frische Scones gäbe, aber bevor die Kellnerin antworten kann, wird es plötzlich fürchterlich laut. Aus der Küche – so nehme ich zumindest an – ertönt ein entsetzlicher Krach, als wenn viele Teller durcheinandergeworfen würden, aber ohne dass etwas in Scherben geht.
„Wir haben etwas Ärger mit den fliegenden Untertassen“, sagt die Kellnerin entschuldigend. „Überhaupt sind die Dinge heute etwas unruhig.“ Dann bestätigt sie, dass gerade noch eine Partie Scones gebacken würde, was meinen Neffen sehr freut.

Als sie gegangen ist, sagt mein Neffe: „Mach dir keine Gedanken, dass die Dinge außer Kontrolle geraten könnten. Falls es zu turbulent werden sollte – ich habe meine Dienstwaffe dabei.“
Ich winke ab, und dann wendet sich unser Gespräch der Kunst zu. „Ja, ich war in der Aufführung der ‘Schlüssellochstücke’“, antworte ich meinem Neffen auf seine entsprechende Frage. „Ich fand die Inszenierung sehr gut, aber es war doch anstrengend, sich die ganze Zeit diese kleine Papptür vor das Gesicht zu halten und mit einem Auge durch das Schlüsselloch zu spähen. Angeblich soll das ja den Eindruck vermitteln, wirklich die Szenen heimlich zu belauschen, aber ich weiß nicht ... in einem Theatersaal kommt einfach keine echte Intimität auf.“
Er nickt und erzählt mir von einer Ausstellung neuer holländischer Ruinenbaukunst und meint, es wäre doch ein himmelweiter Unterschied zwischen einer wenn auch noch so kunstvoll erbauten Ruine und einem wirklichen zerfallenen Gebäude. Ich kann ihm da nur zustimmen.

Während wir uns unterhalten und auf unsere Bestellung warten, betrachte ich das erstaunlichste und interessanteste Detail in diesem Raum: Neben der Tür zur Küche ist eine Art Theke, und dahinter hängt in einer Nische eine riesige kupferne Teekanne. Sie muss zwanzig oder mehr Liter Wasser fassen und ist an drei ebenfalls kupfernen Ketten über einer Steinplatte aufgehängt, aus der ein Kranz von Gasflammen aufsteigt. Offensichtlich wird hier das Wasser für den Tee erhitzt.
Eine junge Frau hinter der Theke gießt ihn in kleinen Kannen auf, und eine sinnreiche Vorrichtung aus Gewichten und Gegengewichten bewirkt, dass sie die Riesenkanne ohne Mühe zum eingießen kippen kann. Die Kannen warten dann in einer langen Reihe auf der Theke, während der Tee in ihnen zieht.

Die Kellnerin tritt an unseren Tisch und stellt eine Teetasse darauf – beziehungsweise darüber, denn die Tasse schwebt auf ihrer Untertasse gut zwei Zentimeter über dem Tisch. Ich muss lächeln, aber dann erinnere ich mich an den Krach aus der Küche und runzle die Stirn.
„Machen Sie sich keine Gedanken, bei Tisch sind sie fügsam“, beruhigt mich die Kellnerin. „Sie schlagen nur manchmal Krach, wenn sie aus dem Geschirrspüler kommen und lieber noch eine Runde mitfahren würden.“ Dann schenkt sie mir Tee ein.

Ich streiche mir etwas Marmelade auf den Zwieback, nehme einen Bissen und lehne mich zurück. „Es ist sehr gemütlich hier“, sage ich und werfe einen Blick zum Fenster, gegen das gerade wieder ein kalter Regenschauer schlägt. Hier drinnen aber ist es warm, es duftet nach frischem Gebäck, und die große Kupferkanne stößt ein Dampfwölkchen aus, mit einem Geräusch, das wie ein leises Schnaufen klingt.
Ich greife nach der Teetasse und nehme einen Schluck Tee – oder ich will es, aber der Tee... Ich setze die Tasse ab und betrachte sie, halte sie schräg, kippe sie noch ein Stück... „Ich fürchte, mein Tee klemmt“, stelle ich leicht belustigt fest.
„Was?“ Mein Neffe wirft einen Blick in meine Tasse. „Oh, tatsächlich. Das kommt bei diesem naturbelassenen Oolong häufiger vor, fürchte ich. Zieh ihm eins mit dem Löffel über, dann wird er schon loslassen“, empfiehlt mein Neffe und grinst.
Ich greife zu dem zierlichen silbernen Teelöffel und stupse den Tee damit an, aber er rührt sich nicht. Energischer versuche ich ihn mit dem Löffel anzustoßen, aber auch das bewirkt nichts. Er zittert nur ein wenig, was aussieht, als würde er über meine vergeblichen Bemühungen kichern.
„Oh je“, sagt mein Neffe, „der hat sich wirklich ganz hübsch festgekeilt. Soll ich die Kellnerin rufen?“
„Noch nicht“, sage ich und löse unauffällig die Brosche von meinem Pullover. Dann, mit einer schnellen Handbewegung, stoße ich dem Tee die Broschennadel in sein Hinterteil. Er macht glips, schüttelt sich und gibt seinen Widerstand auf. Befriedigt trinke ich einen langen Schluck.

Dabei fällt mir auf, was mein Neffe sich auf seine Scones streicht. Ich hätte mit Butter oder auch mit Clotted Cream gerechnet, aber tatsächlich nimmt er ein fast klares, durchsichtiges Gelee, in das etwas eingeschlossen ist, das wie feine Goldflitter aussieht.
„Was ist denn das – Staubgold in Aspik?“ frage ich.
Er lacht. „Um Himmels Willen, nein. Das ist konservierter Sonnenschein. Hier oben ist das eine Spezialität – kanntest du das nicht?“
„Nein, davon habe ich noch nie gehört“, sage ich verblüfft. „Wie schmeckt das denn?“
„Wie edle, sonnengereifte Früchte, nur ohne die Frucht“, erklärt er. „Das ist es doch, was den Unterschied zwischen einer unreifen und einer wirklich voll ausgereiften Frucht ausmacht: der darin eingeschlossene Sonnenschein. Das bringt den Geschmack, und das macht sie so gesund. Wenn du genau hinsiehst, kannst du die Teilchen auch in deiner Marmelade erkennen.“
Ich hebe meinen Zwieback ins Licht, und tatsächlich: Zwischen den feinen Orangenschalenstreifen entdecke ich ein goldenes Glitzern.

Der Nachbartisch ist inzwischen frei geworden, und die Kellnerin bürstet dort gerade ein paar verirrte Krümel von der Tischdecke. Plötzlich stößt sie einen unterdrückten Schrei aus, als die Krümelbürste sich in ihrer Hand zu winden beginnt und dann mit einem Ruck freikommt. Sie zischt knapp über unseren Tisch – ich ducke mich – und saust dann in einer wilden Kurve durch den Raum.
„Vorsicht, ein wildgewordener Handfeger!“ ruft die Kellnerin und stürzt hinterher. Ihre Kollegin von hinter der Theke kommt ihr zur Hilfe, und nach einer kurzen, wilden Verfolgungsjagd gelingt es ihnen, den Ausreißer an der Theke in die Ecke zu treiben. „Pack ihn am Bürzel!“ ruft die Kollegin, aber die Kellnerin verfehlt ihn knapp. Der Handfeger entkommt ihr mit einem kurzen Schlenker, der ihn mit lautem Klong! gegen die große Kupferkanne prallen lässt. Die Frauen stürzen sich auf ihn, und obwohl er wirbelt und noch einige Male gegen die Riesenkanne knallt, bekommen sie ihn schließlich zu fassen.
Etwas außer Atem, aber triumphierend hält die Kellnerin ihren Fang hoch, und der Saal spendet ihr fröhlich Applaus. Dann aber fährt sie erschrocken herum, denn die Kupferkanne gibt ein sehr verärgert klingendes Deckelklappern von sich und schüttelt sich, dass die Ketten klirren. Beide Frauen weichen zurück, und mein Neffe sagt halblaut: „Oh-oh, die ist aber richtig wütend.“
Da hat er unzweifelhaft Recht. Die Kanne gibt ein Zischen von sich wie eine angreifende Schlange und stößt einen langen Dampfstrahl aus. Sie schüttelt sich noch einmal, heftiger jetzt, und reißt die Ketten von den Haken, an denen sie hängen. Dann macht sie einen Satz, und noch einen, direkt über die Theke, und landet mitten im Saal.
Einige Leute schreien auf und wollen aufspringen, aber mein Neffe steht bereits und breitet die Hände aus und ruft: „Bleiben Sie sitzen! Bitte bleiben Sie sitzen, und rühren Sie sich nicht, und bitte seien Sie so still wie möglich – reizen Sie sie nicht.“ Dann zieht er seine Dienstwaffe.
Die Kanne wendet sich ihm zu – das heißt uns, schließlich stehe ich neben ihm – und schnaubt noch einmal Dampf, in kurzen Stößen, und es klingt ziemlich bedrohlich. Sie bewegt sich langsam auf uns zu, nimmt uns ins Visier, denke ich, und zieht die Ketten enger an den Körper.
Mein Neffe hält die Waffe auf sie gerichtet und sagt halblaut: „Ganz ruhig bleiben, nicht die Nerven verlieren. Ich werde damit fertig, nur keine Panik.“
„Da muss schon mehr geschehen als das hier, damit ich in Panik gerate“, sage ich, und er antwortet, ohne sich umzudrehen: „Ich weiß, aber ich rede ja auch nicht mit dir, sondern mit mir“, und dann setzt die Kanne zum Sprung an, und mein Neffe schießt. Er trifft, es klingt wie ein riesiger Gong, und dann schießt er noch zweimal, und trifft wieder. Die Kanne sackt in sich zusammen und bleibt offensichtlich benommen liegen.
Ein Mann kommt aus der Küche gerannt und bringt eine Decke, und zusammen wickeln er und die beiden Frauen die Kanne darin ein und zerren sie aus dem Raum. Sie wehrt sich nicht.

Mein Neffe steckt die Waffe weg und lässt sich auf den Stuhl sinken. „Puh, das war knapp“, sagt er. „Die Dinge geraten wirklich schnell außer Kontrolle an einem Tag wie diesem. Es tut mir leid, dass du bei unserem gemütlichen Teestubenbesuch in solche Turbulenzen geraten musstest.“
„Ach, das ist nichts gegen das, was uns letztlich auf der Landwirtschaftsausstellung passiert ist“, sage ich. „Hatte ich dir schon erzählt, wie dort die große Kartoffel-Stampede losbrach?“

© P. Warmann