Alles beginnt damit, dass meine beste Freundin, ihr Name ist Tina, beschlossen
hat, mit ihrem Freund zusammenzuziehen. Das bedeutet, ihre Sachen und Möbel
in die nächste große Stadt zu schaffen, wo die beiden eine gemeinsame
Wohnung gemietet haben. An dem Umzug beteiligt sind sie, ihr Bruder, ihr Freund,
er heißt Tim, und ich als ihre beste Freundin.
Diese ganze Umzugsgeschichte läuft völlig normal ab und wäre
es eigentlich nicht wert, davon zu erzählen ... wenn ich in diesem Zusammenhang
nicht die Verwandten ihres Freundes kennen gelernt hätte.
Der erste von ihnen ist Tims Cousin Tommy, der uns in der neuen Wohnung erwartet.
In gewisser Weise bildet er das Kontrastprogramm zu Tim: der ist groß,
blond, langhaarig, freundlich, fröhlich und hat eine Vorliebe für
helle Farben und Ledersachen mit eingeprägten geschmackvollen Drachen.
Sein Cousin ist genau so groß und breitschultrig, aber dunkelhaarig,
blickt eher düster drein, ist von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet
und trägt an der linken Hand einen schweren silbernen Totenkopfring.
Man könnte sich fürchten, aber sein schwarzes T-Shirt ist bedruckt
mit dem Foto eines lachenden Säuglings und der Unterschrift Markus.
Irgendwann frage ich, wer Markus ist.
Mein Sohn, sagt er, gerade elf Wochen alt, und grinst.
Das macht ihn dann richtig sympathisch.
Ansonsten verläuft der Umzug in den üblichen Bahnen, die Wohnung
macht momentan noch den Eindruck, als sei hier ein Möbelhaus-Katalog
explodiert, und als wir irgendwann eine komplette Kücheneinrichtung abholen,
die in einem Keller ein paar Straßen weiter zwischengelagert ist, darf
ich den verantwortungsvollen Posten des Türstoppers übernehmen.
Das heißt, die Tür zum Treppenhaus ist eine schwere Stahltür
mit kräftigem Schließer, der Haken, der sie offenhalten sollte,
ist aus der Wand gerissen, ein Keil ist auf die schnelle nicht aufzutreiben,
und da ich beim schleppen der Möbel sowieso keine große Hilfe wäre,
lehne ich mich mit dem Rücken gegen die Tür und halte sie offen.
Wahrscheinlich bin ich Deutschlands einziger Türstopper mit Doktortitel,
denke ich. Alle paar Minuten kommen Möbel bugsierende Menschen an mir
vorüber und fragen mich, ob mir nicht langweilig sei. Ich verneine.
Mit der Kücheneinrichtung geht es wieder zurück in die Wohnung,
wo Cousin Tommys Vater zu uns stößt. Der ist wirklich eine beeindruckende
Erscheinung: so groß und breit (und schlank) wie sein Sohn und sein
Neffe, mit lang über die Schultern fallenden Haaren, grau, aber dicht
und voll, und an der linken Hand trägt er an jedem Finger einen massiven
Ring.
Darauf angesprochen erklärt er fröhlich: Schlagringe sind
verboten, aber Schmuck kann jeder tragen, so viel er will.
Und Cousin Tommy ergänzt: Wenn ich dich mit der Linken satt erwische,
hast du nicht nur den Kiefer gebrochen, sondern auch noch nen schicken
Totenkopf-Abdruck am Kinn.
Bemerkenswerte Familie, denke ich, in die meine Freundin da einheiratet.
Während die Männer fachgerecht und in Rekordzeit die Küchenmöbel
an die Wand dübeln, hängen Tina und ich die Lampen auf und packen
ein paar wichtige Kartons aus.
Als das Tagewerk getan ist, schlägt Tommy vor, noch ein Bier trinken
zu gehen, er kenne eine nette Kneipe in der Nähe. Also ziehen wir los.
Ich habe wenig Erfahrung mit Kneipen, netten oder anderen, aber diese ist
durchaus was Eigenes, wie meine Großmutter gesagt hätte.
Der Wirt ist ein hagerer Bursche, der trotz merklich zurückweichendem
Haaransatz die Haare zu einem Zopf gebunden hat und auf den Namen Hotte hört.
Er trägt einen goldenen Piratenohrring und eine wildlederne Weste. Der
Großteil der Gäste würde mich nachts in einer dunklen Straße
spontan die Straßenseite wechseln lassen, und an prominenter Stelle
an der Wand fletscht der ausgestopfte Kopf eines plattschnauzigen Hundes die
Zähne. Ich würde ihn grob zur Spezies Kampfhund zählen,
und wahrscheinlich gibt es auch eine Geschichte dazu, die ich aber nicht wirklich
kennen muss.
Mein Magen sagt mir, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen
habe. Ich frage, was der Laden so im Angebot hat. Tim meint: Das Bier
ist gut, aber essen solltest du hier besser nichts.
Wieso? fragt sein Onkel und grinst. Mögt ihr etwa keine
Salmonellen?
Wir haben die besten Salmonellen der Stadt, sagt der Wirt gekränkt,
dafür sind wir weithin bekannt.
Ich entscheide mich dann aber doch lieber für Bratkartoffeln.
Mit Sülze oder mit eingelegtem Hering? kommt die Nachfrage.
Bitte mit ohne alles.
Mit ohne alles kostet Aufpreis, erklärt der Wirt trocken.
Wegen Sonderwünschen? Muss ich wohl so akzeptieren.
Die Bratkartoffeln kommen erstaunlich schnell, offensichtlich aus einer großen
Pfanne in der Küche, in die ich durch eine offene Tür einen Blick
werfen kann. Sie sind außerdem erstaunlich genießbar.
Während ich esse, unterhalten sich Tommy, sein Vater und Wirt Hotte angeregt
über ihre Erfahrungen mit Gefängnisessen. Die einhellige Meinung
scheint zu sein, dass das Essen im Knast besser ist als sein Ruf, man aber
keine unüberwindliche Abneigung gegen Fruchtsalat aus der Konserve haben
darf. Der Bruder meiner Freundin scheint ernstlich zu überlegen, sich
seine Schwester unter den Arm zu klemmen und sie aus dieser Familie zu retten.
Ich spieße unterdessen mit der Gabel die nächste Bratkartoffel-Scheibe
auf, oder besser, ich versuche es, aber sie leistet Widerstand. Ich betrachte
sie geneuer, aber sie sieht nicht anders als die anderen aus sie ist
nur hart, oder besser zäh, wie ein Stück Leder etwa. Ich lege sie
an den Tellerrand, piekse in die nächste, die sich völlig normal
verhält, die folgende auch, und dann gerate ich wieder an eine, die sich
nicht aufgabeln lassen will. Seltsam. Angebrannt sind sie jedenfalls nicht,
sie sind nicht wesentlich dunkler als die anderen, normalen. Am ehesten wirken
sie wie mumifiziert ... hm.
Während ich noch darüber nachgrüble, bricht weiter hinten in
der Kneipe ein mittlerer Aufruhr los. Zwei Typen brüllen einander an,
was zuerst niemanden zu stören scheint, auch nicht, als sie sich gegenseitig
schubsen, aber als der eine den anderen zu würgen beginnt, ruft der Wirt
irgendwas in Richtung Küche. Von dort erscheint ... der Koch, nehme ich
an, aber wenn ich ihn mir so ansehe, denke ich: Falls ein Yeti sich entschließen
sollte, sein heimatliches Gebirge zu verlassen, um die Zivilisation zu erkunden,
und würde er sich rasieren, so dass nur eine weißblonde Stoppelfrisur
übrig bliebe, dann würde er genau so aussehen.
Der rasierte Yeti marschiert auf die Streithähne zu, dann brüllt
er einmal kurz, und ich glaube, ich sehe Reißzähne aufblitzen,
und dann verlassen die beiden Typen rasch und still das Lokal. Befriedigt
zieht sich der Yeti wieder in die Küche zurück, und dort enthüllt
er mir das Geheimnis der mumifizierten Bratkartoffeln: Er schüttet eine
Portion frischer Kartoffelscheiben in die Pfanne und rührt sie unter.
Aha: Die Pfanne wird also nicht leergemacht, und ein Scheibchen, das ganz
am Anfang des Tages zu braten beginnt, kann stundenlang in der Pfanne bleiben,
bis es dann irgendwann doch auf einem Teller landet.
Ich überlege laut, ob ich das Dutzend hartgeschmorter Teile, die auf
meinem Teller zurückgeblieben sind, einpacken und mitnehmen soll
sie müssten sich hervorragend als Kaminanzünder verwenden lassen.
Dann entscheide ich mich dagegen, weil ich leider keinen Kamin habe.
Der Rest der Runde nimmt das Thema auf, kommt von ungenießbarem Essen
zu unguten Getränken und diskutiert dann, was das grässlichste genießbare
Getränk wäre. Meine Freundin schlägt Bier mit Johannisbeerkompott
vor (sie nennt es Kir brutal), und dagegen haben weder Eierlikör
mit Lakritze noch Tomatensaft mit Apfelkorn und einem Spritzer Maggi (ein
prima Katermittel) eine Chance. Dann toppt ihr Bruder dies mit der Erinnerung
an eine Tante, die warmes Eierbier als Schlaftrunk empfahl. Das wiederum weckt
in mir die Erinnerung an das Rezept für Westfälischen Bierpunsch,
der warmes Bier, Pumpernickel und Schokolade enthält. Alle sind sich
einig, dass das an Grässlichkeit nicht mehr zu überbieten ist, und
Wirt Hotte erkennt mir den ersten Preis zu: Heute sind für mich Speisen
und Getränke frei. Nun, zumindest heißt das, dass ich die Bratkartoffeln
nicht bezahlen muss.
Einige Biere später gehen wir, und obwohl Tinas Bruder immer noch nicht
ganz überzeugt scheint, mag ich die Familie ihres Freundes und denke,
dass sie mir an diesem Tag zu einigen bemerkenswerten Erfahrungen verholfen
hat.
© P. Warmann