Randfiguren.

Wenn ich jetzt zuhause wäre, denke ich, dann würden geflügelte Echsenwesen aufsteigen und meine Habseligkeiten durch die Fenster in das obere Stockwerk tragen und dunkle Steinriesen die schweren Bücherkisten in die Bibliothek schleppen. Aber das hier ist die Menschenwelt, und das heißt, dass Leon und ich alleine vor dieser Aufgabe stehen. Nur wir beide sind hier, um die Bücher und meine wenigen anderen Besitztümer aus dem Transporter in das neue Haus zu schaffen. Wobei ich keine große Hilfe bin: Ich kann nicht schwer tragen.
Leon dagegen greift sich den nächsten mit meinen Büchern vollgepackten Karton, als wäre er nicht mehr als eine größere Packung Kekse. Dafür beneide ich ihn, aber schließlich ist er ein Tiger.

Ich sehe mich um. Mein Nachbar zur Rechten ist dabei, etwas an dem Zaun zu reparieren, der unsere Grundstücke trennt, und wirft interessierte Blicke in unsere Richtung. Ich gehe zu ihm und stelle mich vor.
„Hallo, ich bin Ihr neuer Nachbar. Sebastian Fürst.“
„Gernot Krüger“, sagt er, und wir schütteln uns die Hand.
„Das Haus stand schon ziemlich lange leer“, meint er, „wir sind froh, dass es jetzt wieder bewohnt ist. Es ist sehr hübsch, nur vielleicht ein wenig düster.“ Dann sieht er mich an und schafft es gerade noch, nicht Äh zu sagen. Ich weiß, was er sieht: Einen jungen Mann, etwas zu dünn, zu blass und ganz in Schwarz gekleidet. Vermutlich stuft er mich als genau die Art von Gothic-Typen ein, der eine wilhelminische Stadtvilla aus dunklen Ziegeln kauft, mit zu vielen Erkern und Türmchen und Buntglas in den Fenstern.
Ich lächle. „Uns gefiel das Haus sofort, obwohl drinnen ziemlich viel gemacht werden musste.“
„Ihnen?“ fragt er und blickt zu Leon, der gerade wieder aus dem Haus kommt. Vermutlich fragt er sich, ob wir ein Pärchen sind und wie wir zusammenpassen, der blasse Typ in Schwarz und Leon mit seinen breiten Schultern, den flammend roten Haaren und der Vorliebe für etwas zu bunte Kleidung. Heute trägt er ein rostfarbenes Hemd über einem flauschigen T-Shirt in Wollweiß und eine schwarze Jeans. Aber wie gesagt, er ist ein Tiger, es sind seine Farben.
Ich muss wieder lächeln. „Meine Frau und ich. Sie kommt mit dem großen Möbelwagen nach, ein paar Freunde helfen uns beim Umzug.“
Wir unterhalten uns noch ein wenig, und dann kommt der Möbelwagen.

Serafine springt heraus und fällt mir in die Arme. Einen langen Kuss später begrüßt sie Leon, und ich finde Zeit, sie zu betrachten. Heute, anlässlich des Umzugs, trägt sie ein praktisches Oberteil in Laubgrün und eine gewöhnliche Jeans, aber sie sieht atemberaubend aus. Die Krügers – bei ihm ist jetzt eine Frau, die offensichtlich seine Frau ist, nach den zusammenpassenden Eheringen zu schließen – sehen herüber und fragen sich anscheinend, wie sie und ich zusammengefunden haben. Serafine ist so ziemlich das Gegenteil von mir: blond, mit blauen Augen und voller Leben. Sie ist wie ein Sonnentag im Garten, wenn man unter einem blauen Himmel umgeben von Blumen unter einem Baum sitzt, sie ist eine Prinzessin und sie ist meine Frau.
Jetzt steigt auch der Fahrer aus dem Wagen. Er ist ein Hüne mit eisblonden Haaren, nicht mehr jung und ein guter Freund. Am Gartentor bleibt er stehen. „Fürst Sebastian von den Schatten“, sagt er mit einer Stimme, die so laut ist wie er groß, „ich höre Euren Namen und erzittere. Erlaubt mir, Euer Reich zu betreten.“
Das war jetzt eine sehr formelle und ziemlich altmodische Begrüßung, aber er hat einen Grund dafür. Als mein Onkel, der Dunkle König, mir erlaubt hat, mich in der Menschenwelt niederzulassen, hat er mich zu einer Art inoffiziellem Botschafter gemacht, und dieses Grundstück ist nach den Gesetzen der Märchenwelt tatsächlich ein Stück des Schattenreiches. Und da er, bevor wir Freunde wurden, einen Mordauftrag mich betreffend angenommen hatte (wozu er jedes Recht hatte), besteht diplomatisch gesehen eine gewisse Unsicherheit seinen Status betreffend – soll heißen, mein Onkel nimmt ihm die Sache etwas übel.
„Sir Rupert Schildbrecher“, sage ich also genauso förmlich, „seid willkommen im Reich des Dunklen Herrschers und in meinem Haus.“ Dann geben wir uns beide die Hände und müssen lachen.
Die Krügers drüben am Zaun sehen sich an, dann zuckt sie mit den Schultern. „Vermutlich irgendsolche Live-Rollenspiel-Freaks“, höre ich sie sagen. Dann macht sie sich daran, das Laub vom Rasen zu harken, und er widmet sich wieder seinem Zaun.
Ja, denke ich, sie hat Recht, nur ist es genau andersherum: Was wie das gewöhnliche Leben von Menschen aussieht, sind Rollen, die wir spielen – wir, Prinzessin, Schattenfürst, Tiger und Eisbär, denn Rupert ist ein Eisbärkrieger im Ruhestand, der im Augenblick in menschlicher Gestalt auftritt.

Er und Leon haben sich daran gemacht, die Möbel aus dem Wagen auszuladen, und ich suche mir einen Karton, der leicht genug ist, und trage ihn ins Haus. Serafine nimmt sich auch einen, und Rupert klemmt sich den Kühlschrank unter den Arm. Auf dem Weg zur Haustür schnappt er sich mit der anderen Hand noch eine Stehlampe, und ich hoffe nur, dass niemand von den Nachbarn zusieht. Aber Menschen sind sehr gut darin, Dinge, die offensichtlich nicht sein können, einfach zu übersehen.

Darauf muss ich mich an diesem Tag noch einige Male verlassen. Irgendwann bittet der Nachbar zur Linken Rupert, den Möbelwagen ein Stück vorzuziehen, weil er etwas zu nahe an seiner Einfahrt steht. Sir Rupert tut daraufhin genau dies: Er zieht ihn mit bloßen Händen einen halben Meter vor, und das, ohne die Bremse zu lösen.
Leon dagegen sitzt etwas später im oberen Stockwerk fest, weil wir drei anderen die Treppe mit einer widerspenstigen Kommode blockieren. Also nimmt er den Weg aus dem Fenster und landet federnd auf dem hinteren Rasen. Für einen Tiger ist das natürlich keine irgendwie bemerkenswerte Sprunghöhe.

So geht unser Einzug voran, bis es ausgerechnet in dem Moment, als wir jede Menge Möbel und Kartons vor dem Haus stehen haben, erst zu tröpfeln anfängt und dann in einen ausgewachsenen Regenguss übergeht. Wir versuchen hektisch, möglichst schnell die Sachen ins Haus zu schaffen, und die Krügers kommen herübergeeilt und helfen uns. Dank ihrer Hilfe bekommt nichts Empfindliches mehr Wasser ab, als es vertragen kann. Danach laden wir sie natürlich zu Tee und Kuchen ein.
Ich mache den Tee, und Serafine trägt Apfelkuchen auf, der aus der königlichen Hofbäckerei stammt und jeden Bäcker in dieser Welt dazu bringen würde, weinend seinen Meisterbrief zurückzugeben. Wir greifen zu, auch Sir Rupert, denn Bären sind für Süßes stets zu haben, nur Leon nicht. Serafine lächelt und stellt einen zweiten Teller auf den Tisch. „Für alle...“ – sie schafft es gerade noch, nicht Tiger zu sagen – „...die keinen Kuchen mögen, gibt es Lachsbrötchen. Den Lachs verdanken wir übrigens Rupert.“
Frau Krüger – ich stelle fest, dass ich ihren Vornamen nicht weiß – probiert und findet den Lachs ausgezeichnet. „Sind Sie Angler?“ fragt sie Rupert. Der lacht. „Oh, manchmal gehe ich Fischen, aber nicht diesen Lachs. Ich bin Importeur von arktischen Spezialitäten – Wildlachs, Rentierschinken, Moosbeerenlikör, solche Sachen.“
Das bringt das Gespräch auf Berufe, und Serafine erzählt, dass sie an der hiesigen Universität studiert. „Biologie, besonders Vergleichende Verhaltensforschung. Das Institut ist weltweit führend in diesem Bereich.“ Was sie verschweigt, ist, dass sie diese Erkenntnisse auf die Wesen im Märchenland übertragen möchte. Sie ist fest davon überzeugt, dass in beiden Welten die gleichen Grundsätze gelten.
„Und was machen Sie beruflich?“ fragt Herr Krüger mich, und ich zucke mit den Schultern. „Nichts. Meine Familie ist reich.“ Das verblüfft die beiden, wohl weniger die Tatsache an sich, eher, dass ich es so offen zugebe. Dann fragt Serafine die Krügers nach ihren Berufen, und wir erfahren, dass sie in der Stadtgalerie die Ausstellungen koordiniert und er Beamter ist. Bleibt nur noch Leon, und Frau Krüger fragt: „Was machen Sie so?“
„Söldner“, antwortet Leon trocken.
„Was, jemand, der mit einer großen Wumme Leute umnietet, weil sein Auftraggeber es so haben möchte?“ fragt scharf.
Leon bleibt ruhig. „Nein, ich bin eher der Spezialist für schnelle Rein-Raus-Aktionen. Über die Mauer, bewusstlose Wachen, das Tor von innen geöffnet, etwas in dieser Art. Lautlos und schnell. Aber ich mache diese Art von Arbeit schon seit einiger Zeit nicht mehr. Ich arbeite inzwischen vorwiegend als Leibwächter.“
Die Krügers starren ihn an. Ich habe das Gefühl, dass ihnen plötzlich klar wird, dass er es ernst meinen könnte. Es ist, glaube ich, eine Mischung aus seinem Auftreten und dem Instinkt, der einem Menschen sagt, dass er einem Raubtier gegenüber steht, selbst wenn dieses ihm in menschlicher Gestalt begegnet.
Leon lächelt Gernot Krüger an. „Übrigens, Sie sind Polizist, nicht wahr? Ihr Wagen ist zwar offensichtlich privat, aber er hat einen Parkaufkleber vom Polizeipräsidium.“
Herr Krüger nickt. „Abteilung für gewerbsmäßigen Betrug und Wirtschaftsverbrechen. Sie sind ein ausgezeichneter Beobachter.“
Ja, denke ich, und du wirst mit deinen Möglichkeiten als Polizist uns alle überprüfen – Serafine und mich, aber vor allem Leon. Du wirst aber nichts finden. Unsere falschen Identitäten stammen von Leuten, die dieses Gewerbe schon seit Jahrhunderten betreiben, und sie machen keine Fehler.

Serafine, geübt in Hofempfängen seit frühester Kindheit, bringt das Gespräch geschickt auf ein anderes Thema. Wir unterhalten uns freundlich, bis Sir Rupert seinen Tee austrinkt und sagt: „Kinder, ich muss los. Ich muss noch den Wagen zurückgeben, und meine Frau wartet auf mich.“
Das läutet eine Runde von Verabschiedungen ein. Sir Rupert geht, die Krügers ebenfalls, und Serafine gibt ihnen Apfelkuchen und Lachs mit, da wir von beidem viel zu viel haben. Leon bricht ebenfalls auf, um den Transporter abzugeben, und Serafine und ich machen uns daran, auszupacken und einzuräumen. Ein anstrengender Einzugstag geht zu ende.

In den darauf folgenden Wochen leben wir uns ein. Serafine stürzt sich begeistert ins Studium und findet eine Menge Spaß daran. Ich kümmere mich um die Einkäufe, wir kochen gemeinsam, und manchmal sehe ich sie an und kann immer noch nicht glauben, dass wir wirklich zusammen sind. Irgendwann erzählt sie mir, dass es ihr genauso geht und dass ihr manchmal ganz schwindelig vor Glück ist.
Leon taucht ein- oder zweimal in der Woche auf. Nominell ist er zwar Serafines persönlicher Leibwächter und der Hauptmann unserer Leibgarde. aber die besteht aus einem Dutzend Leuten im Schattenreich, die das nebenberuflich machen und nur antreten, wenn wir eine Ehrenwache brauchen, die für wichtige Gäste Spalier steht. Und einen Leibwächter braucht Serafine hier nun wirklich nicht. Daher haben wir ausgemacht, dass Leon eigene Jobs annehmen kann, solange er in der Menschenwelt weilt. Anscheinend gibt es eine besondere Agentur, die Leuten wie ihm höchst gefährliche, extrem geheime und außerordentlich gut bezahlte Aufträge vermittelt. Mehr darf er uns nicht sagen, und wir stellen keine Fragen.

In der ersten Zeit nach dem Einzug besuchen uns einige Dunkle Wesen, die dauerhaft in der Menschenwelt leben. Keiner von ihnen hat ein wirkliches Problem, sie möchten offensichtlich nur den neuen Botschafter – und Neffen ihres Königs – kennenlernen. Ich biete ihnen Tee an und rede freundlich mit ihnen, und sie gehen stolz und befriedigt.
Irgendwann taucht ein Irrwisch auf, der mir unbedingt etwas über einen Mann erzählen muss, dann aber feststellt, dass er vergessen hat, was es war. Typisch Irrwisch eben. Serafine stellt ihn spontan als Haushaltshilfe ein, und er macht diese Arbeit gut, vor allem sehr schnell, aber überhaupt nicht systematisch. Mir verursacht es leichte Kopfschmerzen, ihm zuzusehen, wie er gleichzeitig Backofen und Fenster putzt und sich dazu noch die Haare wäscht, aber am Ende ist alles blitzblank und streifenfrei.

Die erste seltsame Sache geschieht ein paar Wochen später. Es ist spät am Abend, Serafine ist schon im Bett, aber offensichtlich ist sie noch wach und liest wahrscheinlich – ich sehe den Lichtschein unter der Verbindungstür zwischen unseren Schlafzimmern. Wir schlafen getrennt, denn sie ist ein Mensch und schläft in der Nacht, und ich kann nur während des Tages schlafen. Nachts arbeite ich an einer Chronik der Beziehungen zwischen dem Dunklen Reich und den anderen Märchenreichen. Wissenschaftlichen Ansprüchen genügt die Arbeit wahrscheinlich nicht, aber Geschichtsschreibung hat mich schon immer interessiert.
So verbringe ich die Nacht, morgens mache ich für uns beide das Frühstück, danach geht Serafine zur Uni und ich lege mich schlafen. Wenn sie zurückkommt, bin ich wieder wach, und dieser Tagesablauf funktioniert wunderbar.
An diesem Abend aber spüre ich etwas, draußen in der Dunkelheit, eine Präsenz, die mir fast vertraut ist. Ich gehe ans Fenster und sehe hinaus, aber ich kann nichts erkennen. Das liegt nicht an der Dunkelheit: Ich habe Nachtaugen, und die Menschen füllen ihre Nächte sowieso mit viel zu viel Licht. Sie fürchten die Finsternis noch immer. Ich kann einfach deshalb nichts erkennen, weil das Etwas sich über mir und auf der anderen Seite des Hauses befindet. Serafines Fenster geht in diese Richtung, daher gleite ich unter der Tür hindurch in ihr Zimmer.
Hatte ich vergessen, das zu erwähnen? Nachts nehme ich meine wahre Gestalt an, und die ist halbmateriell. Das bedeutet, dass ich jede Dichte annehmen kann von fest und körperlich bis zu verwehendem Dunst. Ansonsten sehe ich aus wie immer, nur meine Eckzähne sind dann ein wenig länger und sehr spitz.
Serafine kennt mich natürlich auch in dieser Gestalt. Sie lacht und sagt: „Du hättest auch die Tür benutzen können“, dann sieht sie mich ans Fenster gehen und hinausspähen.
„Was ist dort?“ fragt sie.
„Eine zwei Meter große Vampirfledermaus“, antworte ich, denn genau die habe ich gerade über unserem Haus kreisen sehen.
„Kennst du sie? Will sie zu uns?“ fragt sie, und dann runzelt sie die Stirn. „Ich glaube, ich höre einen Motor.“
Ich seufze. „Ja, sie benutzt einen Ultraleichtflieger. Und zu uns will sie nicht, denn sie dreht gerade ab.“
Serafine nickt. „Dass sie einen Ultraleichtflieger benutzen muss, ist klar. Es gibt eine Obergrenze für Größe und Gewicht, oberhalb der ein Wesen nicht mehr fliegen kann, und eine Zwei-Meter-Fledermaus liegt eindeutig darüber.“ Sie sieht mich an. „Gibt es Zwei-Meter-Vampirfledermäuse?“
„Ich habe noch nie davon gehört“, sage ich. „Trotzdem war es eine. Wie auch immer, jetzt ist sie weg. Was liest du da gerade?“
„Eine wissenschaftliche Veröffentlichung über Wölfe und wie sie durch Kommunikation im Rudel ihren Status festlegen. Du solltest das auch lesen, es erklärt eine Menge von dem, was in Werwolfklans so vor sich geht.“ Sie sieht mich an. „Ach, vergessen wir Riesenfledermäuse und Werwölfe. Komm, schlüpf zu mir unter die Decke.“

Möglicherweise hätte ich der Sache mit der motorisierten Fledermaus mehr Aufmerksamkeit schenken sollen, und möglicherweise hätte ich den Irrwisch noch einmal fragen sollen, was er mir erzählen wollte. Andererseits hätte das vermutlich überhaupt nichts geändert. Jedenfalls hat keiner von uns eine Vorahnung, und als es geschieht, werden wir alle vollkommen überrascht. Sogar Leon.

Es ist spät im November, an einem Tag, an dem es nie richtig hell zu werden scheint, und mit scheußlichem Nieselregen. Wir sitzen zu dritt vor dem Kamin, das heißt, Serafine hat sich auf der Recamiere ausgestreckt, liest in einem Lehrbuch, bei dem es anscheinend um Käfer geht, und macht sich ab und zu Notizen. Ich sitze im Sessel und blättere in einer Zeitschrift, und Leon liegt vor dem Kamin, so nahe am Feuer, dass er sich gerade nicht das Fell versengt. Fell? Ja, er hat seine wahre Gestalt angenommen, und deshalb liegen jetzt 350 Kilogramm Tiger zu meinen Füßen.
„Puh“, sagt er, „ich hasse dieses Wetter. Ich meine, ich bin ein Arktischer Tiger, gib mir zwanzig Grad minus und einen Meter Schnee, damit fühle ich mich wohl. Aber diese Nässe kriecht mir bis auf die Haut.“ Dann streckt er sich und fährt spielerisch die Krallen aus, die so lang wie meine Finger sind und schärfer als Steakmesser, gähnt und lacht. „Ich glaube, ich werde mich mal wenden und meine andere Seite braten lassen“, sagt er, was er dann auch macht.
Kann man sich eine gemütlichere Szene vorstellen als diese, denke ich: Ehepaar mit Tiger vor dem Kamin? Serafine versucht, Leons Schwanzspitze zu erhaschen, und er weicht ihr spielerisch aus. Ich lache und greife zu meiner Teetasse, und dann kracht etwas in der Küche.

Wir springen auf, alle drei, und Leon nimmt augenblicklich wieder Menschengestalt an. „Jemand ist in der Küche“, sagt er sehr leise, und in seiner Hand erscheint eines seiner Messer, sehr scharf und sehr spitz mit einer gekrümmten Klinge. Er und ich gehen langsam auf die dunkle Küchentür zu, Serafine bleibt hinter uns. Dann knallt es, und etwas fällt von oben auf uns herab.
Es ist groß und weich, und ich glaube zuerst, es wäre eine Decke oder eine Plane, aber als ich es abstreifen will, bemerke ich, dass es ein Netz ist. 'Wer ist so blöd und versucht einen Schattenfürsten und einen Tiger mit einem Netz zu fangen?’ frage ich mich verblüfft, und dann gleite ich durch die Maschen. Leon braucht nur ein oder zwei Sekunden länger, um sich freizuschneiden.
Was ist hier eigentlich los? Oh. Besuch, weder eingeladen noch willkommen. Wer sind die, was wollen sie und was, beim alles verschlingenden Abgrund, soll das Ganze?
Also: Jemand hält Serafine gepackt. Es ist ein sehr großer, schlaksiger junger Mann in einer schwarzen Lederjacke, und ich erkenne in ihm zu meiner Verblüffung die Fledermaus von neulich Nacht, in Menschengestalt. Dann ist da noch ein zweiter junger Mann mit einer Armbrust, und in der Küchentür stehen zwei Gnomen.
Gnomen? Ja, tatsächlich: Der eine ebenfalls mit einer Armbrust, die er auf Leon und mich richtet, und der andere ist mit einer Bratengabel bewaffnet. Vor ihnen steht eine Art Gestell, mit dem sie anscheinend das Netz abgefeuert haben.
Und was jetzt? Sollte ich mich fürchten? Irgendwie gelingt mir das nicht, obwohl zwei der Eindringlinge bewaffnet sind (die Bratengabel zählt nicht wirklich). Weder der Gnom noch der junge Mann mit der Armbrust wirken ernsthaft gefährlich. Ich meine, es ist ziemlich schwierig, sich von jemandem bedroht zu fühlen, der einem nur bis zur Hüfte reicht und senfgelbe Kniehosen trägt. Und der junge Mann hält die Armbrust zwar schussbereit, zielt aber nicht direkt auf uns, sondern hat seine Waffe auf den Boden gerichtet.
Serafine scheint die Lage genauso einzuschätzen: Sie wirkt nicht ängstlich, sondern ziemlich verblüfft und gelinde verärgert. Sie sieht mich an. Leon ebenfalls. Sie warten darauf, dass ich entscheide, was wir unternehmen.
Ich weiß, was Leon tun würde, wenn es nach ihm ginge: Er würde einen der Schützen anspringen und ausschalten, wahrscheinlich den Gnom. Der andere würde dann vermutlich auf ihn feuern, aber das würde Leon riskieren. Wahrscheinlich ginge der Schuss vorbei, vielleicht würde er auch getroffen, aber ein einzelner Armbrustbolzen hält einen Tiger nicht auf. Ich weiß, dass er schon mit böseren Verletzungen ganz andere Gegner erledigt hat. Für Leon wäre das ein kalkuliertes Risiko.
Aber weil ich der bin, der ich bin, möchte ich das nicht, denn a) will ich überhaupt nicht, dass er verletzt wird, b) können unkontrolliert herumfliegende Armbrustbolzen auch Unbeteiligte treffen, zum Beispiel Serafine, und c) haben wir Dunklen Fürsten immer versucht, jede Art von Gewalt zu vermeiden. Wir verhandeln, wir schließen Pakte und Bündnisse, aber wir vermeiden es zu kämpfen. Wir haben gute Gründe dafür.
Daher mache ich erst einmal gar nichts. Zuerst möchte ich wissen, was diese Bande von Amateuren überhaupt vorhat. Den Tiger von der Leine lassen kann ich immer noch.

Der junge Mann mit der Armbrust bemerkt unser Zögern. „Bitte bleiben Sie ruhig, dann geschieht niemandem etwas“, sagt er. Er hat eine angenehme Stimme und spricht wie ein gebildeter Mensch. „Wir werden die Prinzessin mitnehmen, aber ich gebe Ihnen mein Wort, dass ihr nichts geschehen wird. Es geht nur darum, gewissen Forderungen Nachdruck zu verleihen.“
„Ja, genau“, sagt der Gnom mit der Armbrust schwungvoll, „niemand bewegt sich, sonst kracht’s!“ Dann richtet er die Armbrust zur Decke und drückt ab. Ich zucke zusammen, als der Bolzen ein handgroßes Stück Stuck aus der Decke schlägt. Gleichzeitig erscheint aus der Tiefe der Armbrust ein neuer Bolzen und legt sich schussbereit in die Rinne. „Ha! Vollautomatisch!“ ruft der Gnom triumphierend und beginnt an einer Kurbel zu drehen, offensichtlich um die Waffe zu spannen. Drei Umdrehungen, dann knirscht etwas, und die Kurbel klemmt. Er versucht es mit mehr Kraft, noch eine halbe Umdrehung, dann knackt es und er hat die Kurbel in der Hand.
„Mist“, sagt er und öffnet eine Klappe an der Seite der Waffe, und sein Kumpel kommentiert vorwurfsvoll: „Das war natürlich die Gewindeachse. Ich habe gleich gesagt, dass die Übersetzung zu schwach ausgelegt ist.“ Dann legt er die Bratengabel beiseite und macht sich daran, beim Auseinandernehmen der Armbrust zu helfen.
Leon betrachtet die beiden wie eine Katze zwei spielende Mäuse. Ich werfe einen Blick auf den jungen Mann mit der Armbrust, der leicht verunsichert wirkt, und dann auf den anderen. Er hält noch immer Serafine fest, aber sie kann sich ein Lachen kaum verkneifen. Er allerdings versucht energisch zu werden.
„Wir gehen jetzt und nehmen das Mädel mit“, sagt er. „Versucht nicht, uns aufzuhalten.“ Dann beginnt er Serafine in Richtung Tür zu zerren.
Das geht mir dann doch zu weit. Verhandeln hin, Streit aus dem Weg gehen her, gegen ihn kann ich etwas unternehmen. „Du“, sage ich und deute mit dem Finger auf ihn, „dunkles Geschöpf unter der Herrschaft der Schattenfürsten, sei gebannt! Lass sie los und hebe dich hinweg!“
Er starrt mich verdutzt an, was sich sehr schnell in Panik verwandelt, als seine Arme kraftlos heruntersinken und seine Beine sich in Bewegung setzen. Er versucht sich dagegen zu wehren, so dass er sich ein paar Schritte lang in einer Art seitlichem Krebsgang zur Tür schiebt, dann überwältigt der Bann ihn völlig und lässt ihn aus der Haustür stolpern. So wird er sich in gerader Linie von hier wegbewegen, was ihn zwei oder drei Kilometer weit bringen sollte, bis der Bann wieder nachlässt. Gut. Er ist also erst einmal aus dem Spiel.
Ich wende mich den Gnomen zu, die immer noch mit der Armbrust beschäftigt sind. „Seitlich abgeschert, völlig irreparabel, das werden wir ganz neu aufbauen müssen“, höre ich.
„Ihr packt jetzt euren Gnomenramsch zusammen...“, beginne ich, aber der Wicht mit den gelben Kniehosen unterbricht mich: „Wir sind keine Gnomen, wir sind Zwerge!“ „... und wir heben uns nicht hinweg!“ sagt der andere mit Nachdruck.
War das jetzt mutig oder einfach nur frech? „Leon“, sage ich mehr belustigt als verärgert, „würdest du sie dann bitte hinwegheben?“
„Aber mit dem größten Vergnügen“, sagt Leon und grinst, und dann verwandelt er sich, ganz kurz nur, es ist mehr ein Aufflackern seiner wahren Gestalt. Die Gnomen kreischen auf und stürzen davon – ich höre noch die Hintertür klappen, dann sind sie weg.
Jetzt wenden wir drei uns dem jungen Mann zu, der als einziger von den Angreifern übrig ist. Er legt ganz langsam die Armbrust auf einen Beistelltisch, dann macht er zwei Schritte zur Seite. Er hebt nicht gerade die Hände, aber die Botschaft ist eindeutig.
„Was sollte das Ganze überhaupt?“ fragt Serafine erbost und geht auf ihn zu. „Wer sind Sie, warum wollten Sie mich entführen und was sind das für Forderungen, die Sie damit durchsetzten wollen?“
Der jungen Mann weicht ihr aus und flüchtet sich in Richtung Leon, und ich frage mich verwundert, warum jemand vor einer leicht verärgerten Prinzessin in die Arme eines deutlich wütenden Tigers flieht. Dann hebt er abwehrend die Hände und sagt: „Sie dürfen mich nicht küssen!“
Serafine bleibt verdutzt stehen und sagt: „Ich küsse nur Sebastian.“
„Nein, das meine ich nicht... Ich meine jede Art von Kuss, auch einfach nur so. Ich verwandle mich dann in einen Frosch.“
Wir starren ihn verwundert an. „Einen Froschkönig hatten wir schon lange nicht mehr“, meint Leon. „Und dann auch noch anders herum?“
„Wenn mich eine Prinzessin küsst, verwandle ich mich in einen Frosch“, bestätigt der junge Mann. „Das ist nicht umkehrbar, auf keine Weise. Ich verliere dann alles, meine menschliche Gestalt, meinen Verstand, alle meine Erinnerungen. Ich lebe noch ein paar Jahre als Frosch, und das war es dann.“
Wir sehen ihn an. Keiner von uns ist jetzt noch wirklich wütend. „Ich werde Sie ganz sicher nicht küssen“, sagt Serafine. „Wer sind Sie überhaupt?“
„Patrick von Unterwieser“, antwortet er. „Aus Niederried im Reich von Fürst Jankl.“
„Was hat es mit dieser Froschgeschichte auf sich?“ fragt Leon. „Ist das ein Fluch?“
„Nein, das liegt bei uns in der Familie, es betrifft alle männlichen Familienmitglieder. Das ist auch der Grund, warum ich bei dieser Entführung mitgemacht habe. Wir alle haben die eine oder andere Art von Problem und brauchen Hilfe und Schutz im Märchenland. Das hier ... es schien uns die einzige Möglichkeit, in diesen Dingen etwas zu erreichen.“
„Aber wovor brauchen Sie Schutz?“ fragt Serafine. „Wenn Sie den Leuten sagen, wie es um Sie steht, dann wird doch keine Prinzessin Sie mehr küssen.“
„Haben Sie eine Ahnung“, sagt er bitter. „Es gibt immer eine, die herausfinden möchte, ob es wirklich stimmt, oder es einfach für einen guten Witz hält. Wir haben erst letztens meinen Cousin so verloren. Er war erst siebzehn.“ Er wendet sich Serafine zu. „Und wenn wir zu den Fürsten und Königen im Märchenland gehen und um Schutz bitten, dann sagt man uns, wir wären eben so geboren und müssten uns damit abfinden.“
„Das darf nicht sein“, sagt sie entschlossen. „Ich werde meinem Vater schreiben und ihm sagen, dass er etwas unternehmen muss. Wenn er das tut, werden alle anderen Herrscher nachziehen – schließlich ist er der Wahre Märchenkönig.“ Sie sieht ihn an. „Aber dafür hätten Sie mich nicht entführen müssen. Sie hätten einfach zu mir kommen und mir die Sache erklären können, dann hätte ich mich darum gekümmert.“
„Ja“, sage ich nachdenklich, „und für Ihren Freund, die Fledermaus, gilt das gleiche. Jedes Dunkle Geschöpf – und er ist ein Dunkles Geschöpf, sonst hätte mein Bann bei ihm nicht gewirkt – steht unter dem Schutz der Schattenherrscher. Er hätte also einfach herkommen und diesen Schutz in Anspruch nehmen können.“
„Das wusste ich nicht“, sagt Patrick. „Ehrlich gesagt weiß ich auch gar nicht, was Svens“ – offensichtlich meint er die Fledermaus – „Problem ist. Aber es gibt noch einige mehr von uns, die ebenfalls Randfiguren im Märchenland sind. Sie passen nicht in die üblichen Geschichten und werden verachtet oder mit ihren Problemen allein gelassen. Wir dachten, weil Sie die Tochter von König Ottokar und die Ehefrau eines Schattenfürsten sind, könnten wir mit Ihrer Entführung Druck ausüben und etwas ändern. Jedenfalls dachte das der Meister...“
„Ach“, sagen wir drei im Chor. Denn das ändert einiges, denke ich. Es waren also doch nicht nur ein paar verirrte Amateure.

„Also gut“, sage ich. „Ich denke, Sie sollten uns die ganze Geschichte erzählen. Aber dazu müssen wir nicht hier mitten im Raum herumstehen. Setzen wir uns.“
Was wir tun. Wir sitzen vor dem Kamin wie eine entspannte Gesprächsrunde, obwohl mir nicht entgeht, dass Leon die ganze Zeit auf ungewöhnliche Geräusche lauscht und unseren Gast im Blick behält. Er möchte sich an diesem Tag nicht noch einmal überraschen lassen.
Patrick von Unterwieser ist mir trotz der seltsamen Umstände sympathisch. Er hat weizenblonde Haare und ein offenes Gesicht und spricht ohne zu zögern.
„Wo soll ich anfangen? Ich bin in die Menschenwelt gekommen, um Prinzessinnen möglichst aus dem Wege zu gehen – was aber dummerweise hier noch schwieriger ist als zuhause.“
„Wieso?“ fragt Serafine. „Es gibt hier doch kaum noch echte Prinzessinnen.“
„Nicht nach den Regeln der Menschen, nein. Aber im Laufe der Jahrhunderte hat es so viele keltische Fürsten und skandinavische Könige und inzwischen erloschene alte Adelsfamilien gegeben, die immer noch weibliche Nachkommen haben. Sie wären nach den Gesetzen des Märchenlandes Prinzessinnen, und sie wissen es nicht einmal. Ich kann es hier schlicht nicht riskieren, irgendeine Frau zu küssen.“
„Dagegen könnte man, glaube ich, etwas unternehmen“, werfe ich ein. „Ich werde die Nachthexen fragen. Man müsste ein Amulett anfertigen können, das es anzeigt. Damit könnten Sie unauffällig überprüfen, ob Sie es mit einer verkappten Prinzessin zu tun haben.“
„Oh, danke.“ Patrick lächelt leicht. „Das wäre zumindest ein Hoffnungsschimmer. Jedenfalls habe ich angefangen, an der hiesigen Uni Grafik-Design zu studieren. Eines Tages hat mich dann dieser Mann angesprochen. Er war ... nun, er war sehr freundlich, wenn auch ein bisschen überkandidelt. Und er wusste offensichtlich, was mit mir los war.
Er hat mich eingeladen, mich einer Gruppe anzuschließen, in der Randfiguren wie ich sich trafen und über ihre Probleme redeten. Wir waren etwa ein Dutzend, und zuerst dachte ich, wir würden gemeinsam vielleicht Lösungen finden. Aber es lief darauf hinaus, dass alle einfach nur reihum den anderen etwas vorjammerten. Irgendwann wurde mir das zu blöd, und das habe ich auch gesagt. Daraufhin nahm der Meister mich beiseite.“
Er wirkt jetzt verlegen. „Er hat mich mit Sven zusammengebracht und mit noch ein oder zwei anderen, und mit den Gnomen. Zusammen haben wir diesen Plan ausgearbeitet, die Prinzessin zu entführen.“
Jetzt sieht er Serafine direkt an. „Es tut mir leid. Wir haben überhaupt nicht darüber nachgedacht, was das für Sie bedeutet. Wir sind einfach hier eingedrungen und haben Sie bedroht... Ich muss mich dafür in aller Form bei Ihnen entschuldigen.“
„Ich nehme Ihre Entschuldigung an“, sagt Serafine. „Aber ich frage mich schon die ganze Zeit: Was hätten Sie mit mir gemacht, wenn diese Entführung gelungen wäre?“
Patrick runzelt die Stirn. „Das ist mir jetzt extrem unangenehm, aber: Ich weiß es nicht. Wir haben tatsächlich nie darüber gesprochen. Der Meister hat uns die ganze Zeit erzählt, damit würden wir den Mächtigen zuhause beweisen, dass man uns ernst nehmen muss, und sie müssten sich dann um unsere Probleme kümmern ... aber wie er genau vorgehen wollte, weiß ich nicht. Ich habe mich das nie gefragt. Ich habe einfach begeistert mitgemacht und meinen kritischen Verstand irgendwie ausgeschaltet.“
Leon schnaubt. „So, wie ich das sehe, hat dich dieser 'Meister’ nach allen Regeln der Kunst eingewickelt. Wenn er in irgend etwas ein Meister ist, dann darin, Leute zu manipulieren. Jetzt möchte ich, dass du uns alles über ihn erzählst – und alles, was uns sonst noch weiterhelfen könnte.“

Das macht Patrick ohne zu zögern, aber es sind bemerkenswert wenige konkrete Informationen dabei. Dieser 'Meister’, das wird immer deutlicher, hat sorgsam darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen. Das gefällt mir gar nicht.
Es fängt schon damit an, dass niemand in dem Gesprächskreis seinen vollen Namen nennen sollte. Manche haben ihren Vornamen genannt, andere nicht einmal das. Der Meister hatte darauf bestanden. Getroffen haben sie sich in einem umgebauten Kino in der Steinstraße. Leon notiert sich die Adresse, und ich weiß, er wird sich dort in den nächsten Tagen umsehen.
Was die Entführer angeht, so kennt Patrick nur den Namen von Sven. Dann gibt es noch jemanden, der sie und ihre Gefangene in einem Auto abgeholt hätte, sobald Sven ihm ein Zeichen gegeben hätte. Nein, Patrick weiß nicht, welches Zeichen oder was für ein Wagen und auch nicht, wohin sie die Prinzessin gebracht hätten. Ich habe den Verdacht, der Meister hatte schon damit gerechnet, dass Patricks nach der Entführung erkennen würde, worauf er sich eingelassen hatte. Patrick hat ein Gewissen – was der Meister vermutlich als 'unzuverlässig’ übersetzt hätte.
Und der Meister selbst? Laut Patrick ist er unzweifelhaft ein Mensch aus dem Märchenland. Natürlich hat er niemandem seinen Namen gesagt, auch nichts darüber, wovon er in der Menschenwelt lebt oder aus welcher Gegend des Märchenlandes er stammt. Den Titel 'Meister’ hatte ihm jemand aus der Gesprächsrunde gegeben, mehr oder weniger im Scherz. Seitdem benutzte er ihn.
Leon bittet Patrick um eine Beschreibung des Meisters.
„Die kann ich euch geben“, sagt Patrick (inzwischen duzen wir uns), „aber vielleicht ist es besser, wenn ich ihn zeichne.“
Er leiht sich den Notizblock und einen Bleistift von Serafine und beginnt zu zeichnen. Es wird ein echtes Porträt, und ein sehr gutes. Trotzdem runzle ich die Stirn, als ich es sehe.
„Das ist der böse Zauberer aus dem Märchenbuch“, sage ich, „komplett mit spitzem Bart. Und kein Mensch hat solche Augenbrauen.“
Patrick seufzt. „Er sieht aber wirklich so aus. Extrem theatralisch, nicht wahr? Manchmal trägt er sogar ein Cape.“
Leon betrachtet das Bild. „Irgendwie kommt mir der Typ bekannt vor“, sagt er nachdenklich.
Serafine sieht ihm über die Schulter. „Ja, mir auch, aber ich kann mich nicht daran erinnern, woher.“
„Vielleicht habt ihr als Kinder dasselbe Buch gelesen“, meine ich leicht ironisch.
„Jedenfalls kommt er in keinem vor, das kleine Tigerkater lesen“, sagt Leon. „Nein, ich bin dem Kerl schon begegnet. Ich glaube, im Märchenland, und es ist länger her ... aber mir will nicht einfallen, wo.“

Dieser seltsame Nachmittag endet damit, dass wir Patrick zum Abendessen einladen. Danach sitzen wir noch zusammen, und als er geht, gibt er uns seine Adresse. In den Wochen darauf sehen wir uns öfter – Serafine und ich mögen ihn, und sogar Leon findet ihn akzeptabel.
Leon geht natürlich allen Spuren nach, um den Meister zu finden, aber alle enden im Nichts. Der Meister meldet sich nicht wieder bei Patrick, und auch sein Kumpel Sven, die Fledermaus, lässt sich nicht mehr bei ihm blicken. Auch das Kino ist eine Sackgasse: Dort finden mehrmals in der Woche die verschiedensten Seminare statt, und es gehen dort so viele Menschen aus und ein, dass Leon keine Fährte aufnehmen kann. Der Gesprächskreis ist aufgelöst, und niemand, den Leon fragt – und er kennt eine Menge teilweise sehr seltsamer und normalerweise sehr gut informierter Wesen – kann uns etwas über den Meister erzählen.
Schließlich gibt Leon die Suche auf, und wir legen das Ganze als verpfuschten Versuch von Amateurverschwörern zur Seite. Trotzdem ist mir nicht ganz wohl. Manchmal frage ich mich, was dieser 'Meister’ wirklich im Sinn hatte, als er Serafine entführen ließ – und was in aller Welt die Gnomen dazu gebracht hat, ihm zu helfen.

Es gibt aber auch gute Nachrichten. König Ottokar, Serafines Vater, erlässt ein Gesetz, nach dem eine nicht rückgängig zu machende Verwandlung gegen den Willen des Betroffenen einem Mord gleichgesetzt wird. Die anderen Herrscher im Märchenland schließen sich dem an. Als wir Patrick das mitteilen, ist er sehr erleichtert – und noch mehr, als ich ihm einen Prinzessinnen-Detektor überreichen kann.
„Ihr glaubt gar nicht, was für ein Stein mir vom Herzen fällt“, sagt er. „Es ist, als fange ich jetzt erst an, wirklich zu leben.“
„Was die Entführung angeht“, sagt Leon nachdenklich, „gibt es etwas, das ich nicht verstehe. Warum haben die Gnomen dabei mitgemacht? Ich meine, sie sind keine Randfiguren. Sie sind überall im Märchenland geachtete Bürger, und niemand hat etwas gegen sie – oder höchstens Leute, die gerade irgendwelchen Gnomenramsch gekauft haben, der beim ersten Benutzen auseinander fällt.“
„Ich glaube, genau das ist ihr Problem“, meint Patrick. „Mir haben sie gesagt, sie möchten Zwerge werden.“
Leon ist perplex. „Was? Das ist etwa genau so sinnvoll, als wenn ich sagen würde, ich will ein Delfin werden.“
„Ich glaube, sie meinen damit, sie möchten wie die Zwerge für ihre Arbeit geachtet werden“, erklärt Patrick.
„Dann sollten sie vielleicht nicht solchen Pfusch abliefern“, wirft Serafine ein. „Schließlich ist Zwergenhandwerk nicht deshalb so berühmt, weil es von Zwergen stammt, sondern weil es erstklassig ist. Die Zwerge stecken eine Menge Können und harte Arbeit hinein. Vielleicht sollten die Gnomen das auch versuchen.“
„Wahrscheinlich können sie das gar nicht“, sagt Patrick. „Sie machen unglaublich gute Entwürfe, die auch wirklich funktionieren würden, aber dann haben sie nicht das Geld für das richtige Material und improvisieren, oder sie bauen es nicht fertig, weil sie schon wieder eine neue Idee haben. Ich denke, sie sollten sich mit den Zwergen zusammentun.“
„Davon wirst du die Zwerge nicht überzeugen können“, meint Leon.
„Ich weiß nicht. Stell dir, sagen wir, eine Spieluhr vor, mit tanzenden Elfen, die wirklich in der Luft schweben – die Gnomen können das, ich glaube, sie verwenden Magneten. Jetzt stell dir vor, Zwerge würden sie fertigen, mit aller Präzision und Kunstfertigkeit, zu der sie fähig sind. Es wäre absolut überwältigend.
Ganz ernsthaft: Gnomen sind Tüftler, denen ständig etwas Neues einfällt, aber sie sind nicht gut darin, die Sachen auch zu bauen. Zwerge dagegen sind unübertroffene Handwerker, aber sie haben überhaupt keine Phantasie. Genau genommen fertigen sie seit Jahrhunderten immer dasselbe. Die beiden würden sich perfekt ergänzen. Und ich glaube, man könnte die Zwerge auch davon überzeugen, schon deshalb, weil für derartige Stücke jeder Preis gezahlt würde. Zwerge sehen immer auf den Gewinn.“
Was stimmt, denke ich. Und Patrick ist von seiner Idee offensichtlich überzeugt. Jedenfalls wäre es eine deutlich bessere Lösung für die Gnomen als weiter davon zu träumen, Zwerge zu werden.

So endet das Jahr und ein neues beginnt, ohne das etwas bemerkenswertes geschieht. Das spannendste ist noch, dass mir drei Jungen einen Kopf vorbeibringen, den sie beim spielen auf dem Friedhof gefunden haben. Die drei sind Brüder, der älteste ist etwa dreizehn, aus einer Familie von Haarigen Waldmenschen, die zu den Dunklen Wesen gehören, deshalb kommen sie zu mir. In ihrer Menschengestalt sehen sie allerdings aus wie die Jungs von nebenan.
Der Kopf gehört augenscheinlich einem Kopflosen Reiter, und so, wie er schnarcht, schläft der Rest von ihm irgendwo seinen Rausch aus. Ich nehme die drei mit zu einer kleinen Suchaktion auf dem Friedhof, was sie sehr spannend finden. Tatsächlich finden wir den Rumpf sturzbetrunken hinter einem Mausoleum, neben ihm sein erheblich verärgertes Pferd. Während ich den Kopf wieder unter seinen Arm stecke, wo er hingehört, beklagt sich das Pferd: „Wieso muss ausgerechnet ich an diesen saufenden Idioten geraten? Und dann habe ich auch noch einen Vertrag über drei Jahre unterschrieben! Wie komme ich von diesem Trottel bloß wieder los?“
Also leihe ich mir von einem der Jungen Block und Stift, schreibe ein kurzes Protokoll der Ereignisse und erteile dem Reiter für unverantwortliches Verhalten fünf Jahre Sperre für die Menschenwelt. Den Schrieb gebe ich dem Pferd, was seine Laune beträchtlich hebt, denn damit hat es gute Chancen, aus dem Vertrag zu kommen, wahrscheinlich sogar mit Schadensersatz. Gemeinsam laden wir den Reiter auf das Pferd und stecken den Kopf in seinen Kopfbeutel, damit er nicht noch einmal verloren geht. Die beiden verschwinden zurück ins Märchenland, und ich bringe die Jungen nach Hause.

Zehn Tage später sitzen wir zusammen, Serafine, Leon und ich, und ich erzähle Leon die Geschichte. Er ist gerade aus Singapur zurück. Mitgebracht hat er eingelegte Pflaumen für Serafine und eine frische Schnittwunde am Kinn. Die stammt von einem Auftrag, den er dort ausgeführt hat und über den er nicht reden darf.
Ich erzähle also die Geschichte, wir lachen, und dann kracht es plötzlich, irgendwo im Haus. „Das war im Keller“, sagt Leon, und er klingt besorgt. Er geht in Richtung Küche, denn von dort aus führt die Treppe nach unten, und ich denke an den Versuch, Serafine zu entführen. Aber das kann nicht sein, es geschieht doch nicht zweimal genau das gleiche.
Dann knallt es in der Küche, genau wie beim ersten Mal, und etwas fliegt auf Leon zu und hüllt ihn ein. Ein Netz, aber diesmal kann er sich nicht einfach freischneiden, denn anscheinend ist es aus Metall. Das Gewicht lässt ihn in die Knie gehen, und ich eile hinüber, um ihm zu helfen, und höre aus der Küche einen Gnom triumphierend lachen. Das ist jetzt wirklich nicht wahr, denke ich, was wollen die damit erreichen? Und dann tritt ein Mann aus der Küche und ich erstarre.
Er hält etwas in der Hand, das ich als elektrisches Kabel erkenne, und es führt zu dem Netz – dem Netz aus Metall, in dem Leon festsitzt. Sein Daumen ruht auf einem Schalter, und es ist klar, was das bedeutet.
„Niemand macht irgendwas, oder es gibt gegrillten Tiger!“ sagt er. Seine Stimme ist hoch, und er spricht sehr schnell. „Ihr glaubt mir das besser, das hier sind 220 Volt.“ Ich höre mehrere Gnomenstimmen, die erschrocken 'oh’ sagen, sehen kann ich sie nicht.
„Du gehst jetzt mal da weg, geh da rüber“, sagt der Typ zu mir. Ich mache, was er sagt. Ich will Leon nicht in Gefahr bringen.
Der Typ sieht merkwürdig aus: Seine Beine sind kurz und dünn, und er trägt eine seltsame weiße zottelige Jacke. Das Gesicht wirkt irgendwie verzogen oder verzerrt, er hat sehr breite, vorstehende Lippen und fast keine Nase. Aus irgend einem Grund muss ich plötzlich an Matrosenanzüge denken.
„Gut“, sagt er, „gut, jetzt weiter. Und denkt daran, ich habe den Finger auf dem Knopf.“
'Was soll das Ganze’, frage ich mich, und dann muss ich hart schlucken, denn ein zweiter Mann schiebt sich an ihm vorbei. Ein Mann? Mehr oder weniger, aber er hat einen Schlangenkopf.
Es stimmt: Er hat einen Kopf wie eine Schlange. Der Kopf sitzt irgendwie schief auf seinem menschlichen Hals – von den Schultern abwärts hat er die normale menschliche Gestalt – und als er den Mund öffnet, sehe ich fingerlange Giftzähne. Dieser Schlangenkopf wirkt abstoßend, plump und gedrungen, die Haut ist gefleckt in Schlammgrün und einem stumpfen Braun. Er hat nichts von der natürlichen Eleganz einer echten Schlange. Dann greift er nach Serafine, und mein Herz setzt einen Schlag aus.
„Du machssst besssser nichtsss“, sagt er – er zischelt stark beim sprechen – „sssonssst mussss ich sssie beissssen.“ Dann zieht er sie an sich, und seine Zähne sind nur Zentimeter neben ihrem Hals.
Das kann ich nicht zulassen. Ich muss etwas unternehmen – aber Leon ...
Serafine sieht mich an. Sie wirkt ernst, aber nicht ängstlich. Sie blickt auf Leon, auf den Mann mit dem Finger am Schalter, dann wieder auf mich, und schüttelt ganz leicht den Kopf. Die Botschaft ist klar: 'Unternimm nichts. Ich werde mit ihnen gehen, ich bringe Leons Leben nicht in Gefahr.’
Die Schlange zerrt Serafine zur Haustür. Der andere Typ folgt ihnen, wobei er das Kabel von einer Trommel abwickelt, und ich erkenne, dass er gar keine Jacke trägt: es sind Federn. Ein Mann mit Schlangenkopf und ein halb verwandelter Vogelmensch. Nirgendwo im Märchenland hat es so etwas je gegeben.
Die beiden verschwinden aus der Tür, mit Serafine, und ich hoffe die ganze Zeit, dass der Vogelmann nicht doch noch den Knopf drückt. Dann höre ich dieses rollende Geräusch einer Transportertür und dann einen startenden Motor. Ich stürze hinaus und sehe den Wagen noch um die Ecke biegen, es ist ein weißer Transporter. Die Kabeltrommel und der Schalter liegen auf dem Rasen.
Ich gehe zurück ins Haus, in die Küche, und ziehe den Stecker. Dann helfe ich Leon aus dem Netz. Die Gnomen, fällt mir auf, sind nirgendwo zu sehen.
Ich erzähle Leon von dem Wagen, und wir laufen hinaus, um zu sehen, ob wir irgend einen Hinweis finden können, irgend etwas, das uns sagt, wohin diese Typen Serafine bringen wollen. Wir kommen aber gar nicht so weit: In der offenen Haustür rennen wir fast in Gernot Krüger und seine Frau.

„Haben da gerade zwei Männer Ihre Frau in einen Wagen gezerrt?“ fragt Gernot Krüger außer Atem. „Ragnhild meint, einer von ihnen trug eine Schlangenmaske.“
Und Frau Krüger (die also Ragnhild heißt) fügt hinzu: „War das wieder eine von Ihren komischen Live-Rollenspiel-Aktionen?“
„Denn wenn das so wäre“, sagt Herr Krüger ernst, „dann sollten Sie das nicht in aller Öffentlichkeit abwickeln. Ich gönne Ihnen ja Ihren Spaß, aber streng genommen erfüllt das den Tatbestand der Vortäuschung einer Straftat. Ich werde da natürlich nichts unternehmen, aber...“ Dann stockt er und sagt mit völlig veränderter Stimme: „Nein. Das war echt, oder? Man hat Ihre Frau wirklich entführt.“
Ach, verdammt. Wieso muss er ein so guter Polizist sein? Wir hätten uns rausreden können, sagen, ja, das war wirklich so eine Rollenspiel-Geschichte, es tut uns leid, wird nicht wieder vorkommen, aber wie gesagt, er ist ein zu guter Polizist. Er hat bemerkt, wie besorgt wir sind und wie aufgewühlt, und zieht den richtigen Schluss. Ein guter Polizist, aber genau das können wir jetzt überhaupt nicht brauchen.
„In Ordnung“, sagt er. „Ich rufe jetzt meine Kollegen. Entführung ist zwar nicht mein Ressort, aber bis die Spezialisten eintreffen, können Sie mir schon mal die ganze Geschichte erzählen. Eine Augenblick, ich telefoniere nur schnell.“ Dann zückt er sein Handy.
„Nein“, sage ich. „Sie werden niemanden anrufen. Halten Sie sich da raus. Diese Geschichte geht Sie nichts an.“
„Entschuldigung, aber das tut sie sehr wohl“, sagt er mit Nachdruck. „Auch wenn ich im Moment im Urlaub bin, sobald ich von einem Verbrechen erfahre, muss ich dem nachgehen. Und bitte: Ich weiß, dass sie sich sehr große Sorgen machen, und vielleicht haben die Ihnen auch gesagt, sie sollen auf gar keinen Fall die Polizei einschalten. Aber Sie helfen Ihrer Frau nicht, wenn Sie versuchen, uns aus der Sache rauszuhalten. Im Gegenteil. Ganz ernsthaft: Wir haben nur dann eine Chance, die Sache zu einem guten Ende zu bringen, wenn Sie uns die Führung überlassen. Was auch immer wir unternehmen, die Sicherheit Ihrer Frau steht für uns an oberster Stelle.“
Ja, denke ich, das alles würde gelten, wenn wir normale Leute wären und dies eine normale Entführung. Aber nicht in diesem Fall. Nicht, wo nicht einmal ich weiß, worum es hier geht, wer dahinter steckt und was er vorhat. Das letzte, was wir jetzt brauchen, ist ein Haufen Polizisten, der sich in die Sache einmischt. Die Lage ist auch so schon kompliziert genug.
Gernot Krüger greift wieder zum Telefon, und Leon steht plötzlich direkt vor ihm und nimmt es ihm aus der Hand. „Halten Sie sich raus“, sagt er harsch. „Das hier geht nur uns etwas an.“
„Ich weiß ein bisschen über Sie“, sagt Gernot Krüger ruhig. Er ist weder wütend noch beunruhigt und spricht ganz gelassen. „Ich habe Sie überprüft, und ich bin mir sicher, dass Sie mit einer falschen Identität unterwegs sind. Allerdings habe ich dafür überhaupt keine Beweise, und es ist mir ehrlich gesagt auch egal. Ich weiß, glaube ich, auch, für wen Sie arbeiten – die Agentur sitzt in der Schweiz, nicht wahr? War da nicht erst vor ein paar Tagen eine Aktion in Singapur, als ein in halb Ostasien gesuchter Milliardenbetrüger bei der Polizei abgegeben wurde? Es gab Gerüchte, dass jemand in seine Hotelsuite eingedrungen ist und vier erstklassige Leibwächter ausgeschaltet hat, aber es hat dort deswegen nie eine polizeiliche Untersuchung gegeben.“ Er lächelt Leon an, was von einer Menge Mut spricht. „Sie sind auf Ihrem Gebiet ganz sicher ein Profi, aber das hier ist ein Fall für die Polizei. Und jetzt geben Sie mir bitte mein Handy zurück.“
Leon sieht mich an. Wir haben gerade genau zwei Möglichkeiten, denke ich. Die eine ist, dass die Krügers sich eingeschlossen in einem meiner Kellerräume wiederfinden, zwar mit zwei bequemen Sesseln, Keksen und einer Kanne Tee, aber eben eingesperrt. Doch das würde bedeuten, dass ich alle Brücken hinter uns abbreche. Es wäre das Ende von unserem Leben hier, in diesem Haus, und von Serafines Studium, wenn sie zurückkommt ('wenn’, nicht 'falls’; an 'falls’ weigere ich mich zu denken).
Die zweite Möglichkeit...
„Also gut“, sage ich. „Wenn ich Sie überzeugen will, muss ich Ihnen etwas erklären. Sie würden mir allerdings kein Wort glauben. Daher muss ich Ihnen etwas zeigen... Leon? Du oder ich?“
„Ich natürlich“, sagt Leon und legt das Telefon beiseite. „Du würdest doch nicht mal halb so viel Eindruck machen.“ Dann verwandelt er sich in den Tiger, der er ist.
Die Krügers erstarren. Dann sagt sie sehr langsam: „Wenn das hier ein Film wäre, dann wäre das eben ein sehr, sehr guter Spezialeffekt gewesen. Aber es ist echt, oder?“ Sie sieht mich an. „Er kann sich in einen Tiger verwandeln?“
„Ich kann mich in einen Menschen verwandeln“, sagt Leon. „Das hier ist meine wahre Gestalt. Von Haus aus bin ich Tiger.“
Sie schluckt. „Kann ich ... kann ich Sie anfassen?“
„Aber sicher doch“, sagt Leon, und sie streicht ihn vorsichtig über die Schulter.
„Das fühlt sich wirklich echt an“, sagt sie und wirkt immer noch ein wenig wie betäubt.
„Was hat das alles zu bedeuten?“ stellt Herr Krüger die entscheidende Frage.
„Wir kommen aus dem Märchenland“, sagt Leon. „Sie würden es vielleicht die Märchenwelt nennen – Sie haben schließlich ziemlich viele von diesen Geschichten über Parallelwelten. Es ist aber tatsächlich die andere Seite derselben Welt – das Märchenland und die Welt der Menschen gehören zusammen. Wir kommen alle von dort drüben. Ich bin ein Tigerkämpfer, er ist ein Schattenfürst, und Serafine ist ein Mensch und die Tochter des Wahren Märchenkönigs.“
„Ansonsten haben wir Ihnen aber in allem die Wahrheit erzählt“, sage ich. „Serafine studiert tatsächlich hier, deshalb haben wir uns hier niedergelassen. Der Punkt ist, diese Entführung hat nichts mit Ihrer Welt zu tun. Es stecken Märchenwesen dahinter. Dieser Schlangenkopf war keine Maske – er ist echt.“

Leons Verwandlung und meine Erklärungen haben die Spannung aus der Situation genommen. Ich glaube, das liegt daran, dass wir jetzt offen zueinander sind. Jedenfalls steckt Gernot Krüger sein Handy weg, und es nicht mehr die Rede davon, seine Polizeikollegen zu verständigen. Statt dessen lotst er uns ins Wohnzimmer und bittet uns, uns zu setzen. Dann fängt er behutsam und sehr geschickt an, Fragen zu stellen. Das müsste er allerdings gar nicht. Wir beide, Leon (jetzt wieder in Menschengestalt) und ich, erzählen ihm die ganze Geschichte, angefangen bei dem ersten Entführungsversuch. Wir lassen nichts aus außer dem vollen Namen von Patrick, denn ich bin mir ganz sicher, dass er mit dieser zweiten Entführung nichts zu tun hat.
Dann nehmen wir uns gemeinsam die Fakten über den Meister vor und das wenige, was Leon über ihn herausgefunden hat. Auch Gernot Krüger ist der Meinung, dass es dieser Mann sehr gekonnt verstanden hat, keine Spuren zu hinterlassen. Schließlich hole ich Patricks Zeichnung hervor. Als Leon sie auf dem Tisch glattstreicht, sagt Herr Krüger sichtlich skeptisch „Hm...“.
Seine Frau platzt spontan heraus: „Wer soll das denn sein? Der Oberbösewicht aus dem Weihnachtsmärchen?“
Ich erwarte eine sarkastische Bemerkung von Leon, aber er starrt nachdenklich auf das Bild. „Es sind hauptsächlich diese bescheuerten Augenbrauen...“, sagt er. Er legt seine Hand über den oberen Teil des Porträts, und dann sieht er mich an. „Ich kenne diesen Mann“, sagt er entschieden. „Ja. Damals hatte er noch einen normalen Bart. Er war königlicher Archivar bei uns am Hof, deshalb kam er auch der Prinzessin so bekannt vor. Das war ungefähr zwei oder drei Jahre, bevor du zu uns kamst. Er ist rausgeflogen, weil er silberne Löffel geklaut hat.“
„Silberne Löffel? Im Ernst?“ fragt Ragnhild Krüger.
„Ja. Es gab eine Besteckinventur, und dabei kam heraus, dass ungefähr zwei Dutzend Löffel fehlten. Jemand erinnerte sich, dass dieser Mann öfter mal einen mitgenommen hatte nach dem Mittagessen, und sie forschten nach. Er hatte seine Sachen gepackt und war verschwunden, aber in seinen Räumen fanden sie die Löffel, oder besser die Gerippe davon. Silberbesteck hat in seinem Inneren so eine Art Kern aus Kupfer, das Silber ist nur eine äußere Schicht. Die hatte er irgendwie abgeschält.
Sein Name war Hubertus von ... den Nachnamen weiß ich nicht mehr, aber der war sowieso falsch. Sie haben ihn gesucht, aber nie gefunden. Sieht so aus, als hätte er sich hierher abgesetzt.“
„Aber warum stiehlt jemand an König Ottokars Hof ausgerechnet Silberlöffel?“ frage ich mich laut.
„Warum nicht?“ meint Ragnhild Krüger. „Die sind durchaus etwas wert.“
„Ja, aber das war am Hof des Wahren Märchenkönigs. Da steht in jeder Ecke etwas aus Gold“, wirft Leon ein, „Es ist tatsächlich leichter, dort Gegenstände aus Gold zu finden als welche aus Silber.“ Er runzelt die Stirn. „Hat er deshalb diese Löffelnummer abgezogen? Ging es ihm vielleicht gar nicht um etwas Wertvolles, sondern speziell um Silber?“
„Oder ganz speziell um Altes Märchensilber?“ frage ich mich nachdenklich. Da gibt es einen Zusammenhang, aber ich komme nicht darauf. Ein Archivar, dieses besondere Silber ... Treffen in einem Kino ... Kino bedeutet Filme, und Filme sind Geschichten. Ich habe es fast, aber etwas fehlt. Warum sollte so ein Mann Serafine entführen wollen? Und dann trifft mich etwas wie ein Schlag: Ich schmecke Blut.

Dunkelheit umfängt mich, und etwas steigt in mir hoch, eine dunkle Welle. Ich halte sie zurück. Ich darf dies nicht freilassen, nicht an diesem Ort. Es gelingt mir, aber nicht völlig.
Als ich meine Umgebung wieder wahrnehme, starren alle mich an. Ragnhild Krüger sagt sehr langsam: „Das war jetzt wirklich sehr eindrucksvoll.“
„Was habe ich gemacht?“ frage ich beunruhigt.
„Du warst kurz so eine Art schwarzer Wirbel“, erklärt Leon. „Wirklich bemerkenswert. Ich wusste gar nicht, dass du das kannst.“
„Das...“, beginne ich, aber das ist jetzt unwichtig. „Leon, sie blutet.“
„Was?“ Er springt auf. „Die Prinzessin ist verletzt?“
„Nicht wirklich verletzt“, sage ich langsam und versuche, mir darüber klar zu werden, was ich da spüre. „Es sind nur einzelne Tropfen ... ihr Blut tropft, langsam ...“
„Und Sie können das wahrnehmen?“ fragt Herr Krüger zweifelnd.
„Ja. Ich trinke von ihr, daher sind wir blutgebunden.“
Schockierte Blicke von allen Seiten. Offensichtlich muss ich da etwas erklären. „Warum auch nicht? Schließlich sind wir verheiratet. Ich nehme nur sehr wenig, meist drei oder vier Tropfen, höchstens einen kleinen Löffel voll. Wir haben es ausprobiert und sind dabei geblieben. Es ist sehr angenehm, für beide.“
„Dann sind Sie so eine Art Vampir?“ fragt Ragnhild Krüger.
Die Frage musste ja kommen. „Ja. Aber ich bin kein Vampir von der Art, wie sie in Ihren Geschichten vorkommen. Ich bekomme keine langen Zähne, und ich kann auch niemanden verwandeln. Und vor allem bin ich nicht tot.“
„Äh, ja“, sagt Leon. „Kannst du uns sagen, was genau du spürst?“
Ich schließe die Augen und konzentriere mich. „Ihr Blut fällt langsam, in einzelnen Tropfen. Zuerst war es sehr stark, aber jetzt ist es anders. Eher gedämpft ... als wenn das Blut abgedeckt ist ... vielleicht eingeschlossen.“
„Als wenn es in einem Gefäß aufgefangen wird?“ fragt Herr Krüger vorsichtig. „Wie bei einer Blutspende?“
„Ja, das könnte es sein“, bestätige ich. „Ziemlich genau so fühlt es sich an.“
„Hast du eine Richtung und eine Entfernung?“ fragt Leon, der praktisch denkende.
„Nur sehr grob. Es kommt aus Richtung stadteinwärts, und es ist ziemlich weit weg. Vermutlich im Stadtzentrum oder knapp jenseits davon. Genauer kann ich es nicht sagen.“
„Das ist zu vage“, sagt Leon frustriert. „Verdammt. Jedes Mal, wenn wir eine Spur haben, verläuft sie wieder im Sande. Aber gut, jetzt wissen wir zumindest, wer der Kerl ist. Ich werde nochmal meine Kontakte abklappern, vielleicht fällt ihnen dazu etwas ein. Oder ich laufe durch diese ganze verdammte Stadt, bis ich irgendwo die Spur dieser Schlange aufnehme. Sebastian, wir werden sie finden.“
Ich betrachte ihn nachdenklich. „Ich frage mich, wie jemand so dämlich sein kann, eine Frau zu entführen, deren persönlicher Leibwächter ein Tigerkämpfer ist.“
Er sieht mich seltsam an. „Ich frage mich eher, wieso jemand es wagt, die Frau eines Schattenfürsten anzurühren.“ Ich sage nichts. „Sebastian, ich erinnere mich gut an den Abend, als du mir erzählt hast, dass ihr die Verlobung lösen musstet, Serafine und du. Dann ging der Wald in Flammen auf. Wusch, eben noch Bäume, jetzt nur noch Asche. Wer greift jemanden an, der so etwas kann?“
Er betrachtet mich, und als ich immer noch nichts sage, fährt er fort: „Du weißt, ich bin ziemlich viel rumgekommen. Ich war weit im Osten, in den Kalifaten, als Begleitschutz für einen Gesandten. Da habe ich die Geschmolzene Zitadelle gesehen – und die Geschichten dazu gehört. Mein Leben lang habe ich versucht, mir vorzustellen, wie sie wohl sind, der Dunkle Herrscher und die Schattenfürsten, und dann kamst du an den Hof von König Ottokar...“
„Und du warst enttäuscht? Kein geheimnisvoller, mächtiger Zauberer, nur ein blasser Jüngling?“
„Das meine ich nicht“, sagt er fast wütend. „Ich verstehe es nur nicht. Du warst höflich, zurückhaltend, zu jedem freundlich, irgendwie ausgesprochen ... vorsichtig. Als wenn du es um jeden Preis vermeiden wolltest, mit jemandem in Streit zu geraten. Und ihr versteckt euch hinter dem Schattenwald, es ist fast unmöglich einen Weg in euer Land zu finden, und der Dunkle Herrscher weist alle Besucher ab. Er schließt Abkommen und Verträge, er verhandelt und weicht aus...“
„Und du fragst dich, wovor wir Angst haben“, sage ich. „Warum verstecken wir uns hinter Schatten und Illusionen, warum verhandeln wir lieber, als auf unseren Ansprüchen zu bestehen? Warum gehen wir allen Konflikten aus dem Weg, warum versuchen wir mit allen Mitteln zu verhindern, dass uns jemand so nahe kommt, dass er uns angreifen könnte? Denkst du, wir machen das, weil wir uns fürchten?“
„Sebastian...“, sagt Leon unsicher.
„Ja, es stimmt: Wir fürchten uns. Wir haben Angst, dass uns jemand angreift und wir nicht ausweichen können, dass er uns bedroht oder, noch schlimmer, die, die wir lieben. Denn dann würden wir zurückschlagen müssen. Die alten Geschichten sind wahr, jene von der Geschmolzenen Zitadelle oder den Versunkenen Inseln. Es ist eine gewaltige Kraft in uns, nur haben wir gar keine Kontrolle darüber.“ Ich hole tief Luft und bemühe mich ruhiger zu sprechen. „Leon, mein ganzes Leben lang habe ich daran gearbeitet, niemals die Kontrolle zu verlieren. Deshalb bin ich so vorsichtig. Wenn wir verzweifelt sind oder sehr in Sorge, bricht es aus uns heraus. Es ist eine zerstörerische Kraft, und wir können weder ihre Stärke bestimmen noch sie auf ein bestimmtes Ziel richten. Die einzige Kontrolle, die wir haben, ist, sie nicht freizulassen. Damals, im Schlossgarten, nach der gelösten Verlobung, habe ich die Kontrolle nicht ganz halten können. Etwas, ganz wenig, ist durchgekommen. Und der Wald brannte.
Aber was hatte der Wald gegen mich? All die Bäume und die anderen Lebewesen dort... Es war vollkommen sinnlos. Und genau das ist der Punkt: Wir haben keine Möglichkeit, unsere Kräfte sinnvoll einzusetzen. Es ist, als wenn wir unkontrolliert um uns schlagen – wahrscheinlich treffen wir jemanden, der mit der Sache überhaupt nichts zu tun hat. Leon, alles, was wir tun können, ist, die Kontrolle zu behalten.“
Ich hole noch einmal tief Luft. „Deshalb bleibe ich jetzt zuversichtlich, dass alles gut ausgehen wird. Wir werden ruhig bleiben und unseren Verstand benutzen und Serafine finden, bevor ihr etwas ernsthaftes zustößt. Daran muss ich einfach glauben.“
„In Ordnung“, sagt Leon und versucht zuversichtlich zu klingen, obwohl wir beide wissen, dass das nichts als Zweckoptimismus ist. „Du hast Recht: Unser Polizist hier und ich, wir sind Profis, und uns wird etwas einfallen. Aber diese ganze Geschichte ist so wirr und verrückt, Archivare mit falschen Augenbrauen und Schlangenmenschen und mordlustige Gnome, dass ich einfach nicht weiß, wo ich ansetzen soll.“
„Sie sagen 'wirr und verrückt’“, meint Gernot Krüger. „Vom kriminalistischen Standpunkt gesehen ist das aber gut. Ein verrücktes Motiv ist wesentlich vielversprechender als ein gewöhnliches.“
Leon sieht ihn skeptisch an, aber Gernot Krüger erklärt: „Nehmen Sie zum Beispiel einen Einbrecher, der in Villen einsteigt und mitnimmt, was auch immer sich zu Geld machen lässt. Da wissen wir sofort, dass das eine zähe Angelegenheit werden wird. Wir müssen hundert kleinen Spuren nachgehen, bis wir etwas finden, dass uns zu ihm führt.
Jetzt nehmen sie einen Mann, der genau so in Villen einbricht und das gleiche stiehlt. Er zertrümmert aber jedes Mal den Fernseher und nimmt Kinderspielzeug mit, ein Stofftier oder eine Puppe. Das ist offensichtlich verrückt. Aber auf diese Weise verrückt ist nur genau ein Mensch. Und seine ganz spezielle Verrücktheit führt uns zu ihm.
Was also kommt Ihnen hier ganz speziell verrückt vor?“
„Das Motiv?“ sagt Leon zweifelnd. „Kann es wirklich sein, dass er die Prinzessin nur entführt hat, um an ihr Blut zu kommen?“
„Ich glaube schon“, sage ich nachdenklich. „Ich kann immer noch spüren, wie ihr Blut fällt, Tropfen für Tropfen, und aufgefangen wird. Aber was will er damit?“ Noch während ich das sage, beginnen alle Teile an ihren Platz zu fallen – Serafines Blut ... königliches Blut ... Altes Märchensilber ... ein Archivar, also jemand, der Geschichten niederschreibt – und plötzlich weiß ich, was er vorhat. „Die Geheimnisse des Archivars“, sage ich, und alle sehen mich an. Anscheinend ist wieder einmal eine längere Erklärung fällig.

„Mein Vater war der jüngere Bruder des Dunklen Königs“, beginne ich. „Weil der König die Verbindungen unserer Familie zu den anderen Herrschern im Märchenland verbessern wollte, sollte sein Bruder eigentlich eine von deren Prinzessin heiraten. Statt dessen verliebte er sich in die Tochter des Leiters unserer Archive und heiratete sie. Meine Eltern starben, als ich noch ganz klein war, und ich bin bei meinem Onkel, dem Archivar, aufgewachsen. Weil mein anderer Onkel, der Dunkle Herrscher, mich für eine Art königlichen Fehltritt hielt, hat er mir Titel und Erbe verweigert und beschlossen, dass ich Archivar werden sollte – womit ich nie Probleme hatte.
Als dann allerdings König Ottokar um einen Gesandten aus dem Dunklen Reich bat, wurde ich an seinen Hof geschickt – ich war immerhin von königlichem Blut und außerdem entbehrlich. So habe ich Serafine kennengelernt, wir haben uns verliebt und schließlich geheiratet ... womit ich sozusagen die Aufgabe meines Vaters doch noch erfüllt habe. Daher habe ich Titel und Erbe schließlich doch erhalten, und der König redet mich mit 'geschätzter Neffe’ an...
Aber der Punkt ist: Ich bin ein vollständig ausgebildeter Archivar, und ich bin auch in die Geheimnisse des Archivars eingeweiht. Eines der Geheimnisse ist dieses: Archivare schreiben mit besonderen Federn, die dem Geschriebenen Wirkung und Dauer verleihen. Diese Federn müssen aus Altem Märchensilber gefertigt werden.“ Ich merke, dass die anderen beginnen, die Zusammenhänge zu erkennen. „Zweitens: Könige und Herrscher benutzen eine besondere Tinte, wenn sie Verträge und Bündnisse unterzeichnen. Sie fügen ihr etwas von ihrem eigenen Blut hinzu, nur dann entfalten die Dokumente ihre Wirkung. Tinte mit königlichem Blut hat also besondere Kräfte. Und schließlich: Manche Geschichtsschreiber, besonders die aus den alten Archivarsfamilien, haben eine ganz besondere Gabe. Sie können mit einer besonderen Feder und dieser speziellen Tinte die Geschichte umschreiben. Das heißt, sie können Geschichten niederschreiben, die dann zum Leben erwachen.“
„Sie meinen, sie können sich Dinge ausdenken, die dann genau so geschehen?“ fragt Herr Krüger. Ich nicke. „Nur im Märchenland oder auch hier? Und was ist da alles möglich?“
„Wahrscheinlich wirkt das nur auf das Märchenland“, antworte ich, „aber Geschichten von der einen Seite schlagen immer auch auf die andere durch. Und wie weit das geht? Praktisch unbegrenzt, soweit ich weiß. Die Frage ist natürlich, ob dieser Hubertus von Wasauchimmer wirklich die Gabe des Schöpferischen Schreibers hat.“
„Ich würde mal sagen, zumindest nimmt er das an“, sagt Leon und schüttelt sich. „Puh. Er stiehlt also der Prinzessin Blut, das Silber hat er schon, er bastelt sich eine Feder und dann schreibt er los. Das gibt uns einen doppelten Grund, ihn so schnell wie möglich zu finden.“

Ich lasse mich in einen Sessel sinken. „Gut, wir kennen jetzt das Motiv, aber genau genommen sind wir keinen Schritt weiter“, sage ich niedergeschlagen.
„Versuchen wir etwas anderes“, sagt Gernot Krüger. „Sie sind wahrscheinlich die ganzen Abläufe immer wieder von Anfang bis Ende durchgegangen. Offensichtlich hat es nichts gebracht. Also fangen wir einfach mal am Ende an. Was war das letzte, das passiert ist?“
„Die Schlange und das halbe Huhn sind mit dem Wagen abgehauen“, sagt Leon. „Was verhindert, dass ich ihre Spur aufnehmen kann. Davor...“
„Moment“, unterbreche ich ihn. „Die beiden sind mit Serafine durch die Vordertür raus. Aber was ist mit den Gnomen? Sie waren in der Küche, und dann waren sie verschwunden. Beim ersten Mal sind sie durch die Hintertür geflüchtet. Diesmal auch?“
„Nein, diesmal nicht“, sagt Leon nachdenklich. „Das hätte ich gehört. Aber wohin sind sie dann...“
Wir sehen uns an. „Der Keller!“ sagen wir beide gleichzeitig.

Ja: das Krachen im Keller, bevor alles losging. Leon und ich wissen genug über Gnomen, um uns denken zu können, was das bedeutet. So gehen wir alle vier in den Keller und sehen nach.
Serafine und ich leben hier noch nicht lange genug, als dass sich irgendwelches Gerümpel angesammelt hätte. Es gibt nur ein Regal für Vorräte und das Kaminholz, deshalb sehen wir es sofort. Da ist eine Stelle in der Außenwand, wo die Ziegel aussehen, als wären sie zusammengestürzt und dann schlampig wieder aufgerichtet worden.
„Ein Gnomentunnel“, sage ich.
„Können wir dem folgen?“ fragt Herr Krüger.
„Nein, Gnomen lassen ihre Tunnel hinter sich zusammenstürzen. Wir müssten mühsam nachgraben.“
„Bah“, sagt Leon. „Gnomentunnel laufen nie tiefer als einen oder zwei Meter. Ich kann der Witterung mühelos an der Oberfläche folgen, besonders bei diesem nassen Wetter.“
„Sie können die Gnomen riechen?“ fragt Frau Krüger. „Stinken die für Ihre Nase denn so furchtbar?“
Leon lächelt nicht. „Nein. Im Gegenteil. Sie riechen ausgesprochen lecker.“
Die Krügers sehen ihn erschrocken an. Ja, denke ich, ihr vergesst immer wieder, dass er ein Raubtier ist.
„Wir essen schon seit sehr langer Zeit nichts mehr, mit dem wir uns unterhalten könnten“, sagt Leon. „Aber das ändert nichts daran, dass sie immer noch verdammt lecker riechen.“
„Also gut“, sagt Gernot Krüger. „Ich hole schnell meine Jacke, dann können wir los.“

So brechen er, Leon und ich auf, um dem Gnomentunnel zu folgen. Frau Krüger bleibt in meinem Haus, falls die Entführer wider erwarten doch noch anrufen und irgendwelche Forderungen stellen sollten.
Ich glaube, Leon ist nicht ganz einverstanden, dass Herr Krüger uns begleitet. Aber er ist Polizist, er hat einen scharfen Verstand, und außerdem ist dies seine Welt. Er erkennt Dinge, die wir übersehen würden.

Wir folgen also dem Gnomentunnel. Zuerst finden wir eine kurze Abzweigung, durch die sie offensichtlich die Schlange und den anderen Typen in unser Haus geschleust haben, dann folgen wir dem Haupttunnel. Wie Leon vermutet hatte, verläuft er knapp unter der Oberfläche, immer zwischen der Straße und den Fundamenten der Häuser, unter den Vorgärten hindurch. Und jetzt erweist es sich als sehr nützlich, dass wir Gernot Krüger bei uns haben.
In der nächsten Stunde höre ich die verschiedensten Varianten von 'Polizei. Wir ermitteln in einem Fall und folgen einer wichtigen Spur. Dafür müssten wir Ihr Grundstück überqueren.’ Da wir weder Häuser betreten noch etwas mitnehmen oder kaputtmachen, bekommen wir die Erlaubnis jedes Mal ohne Schwierigkeiten. Dann und wann, wenn niemand zuhause ist, klettert Leon über einen Zaun.
Der Tunnel verläuft zuerst fast schnurgerade und macht dann eine Linkskurve. Schließlich führt er uns in ein kleines innerstädtisches Gewerbegebiet. Hier müssen wir niemanden um Erlaubnis bitten, denn er zieht sich unter den Parkplätzen hindurch. Schließlich endet er unter einer leer stehenden Halle. Nach dem Unkraut auf dem Parkplatz wird sie schon länger nicht mehr genutzt.
„Sie haben ihr Hauptquartier in dem Keller unter dem Gebäude“, sagt Leon. „Mindestens ein Dutzend von ihnen ist da unten. Ich denke, sie haben keine Ahnung, dass wir sie verfolgen.“
„Gebäude wie dieses haben normalerweise keinen Keller“, wendet Herr Krüger ein.
Leon grinst. „Doch, jetzt schon.“ Dann schleicht er los, um den Eingang zu suchen.

Er findet eine Falltür und erklärt uns seinen Plan. Der ist denkbar einfach: Er geht rein und stellt die Gnomen, wir kommen nach und passen gleichzeitig auf, dass sie nicht durch diesen Ausgang flüchten.
Also reißt er die Falltür auf und springt hinein, in seiner Gestalt als Tiger. Wir hören Tigergebrüll und dann seine Stimme, die uns ruft. Er klingt ziemlich zufrieden.
Wir klettern eine Leiter hinunter und kommen durch einen kurzen Gang, in dem wir uns bücken müssen, in eine Art Lagerraum. Selbstgebaute Regale an den Wänden, Leon, immer noch Tiger, der die einzige andere Tür bewacht, und Gnome – ich zähle acht –, die sich ängstlich an die Wand drücken.
Acht Paar Gnomenaugen blicken mich verschüchtert an. „Ihr wisst, wer ich bin“, sage ich. Allgemeines Nicken. Ich sehe wenig Sinn darin, Zeit mit diplomatischem Drumherumgerede zu vergeuden. Also frage ich direkt: „Ihr habt den Leuten geholfen, die Serafine entführt haben. Wisst ihr, wohin die sie gebracht haben?“
Ängstliches Kopfschütteln. Dann fasst ein Gnom genug Mut, um zu erklären: „Nein. Er hat es uns nicht gesagt.“
„Wer ist 'er’? Dieser Mann?“ Ich halte Patricks Zeichnung des 'Meisters’ hoch.
Allgemeines Nicken. „Er hat Serafine entführen lassen. Ihr müsst mir alles sagen, was ihr über ihn wisst“, sage ich und versuche streng zu klingen. Das fällt mir allerdings nicht ganz leicht, denn die acht Wichte wirken so verängstigt, dass ich ihnen lieber über den Kopf streichen und ihnen versichern möchte, wir wären nicht wirklich böse auf sie.
„Er wird ihr nichts tun“, erklärt einer der Gnome. Dann, etwas weniger sicher: „Bestimmt wird er ihr nichts tun.“
Das hoffst du, denke ich, aber du hast deine Zweifel. Und er tut ihr schon etwas: Ihr Blut fließt immer noch. Tropfen für Tropfen fällt, zwar sehr langsam, aber ich frage mich, wieviel Blut sie schon verloren hat. Ich zwinge mich, nicht daran zu denken.
Laut sage ich: „Er hält sie gefangen, und das ist schon schlimm genug.“
Jetzt sehen die Gnomen mich mit einem anderen Ausdruck an – weniger Angst, mehr Mitleid. Sie beginnen zu tuscheln. Dann sagt einer: „Er heißt Hubertus.“
Also doch! Er ist wirklich unser geheimnisvoller Archivar ... aber das hilft uns jetzt nicht weiter.
„Wir haben eine Maschine für ihn gemacht“, sagt ein anderer Gnom.
Oh. Das allerdings könnte uns helfen. „Habt ihr sie für ihn aufgestellt? Oder hat er sie abgeholt?“
„Wir haben nur die Pläne gemacht. Er hat sie dann selbst gebaut. Wir haben sie nicht gesehen, aber er sagt, sie läuft einwandfrei.“ Er klingt stolz.
„Die Wurfmaschine für das Netz haben wir auch gemacht“, sagt ein anderer Gnom. Dann wirft er einen nervösen Blick auf Leon. „Aber wir wussten nicht, dass Strom an dem Netz war. Sie haben es uns gegeben, das Netz, und es war schon so. Wir haben das nicht gewollt.“
Ich denke an die erschrockenen Gnomenstimmen in der Küche und nicke. „Wisst ihr sonst noch etwas, das uns helfen könnte?“
Tuscheln, bedauernde Blicke, Kopfschütteln. Ach, verdammt. „Warum arbeitet ihr überhaupt für diesen Kerl?“ frage ich.
Die Antwort verblüfft mich dann wirklich. „Er wird Zwerge aus uns machen“, sagt ein Gnom. Die anderen nicken mit leuchtenden Augen.
„Das ist doch kompletter Blödsinn“, sagt Leon.
„Nein, er kann das. Er hat auch die Schlange gemacht, und den Schwan. Und die große Fledermaus. Er hat allen versprochen, dass er ihr Leben so ändert, wie sie das wollen. Wir werden Zwerge.“
Das muss ich erst einmal sortieren. Der komische Vogel soll also ein Schwan sein? Und Patricks Kumpel Sven wurde ebenfalls von dem Meister verwandelt? Dann hat dieser Mann wirklich die Gabe des Schöpferischen Schreibers ... aber wie konnte er mit seinen Geschichten Wirkung erzielen, bevor er Serafines Blut hatte? Wie auch immer, das ist im Moment unwichtig.
Jetzt verstehe ich auch, wie er all die Randfiguren auf seine Seite gebracht hat. Er hat ihnen, oder zumindest denen, die zu seinem inneren Kreis gehörten, versprochen, ihre größten Wünsche wahr werden zu lassen. Und mit seiner Gabe und Serafines Blut könnte er das wirklich.
Ich wende mich wieder den Gnomen zu. „Ihr wollt also Zwerge werden? Warum?“
„Dann können wir endlich unsere Sachen so bauen, wie sie werden sollen.“ Nicken und zustimmendes Gemurmel.
„Ich verstehe. Und ich glaube, dass er euch wirklich verwandeln könnte. Aber seid ihr sicher, dass ihr wirklich Zwerge werden wollt? Denn dann werdet ihr alles verlieren, wozu ihr als Gnome fähig seid. Ihr werdet wunderbare Dinge bauen können, aber ihr könnt dann nichts mehr entwerfen. Keine neuen Maschinen, keine Erfindungen. Zwerge können das nicht.“
Erschrockenes Gemurmel. „Ich glaube aber, ich weiß, wie ihr das bekommen könnt, was ihr möchtet. Ihr müsstet mit den Zwergen zusammenarbeiten. Stellt euch vor, ihr macht die Pläne und sie führen sie aus. Eure Entwürfe, gefertigt als allerfeinste Zwergenarbeit. Ist es nicht das, was ihr wollt?“
Allgemeines verwundertes 'Oh’, dann beginnt ein eifriges Getuschel. Schließlich meldet sich der Gnom, der vorhin erklärt hatte, er hätte für den Meister eine Maschine entwickelt. „Würde dann auch draufstehen 'Entworfen von Wiedewitt dem Technischen vom Gnomenkollektiv Lichtfein’?“
„... 'und gefertigt in der Zwergenwerkstatt Unterberg’. Ja, so etwas würde draufstehen. Und den Gewinn würdet ihr euch teilen.“
Ich sehe Begeisterung auf allen Gnomengesichtern. Dann Zweifel. „Die Zwerge würden nie mitmachen“, sagt einer traurig.
„Ich denke, man kann sie überzeugen“, sage ich zuversichtlich. „Ich kenne jemanden, der dafür sehr gute Argumente hat, und werde ihn bitten, mit den Zwergen zu verhandeln.“ Willkommen im diplomatischen Dienst, Patrick von Unterwieser, denke ich. Aber im Augenblick sind andere Dinge wichtiger. „Doch zuerst muss ich Serafine finden. Falls ihr mir helfen könnt, dann tut es bitte. Dieser Mann verändert Dinge, indem er Geschichten niederschreibt. Er braucht dafür eine besondere Tinte, die königliches Blut enthält. Deshalb hat er Serafine entführt: Er will ihr Blut benutzen.“
„Oh“, sagt Wiedewitt der Technische und fällt in Ohnmacht.
Das ist gar nicht gut, denke ich, und betrachte beklommen, wie die besorgten Gnome auf ihn zustürzen. Unter „Wiedewitt, was hat du denn?“ und „Wiedewitt, wach doch auf!“, Wangentätscheln und Handgelenkreiben kommt er langsam wieder zu sich. Er starrt mich mit großen Augen an.
„Die Maschine, die wir für den Mann entworfen haben, ist eine, die schreibt“, sagt er und wirkt immer noch leicht benommen. „Sie schreibt mit 48 Federn gleichzeitig, und er muss nur die Hand darauf legen, und alle Federn schreiben, was er will.“ Er merkt, dass ich es noch immer nicht begriffen habe. „Ganz viele Federn brauchen ganz viel Tinte...“
Oh. Ja, ich verstehe. Ich verstehe viel zu gut, und es reißt mich in die Dunkelheit. Serafine, denke ich, und dann kämpfe ich nur noch gegen das, was in mir aufsteigt. Kontrolle ist das, was ich brauche, aber die Wand, die ich errichte, hält nicht stand. Etwas strömt aus mir heraus, aber es ist seltsam: Einen winzigen Augenblick lang habe ich das Gefühl, als wenn ich etwas aus der Hand lege und etwas anderes aufnehme. Dann ist da nur noch Dunkelheit.

Als ich wieder bei mir bin und die Augen öffne, stehe ich knöcheltief in Holzschredder. Ich sehe mich um: Die Gnomen haben sich verschüchtert an die Wand gedrückt, Leon und Gernot Krüger stehen dort, wo sie waren, aber jedes Regal und jeder Tisch im Raum hat sich in Späne und Splitter verwandelt.
„Ist jemand verletzt?“ frage ich.
„Nö“, sagt Leon und bürstet sich Schredderspäne aus dem Fell. „Es war wie eine Art unsichtbare Riesenraspel, die oben angesetzt und dann jedes Teil aus Holz in Sekunden in das da verwandelt hat. Extrem eindrucksvoll, aber man konnte ihm leicht aus dem Weg gehen. Nur das Zeug aus den Regalen ist runtergefallen.“ Er blickt von Gernot Krüger, der sehr besorgt aussieht, zu mir. „Was...?“
„Leon, ganz viele Federn brauchen ganz viel Tinte. Und ganz viel Tinte bedeutet ganz viel Blut.“
„Oh“, sagt er und sieht mich erschrocken an, dann wirft er den Gnomen einen finsteren Blick zu.
„Er wollte etwas in der Maschine, mit dem man der Tinte etwas zumischen kann“, sagt Wiedewitt nervös. „Aber wir wussten doch nicht, dass es das war.“
„Es ist nicht eure Schuld“, sage ich müde. „Ach, verdammt. Es wird immer dringender, Serafine zu finden, aber weiß wirklich nicht, wie wir das je schaffen sollen. Jede Spur endet in einer Sackgasse.“
„Vielleicht nicht“, sagt Gernot Krüger. „Vielleicht haben wir hier doch etwas gefunden, das uns weiterhilft.“
Dann wendet er sich an Wiedewitt. „Du sagtest, ihr habt diese Maschine entworfen, aber der Mann hat sie gebaut“, sagt er freundlich. Wiedewitt nickt. „Kannst du dich vielleicht noch daran erinnern, welche Teile man für die Maschine brauchte? Was er kaufen musste, um sie bauen zu können?“
„Oh“, sagt Wiedewitt. „Die Materialliste?“ Dann fängt er an, technische Angaben herunterzurattern.
„Einen Augenblick“, sagt Gernot Krüger und zieht sein Telefon aus der Tasche. Dann lässt er den Gnom die Angaben wiederholen und tippt sie sorgfältig in sein Smartphone. Es wird ein ziemlich lange Liste.
Als Wiedewitt fertig ist, wendet sich Gernot Krüger an mich: „Die meisten von diesen Sachen bekommt man nicht einfach im Baumarkt. Besonders die Zahnräder und die Getriebeteile... Ich glaube, es gibt höchstens zwei oder drei Geschäfte in dieser Stadt, die so etwas verkaufen. Wir haben eine gute Chance, dass sich jemand daran erinnert, wer diese Bestellung aufgegeben hat.“ Dann wählt er eine Nummer.
„Hallo, Dietmar“, sagt er. „Ja, ich bin im Urlaub, aber ich bin da auf etwas gestoßen, dass vielleicht von Bedeutung ist. Könnt ihr etwas für mich überprüfen? ... Ja, es ist sehr eilig. Pass auf, ich schicke euch eine Mail mit einer Materialliste. Ich müsste wissen, wer das gekauft hat und wenn irgend möglich auch seine Adresse ... Ja ... genau ... Dann schicke ich noch ein Foto von einer Zeichnung mit. Wundert euch nicht, sie wurde ... äh ... bei einer Theateraufführung gemacht, aber vielleicht erkennt jemand den Mann trotzdem wieder ... ja, gut ... ja, sehr eilig ... Danke.“ Dann macht er noch das versprochene Foto, und dann warten wir.

Mehr Gnomen erscheinen aus den hinteren Räumen – anscheinend gelten wir jetzt als freundlich, trotz meines Aussetzers. Gemeinsam machen sie sich daran, den Holzschredder zusammenzufegen und verstreute Zeugs aus den heruntergefallenen Dosen wieder einzusammeln. Leon nimmt Menschengestalt an, was die Gnomen sehr erleichtert. Ja, denke ich, auch andere erinnern sich noch daran, wer einst die Beute war und wer der Jäger. Dann klingelt Gernot Krügers Telefon.
„Ja“, sagt er, „sehr gut ... das ging ja schnell ... ja ... ja ... ach, wirklich? ... sehr schön ... was? ... erstaunlich ... vielen Dank, das war wirklich gute Arbeit.“ Er sieht uns an und lächelt. „Wir haben einen Namen. Gleich der erste Ladenbesitzer konnte sich an den entsprechenden Käufer erinnern. Er hat den Kunden auch auf dem Bild erkannt, obwohl er die Augenbrauen etwas übertrieben fand. Der Mann nannte sich Hubert Schreiber.“
„Das hätten wir uns denken können“, grummelt Leon.
„Ja, aber der Name war falsch. Das macht aber nichts, wir haben nämlich auch die Lieferadresse. Haltet euch fest: Der Mann ist der neue Pächter vom alten Wasserturm.“
„Das passt“, sagt Leon. „Der böse Zauberer in seinem Turm. Dann werden wir ihn da mal rausholen.“

Gernot Krüger ruft ein Taxi, und wir verabschieden uns von den Gnomen. Auf das Taxi müssen wir nicht lange warten, und es bringt uns in wenigen Minuten an unser Ziel.
Während der Fahrt frage ich mich, was ein Wasserturm wohl ist. Ein Turm aus Wasser wird es wahrscheinlich nicht sein, nicht in der Menschenwelt. Ich stelle mir einen trutzigen alten Burgturm vor, der in einem See steht, und bin deshalb etwas enttäuscht, dass es ein eher moderner Ziegelturm auf einem Hügel ist. Gernot (wir drei haben stillschweigend beschlossen, uns zu duzen) erklärt mir etwas Technisches über die städtische Wasserversorgung und den Druck in den Leitungen, das ich sofort wieder vergesse.
Der Turm steht in einem ziemlich vernachlässigten Park, und als wir dem Weg zu ihm folgen, erzählt uns Gernot: „Als der Turm nicht mehr gebraucht wurde, hat man ihn umgebaut. Eine Zeit lang waren dort ein Café als Jugendtreff und die Büros verschiedener Bürgergruppen, aber das Café wurde immer mehr zu einem Treffpunkt für Drogensüchtige. Die Initiativen sind eine nach der anderen ausgezogen, und schließlich hat die Stadt den Pachtvertrag für das Café gekündigt. Seit etwas mehr als einem Jahr gibt es einen neuen Pächter. Er hat gesagt, er will den Turm zu einer Galerie umbauen, aber bis jetzt hat sich da noch nichts getan. Der Stadt ist das egal, solange er seine Pacht pünktlich zahlt.“
„Eine gute Tarnung“, meine ich, „wenn es denn unser Mann ist.“
„Ist es“, sagt Leon, der bis jetzt geschwiegen hat. „Die Prinzessin ist diesen Weg gegangen, heute. Die Schlange ebenfalls, und nicht zum ersten Mal. Wir sind hier richtig.“

Der Turm gleicht einem eher eckigen Pilz mit wenig auskragendem Hut. Im Stiel scheint es drei Stockwerke zu geben, nach den sehr schmalen Fenstern zu schließen. Das oberste Stockwerk dagegen, sozusagen der Hut, ist rundum verglast, mit undurchsichtigen Scheiben. Es gibt nur eine Tür, aus robustem Stahl und ohne Klinke.
„Nach der Witterung, die ich aufnehmen kann, geht hier etwa ein halbes Dutzend Leute ein und aus“, sagt Leon. „Einer davon ist die Schlange und mindestens ein anderer ein Werwolf. Ich kenne keinen von ihnen... Die Prinzessin ist ebenfalls im Turm: Sie ist reingegangen und bis jetzt nicht wieder rausgekommen.“
Er untersucht das Schloss in der Eingangstür. „Tja, das kann ich mit Bordmitteln nicht knacken.“
„Gut“, sagt Gernot. „Dann haben wir also das Versteck der Entführer gefunden. Ich denke, wir stimmen darin überein, dass wir sofort etwas unternehmen müssen. Der mögliche Blutverlust deiner Frau...“ Er wirft mir einen vorsichtigen Blick zu, aber ich nicke nur. „Dann werde ich das SEK kommen lassen.“
Ich frage mich, was das wohl ist, und stelle mir eine hochmoderne Belagerungsmaschine vor, natürlich elektrisch betrieben, aber Leon übersetzt: „Sondereinsatzkommando. Ein Dutzend harter Jungs mit schusssicheren Westen, Blendgranaten und einer Menge Wumms.“
„Wozu brauchen wir die?“ frage ich verwundert. „Wir haben doch einen Tiger.“
„Genau“, sagt Leon. „Hm, das Schloss bekomme ich nicht auf und die Tür ist ein bisschen zu stabil.“ Er sieht am Turm entlang nach oben. „Da wird wohl eine größere Kletterpartie fällig.“
„Warte“, sage ich, „möglicherweise kann ich die Tür öffnen.“
Ich sehe mir das Schloss an. Es ist für so einen modernen Schlüssel ohne Zacken gemacht, aber das bedeutet wenig: Innen sind alle Schlösser gleich. Ich vermindere meine Dichte, bis ich meine Finger wie einen Rauchfaden in das Schlüsselloch gleiten lassen kann. Dann gebe ich ihnen etwas mehr Dichte – das ist unangenehm und klemmt, aber nur so geht es. Ich fühle den inneren Bau des Schlosses ... ja, ich verstehe, wie es funktioniert. Hier drücken, hier und hier, dann klickt es und die Tür geht auf. Vorsichtig ziehe ich meine Finger wieder zurück.
Gernot starrt mich verblüfft an. „Schattenfürsten sind halbmateriell“, sage ich. „Das erkläre ich dir später. Jetzt gehen wir rein.“
Leon nimmt Tigergestalt an und schiebt sich durch den Türspalt. „Kommt nach, aber leise“, murmelt er.
Wir betreten das Erdgeschoss des Turms. Es ist ein einziger großer Raum und fast leer. Rechts an der Wand führt eine stählerne Wendeltreppe nach oben, ansonsten gibt es noch zwei Stahlschränke, die nach Technik aussehen, Schaufel und Besen zum Schneeräumen und zwei Fahrräder. Das elektrische Licht ist an.
„Hier unten ist niemand“, sagt Leon sehr leise. „In ersten Stock sind die Schlange und noch ein oder zwei andere. Im Stock darüber sind noch zwei oder drei ... Serafine muss ganz oben sein, und der Meister vermutlich auch. Die übliche Geschichte: Der böse Zauberer sitzt im obersten Turmzimmer.
Gut, ich gehe rauf. Ihr kommt erst nach, wenn ich rufe.“
Gernot ist offensichtlich damit nicht ganz einverstanden, aber bevor er etwas sagen kann, hetzt Leon schon in weiten Sätzen die Treppe hinauf.

Wir lauschen. Tigerfauchen, dann ein Krachen wie von durcheinander geworfenen Möbeln, Gebrüll von Leon, und dann klingt es, als ob jemand schwungvoll in einem Haufen Gerümpel landet. Irgend etwas geht zu Bruch. Das Fauchen eines ziemlich wütenden Tigers und ein panisches Schnattern. Der komische Vogel? Nach einem Schwan klingt das jedenfalls nicht.
Kurz ist es still, dann Leons Sprünge auf der Treppe. Dann ein Schuss – nur einer. Gernot zuckt zusammen, aber ich lausche. Tigergebrüll, das nicht nach Verletzung klingt, und in zweiten Stock kracht jemand gegen das Treppengeländer. Der Schütze? Jedenfalls nicht Leon, sondern jemand leichteres.
Jetzt allgemeine Kampfgeräusche, es geht hin und her. Dann ein lautes 'Muuh!’ – ein Muuh? – und jemand geht schwer zu Boden. Nicht Leon, denn der brüllt, dann ein Schnaufen wie von einer Dampflok, und jemand kracht in die Wand. Mehr Kampfgeräusche, etwas wie Hämmern, und ein lautes 'Rumms!’. Dann Stille.
Wir lauschen, dann Leons Stimme: „Ihr könnt raufkommen.“ Er klingt ziemlich außer Atem.
Wir steigen die Treppe hinauf. Im ersten Stock gibt es einige geschlossene Türen und das ehemalige Café. Tische und Stühle sind hier aufgestapelt, unter einem umgestürzten Haufen Möbel entdecken wir die Schlange. Gernot zieht ihn hervor. Der Typ ist außerordentlich bewusstlos und hat möglicherweise ein gebrochenes Handgelenk. Gernot bringt ihn in etwas, das meines Wissens stabile Seitenlage genannt wird, obwohl ich nicht sagen kann, ob das bei Menschen mit Schlangenkopf notwendig ist.
Ich sehe mich um und entdecke den Vogelmann. Er kauert in einer Ecke hinter einem Stapel Möbel, umgeben von einer Menge weißer Federn. Er sieht ziemlich gerupft aus – Leon war anscheinend einigermaßen erbost wegen der Sache mit dem elektrischen Netz. Der Mund des Typen sieht mehr denn je wie ein breiter Schnabel aus, und er quakt panisch vor sich hin. Ach. Unser stolzer Schwan ist nur eine hässliche Ente.
Wir lassen die beiden im Café zurück, und Gernot improvisiert aus einer zerbrochenen Stuhllehne zwei Keile, mit denen er die Tür blockiert. Dann gehen wir nach oben.
Auf der Treppe hebt Gernot etwas auf, das sich als Pistole entpuppt. Sie ist allerdings nicht mehr zu gebrauchen, denn der Schlagbolzen ist fast rechtwinklig abgebogen. Am Treppenabsatz müssen wir über eine Gestalt steigen, die wie eine besonders scheußliche Kreuzung aus Schakal und Hyäne aussieht. Dann treffen wir Leon.
Er steht in der Tür von einer Art Aufenthaltsraum mit Kaffeeküche, über eine Gestalt gebeugt. Oh. Das ist wirklich eine Überraschung. Dieser bewusstlose Gegner trägt eine gewöhnliche Jeans, aber kein Hemd. Das kann er sich leisten, denn er hat einen wirklich bewundernswert austrainierten Körper. Auf den Schultern sitzt ein Stierkopf, komplett mit weit ausladenden Hörnern. Das erklärt das 'Muuh’.
„Ein Minotaurus“, sage ich erstaunt. „Interessant. Die sieht man nur noch selten.“
„War ein ganz schön harter Gegner“, sagt Leon. Ich entdecke etwas Blut an seiner linken Pfote und bei genauerem Hinsehen zwei runde Löcher, wie Einstiche. „Die Schlange hat mich erwischt“, sagt er. „Scheint aber, dass das Gift bei mir genauso wenig wirkt wie die meisten anderen.“ Dann zeigt er in die Kaffeeküche. „Seht euch mal den da drinnen an.“
Der da drinnen ist ein bullig gebauter junger Mann mit einer merkwürdig grauen Haut.
„Der verwandelt sich in eine Art Miniaturnashorn“, sagt Leon. „Verflucht stark, und schnell dazu. Hat mich in den Türrahmen gerammt, zum Glück nur mit der Schulter. Wenn er mich mit dem Horn erwischt hätte, wären ein paar Rippen draufgegangen.“
Gernot macht sich daran, auch diese drei sachgerecht zu lagern. Bei dem Minotaurus machen es allerdings die Hörner unmöglich, so etwas wie eine stabile Seitenlage zu erreichen. Gernot muss mit ein paar Stuhlkissen improvisieren.
Als wir zu der Schakalhyäne an der Treppe zurückkehren, erleben wir eine Überraschung. Sie hat sich in einen ausgesprochen gut aussehenden jungen Mann verwandelt, der leise stöhnt.
„Armer Kerl“, sagt Leon. „Werwölfe sind ein elitärer Haufen. So, wie er als Wolf aussieht, ist er von seinem Klan garantiert rausgeschmissen worden – oder sie haben ihn wie einen Fußabtreter behandelt, bis er von selbst gegangen ist. Wie er in Menschengestalt aussieht, interessiert sie nicht.“ Er sieht mich an. „Ein paar von diesen Randfiguren haben einen guten Grund, sich Veränderungen zu wünschen.“
Ich denke an Patrick und an diesen Jungen und gebe Leon Recht. Es muss sich etwas ändern im Märchenland. Aber nicht so, wie dieser 'Meister’ es versucht.

Nachdem wir die drei in der Kaffeeküche verstaut und auch diese Tür verkeilt haben, gehen wir in das oberste Stockwerk. Hier endet die Treppe. Es gibt einen halbrunden Vorraum und nur eine Tür. Der Rest der Etage scheint ein einziger großer Raum zu sein.
„Sie sind dort drinnen“, sagt Leon leise. „Nur Serafine und ein einziger Mann. Und ich höre eine Maschine laufen.“
„Was bringt es, zu warten?“ sage ich. „Wir gehen rein.“ Dann greife ich nach der Türklinke und öffne die Tür – sie ist nicht verschlossen.

Wir treten ein. Ich sehe die Maschine, Serafine und einen Mann. Die Maschine ist riesig. Ihre Federn beschreiben ruhelos Bogen für Bogen, und in einem Glasgefäß wirbelt tiefblau die Tinte. In den Strudel fällt ein Tropfen, dann noch einer, blutrot. Serafines Blut.
Sie ist dort, festgebunden auf einer Liege, eine Nadel im Arm, von der ein Schlauch zum Tintenbehälter führt. Über ihrem Mund klebt ein silbernes Klebeband, und sie sieht mich an. Lebendig, wach und aufmerksam, aber gefangen. Oh, Serafine...
Aber ich kann nichts tun – nicht, bevor ich nicht weiß, was dieser Mann dort gegen uns einsetzen kann, dieser selbst ernannte 'Meister’. Er sitzt in seinem Sessel, in feinster Abendkleidung, mit seinem Spitzbart und den theatralischen Augenbrauen, und ist viel zu gelassen.
„Bevor Sie irgend etwas unternehmen“, sagt er, „beachten Sie bitte den Schalter unter meinem linken Ellenbogen. Sollten Sie mich angreifen, die Maschine sabotieren oder etwas anderes versuchen, das ich als eine ernsthafte Bedrohung ansehen muss, dann werde ich ihn betätigen. Dies wird die Wirkung der Pumpe am Tintenbehälter umkehren. Das wiederum wird die Tinte mit hohem Druck durch den Schlauch für die Blutzufuhr treiben...“
... und somit in Serafines Adern. Ja, ich verstehe.
„Wenn Sie das tun, sind Sie tot“, sage ich ohne besondere Betonung.
„Das ist mir bewusst. Aber Ihre Gattin würde es ebenfalls nicht überleben, und das werden Sie nicht riskieren.“
Damit hat er Recht. Dies ist, zumindest für den Augenblick, ein Patt. Und bevor ich noch überlegen kann, was das bedeutet und welche Möglichkeiten uns noch bleiben, blinzelt Leon neben mir heftig. Dann sagt er: „Oh, Mist. Anscheinend wirkt das Gift bei mir doch“, und fällt um.
„Erstaunlich“, sagt der Mann im Sessel. „Normalerweise schaltet das Gift meines schlangenköpfigen Mitstreiters die Leute in Sekunden aus. Ich fürchte, Ihr Tigerkämpfer wird Ihnen für mindestens sechs Stunden nicht zur Verfügung stehen.“
Ich betrachte Leon, der flach, aber regelmäßig atmet. Der Meister dagegen wirft einen scharfen Blick auf Gernot.
„Ihr menschlicher Begleiter erscheint mir übrigens hier sehr fehl am Platze. Er sollte uns von seiner Gegenwart befreien.“
Woher hat dieser Kerl bloß seine Ausdrucksweise? Aus einem Handbuch für drittklassige Bösewichte? Und, wichtiger, warum lässt er Gernot gehen? Er muss doch wissen, dass er Hilfe anfordern wird ... also ist dies eine Art Falle. Trotzdem ist es besser, wenn Gernot sich aus der Schusslinie bringt. Ich nicke ihm zu, und er sagt: „In Ordnung, ich gehe. Kann ich ihn mitnehmen?“ Damit meint er Leon.
„Meinetwegen“, sagt der Meister gelangweilt.
Es ist nicht leicht, einen ausgewachsenen arktischen Tiger zu bewegen, aber der Boden ist glatt, und Gernot schleift Leon hinaus. Kaum sind die beiden draußen, kracht die Tür hinter ihnen zu. Ich bin mir sicher, dass sie jetzt verriegelt ist.
„Endlich sind wir allein“, sagt der Meister freundlich. „Einen Moment bitte.“ Er ergreift mit der rechten Hand einen Federhalter und schreibt etwas auf ein Blatt Papier. Dann lächelt er. „Ihr Bekannter wird feststellen, dass der Turm keine Ausgangstür mehr hat“, sagt er. „Außerdem hat sein Telefon keinen Empfang. Ich werde mich später mit ihm beschäftigen.
Oh, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Hubertus von Löwenreh.“
Er hätte sich wirklich einen weniger bescheuerten Namen ausdenken können, denke ich, und er runzelt die Stirn.
„Können Sie sich vorstellen, wie unerfreulich es ist, nur wegen des Namens für einen Hochstapler gehalten zu werden? Wir von Löwenreh sind eine alte und ehrbare Familie. Zu dem Namen gibt es auch eine Geschichte, die ich Ihnen aber ersparen werde. Und dennoch behandelt man uns wie Betrüger, grenzt uns aus und belächelt uns.“
„Habe Sie deshalb begonnen, sich für das Schicksal anderer Randfiguren zu interessieren?“
„In der Tat. Aber zuerst war das natürlich ein fruchtloses Bemühen. Was konnte ich schon erreichen, ich, ein kleiner Archivar? Dann stieß ich auf dieses vergilbte Pergament – eine Anleitung, wie ein Geschichtsschreiber die Geschichte umschreiben kann. Ich habe lange gebraucht, um es zu verstehen – zu allem Überfluss war es auch noch in Reimen verfasst. Zur Herstellung der Feder gab es eine ziemlich klare Anweisung, aber ich habe lange nicht verstanden, was das für eine geheimnisvolle Zutat zu der Tinte sein sollte. Dann sah ich eines Tages König Ottokar ein Dekret unterschreiben, mit einem Tropfen von seinem Blut in der Tinte. Könnte die Zutat königliches Blut sein, fragte ich mich.“ Er lacht leise. „Ausgerechnet der übermütige Bruder Ihrer Frau gab mir die Möglichkeit, es auszuprobieren. Bei den Reiterspielen zum Erntefest fiel er vom Pferd und holte sich eine blutige Nase. Die Diener eilten herbei, mit Tüchern und Eisbeuteln, und ich habe ein blutgetränktes Tuch mitgehen lassen. Das Blut habe ich mit Tinte extrahiert, und es funktionierte tatsächlich. Also habe ich eine größere Menge an Silber organisiert und bin hierher in die Menschenwelt gekommen. Hier habe ich dann meine Versuche fortgesetzt.“
„Habe Sie wirklich die Schlange und diesen komischen Vogel verwandelt?“
„Oh ja! Können Sie sich vorstellen, dass sie wirklich diese Gestalt annehmen wollten? Unfassbar, nicht wahr?“ Er lacht wieder, leise und kultiviert.
Ich sehe zu Serafine, die uns aufmerksam zuhört. Sie vertraut mir, und ich weiß immer noch nicht, wie ich ihr helfen soll. „Dann haben Sie Serafine entführt, um an eine größere Menge königliches Blut zu kommen“, sage ich. „Und jetzt? Werden Sie die Maschine benutzen, um auch die Wünsche der anderen Randfiguren zu erfüllen?“
„Ach, das ist zweitrangig. Nein, was nützt es ihnen, wenn ich das Los einer jeden Randfigur ein wenig verbessere? Das Märchenland braucht grundlegende Veränderungen.“
„Und an denen schreiben Sie jetzt?“ Ich betrachte seine Hände. Die rechte hält eine Feder, mit der er offensichtlich jederzeit etwas niederschreiben und die Wirklichkeit verändern kann. Die linke, deren Ellenbogen über dem Schalter schwebt, liegt auf einem Knauf, der mit der Maschine verbunden ist und über den offensichtlich seine Vorstellungen in die Federn fließen.
„Ich beginne gerade damit, ja“, beantwortet er meine Frage. „Zuerst habe ich aber einige Versuche gemacht, um zu sehen, was möglich ist. So gibt es jetzt einen Stamm Kiemen tragender Fischmenschen vor der Küste von Lummeney, und es streifen wieder Einhörner durch das Märchenland.“ Er lächelt. „Ihrem Dunklen Reich habe ich schwarze Schatteneinhörner gegönnt, und im Wald von Broceliande gibt es ein geheimnisvolles unsichtbares Einhorn.
Aber das sind nur Spielereien. Inzwischen widme ich mich meinem wirklichen Ziel. Ich werde das ganze verrottete System des Märchenlandes in sich zusammenstürzen lassen. Ich werde jede Dynastie, jedes Fürstengeschlecht und jedes Königshaus unwiderruflich aus der Geschichte tilgen.“ Seine Augen leuchten, aber er wirkt nicht wie ein Verrückter. Nur auf sehr erschreckende Art von seiner Idee überzeugt.
„Die Leute im Märchenland wünschen sich Fürsten und Könige“, sage ich leise. „Ansonsten gäbe es diese schon lange nicht mehr.“
„Ja, 'die Leute’ vielleicht“, sagt er verärgert. „Die fetten, satten Leute, die ihre Posten und ihre sichere kleine Welt verteidigen. Aber nicht all die anderen, die in diesem Mief ersticken. Ein Sturm wird durch das Land fegen und alles Alte niederreißen. Aus den Trümmern kann dann eine neue, freiere Welt entstehen, eine Welt, in der wieder Titanen über die Erde schreiten, die Wilde Jagd nachts durch die Wälder fegt und sogar Drachen über unseren Städten kreisen.“
Ja, denke ich, und niemand wird mehr seines Lebens sicher sein. Freiheit und das Ende der Herrscherhäuser? Nein. Es wird ein Zeitalter der Möchtegern-Herrscher und Tyrannen werden, denen die Leute nachlaufen, weil sie zumindest ein wenig Sicherheit versprechen. Das hatten wir doch alles schon. Du bist Geschichtsschreiber, denke ich, du müsstest das wissen. Und was weißt du von Drachen?
Serafine gibt einen verächtlichen Laut von sich. Ihre Augen funkeln – offensichtlich ist sie meiner Meinung. Der verdammte Knebel... Laut sage ich: „Muss dieses Klebeband wirklich sein? Es erscheint mir unangemessen.“
„Was?“ Der Meister wirkt wie aus seinen Gedanken gerissen. „Ach, meine Leute brachten sie so – wahrscheinlich dachten sie, das gehöre zu einer ordentlichen Entführung. Einen Augenblick.“ Er schreibt etwas auf sein Blatt, und der Knebel verschwindet.
„Bäh“, sagt Serafine. Sie sieht mich an. „Sebastian.“
„Serafine“, sage ich. Mehr werden wir diesem überheblichen Mistkerl nicht gönnen, keine Liebesschwüre oder verzweifelten Bitten um Hilfe.
Sie funkelt den Meister an. „Was, denkt Ihr, habe Ihr meinem Mann entgegenzusetzen“, sagt sie, „einem Dunklen Wesen und Schattenfürsten, den kaum etwas in beiden Welten vernichten kann außer der Zeit und Drachenfeuer?“
Das ist jetzt sehr altmodisch ausgedrückt, denke ich leicht verblüfft, und es gibt durchaus noch andere Dinge, die mich umbringen können ... warum spricht sie das jetzt an? Da ist etwas in ihrem Tonfall...
Der Tonfall. Oh. Serafine ist ein Mensch und verfügt nicht über Magie, aber es gibt auch andere Gaben. Leons Gabe der Verwandlung, die Kraft des Schöpferischen Schreibers ... und Serafine ist die Tochter des Wahren Märchenkönigs. Ihre Familie hatte schon immer die Kraft der Bezauberung und Überzeugung. Sie benutzen sie nicht, weil sie die Menschen nicht auf diese Weise manipulieren wollen, aber sie haben sie.
„Ihr bringt mich da auf eine Idee“, sagt der Meister fast amüsiert.
Es wirkt, denke ich, aber du spielst ein gefährliches Spiel.
Er spricht weiter, heiter und nachdenklich. „Ihr habt Recht: Es ist tatsächlich nicht so leicht, einen Schattenfürsten auszuschalten. Die Zeit oder Drachenfeuer? Nun, auf die Zeit habe ich keinen Einfluss, aber Drachen...“ Er lächelt und beginnt zu schreiben.
Serafine, denke ich, war das jetzt wirklich eine gute Idee? Drachen ins Spiel zu bringen...
Niemand versteht Drachen, und der Meister am allerwenigsten. Er will den Drachen gestatten, wieder über das Land zu fliegen? Sie haben sich nicht auf die westlichen Inseln zurückgezogen, weil irgendwer sie dazu gezwungen hätte. Sie wollten es so. Man kann Drachen nicht zwingen.
Drachen sind geheimnisvoll und unergründlich. Sie sprechen selten, und wenn, dann in Rätseln. Niemand kennt ihre Gründe oder versteht, wie sie denken. Man kann Drachen nicht herbeirufen, aber manchmal kommen sie trotzdem. Wenn man einen Drachen um etwas bittet, bekommt man immer etwas, heißt es – aber nur selten das, worum man gebeten hat. Manchmal ist ihr Geschenk ein schneller Tod zwischen ihren Klauen. Wie ich sagte: Niemand versteht Drachen. Sie sind alt, weise – auf ihre Art – und absolut unberechenbar.
Nein, denke ich, bevor ich mich auf den unergründlichen Ratschluss eines Drachens einlasse, versuche ich etwas anderes. Die Lage ist verzweifelt. Serafine... Die Dunkelheit in mir brodelt dicht unter der Oberfläche. Wenn ich sie jetzt freilasse, wird sie alles zerschmettern, den Turm, uns drei hier oben, Leon und Gernot. Aber ich erinnere mich an diesen kurzen Augenblick bei den Gnomen: Ich habe etwas liegen lassen und etwas anderes aufgenommen. Habe ich doch so etwas wie Kontrolle?
Ja, ich will daran glauben. Ich schließe die Augen. Die Tinte darf nicht in Serafines Adern fließen, denke ich konzentriert. Und ich will kein Lebewesen verletzen. Aber dies hier muss ein Ende haben. Dann überlasse ich mich der Finsternis.
Ich spüre es aufsteigen und aus mir herausbrechen, aber es ist anders als sonst. Etwas liegen lassen, etwas aufnehmen... Nein, ich kann es nicht auf ein Ziel richten, aber ... hat es einen Einfluss, wenn ich weiß, was ich nicht will, unter keinen Umständen? Ich öffne die Augen.
Serafine liegt vor mir, ich stehe neben der Liege, sie sieht mich an. Es geht ihr gut. Die Maschine ist nur noch ein Haufen Holztrümmer.
Ich ziehe die Nadel aus ihrem Arm und verschließe die Wunde mit einem Kuss. Dann habe ich also wirklich so etwas wie Kontrolle. Nicht über die Kraft an sich, aber darüber, worauf ich sie richte ... oder besser, worauf ich sie nicht richte. Die alten Geschichten sind falsch.
Was ist mit dem Meister? Er sitzt noch immer in seinem Sessel, wirft einen kurzen Blick auf uns, schreibt dann hastig weiter. Um ihn werde ich mich kümmern müssen, aber zuerst binde ich Serafine los.
„Er hat den Knopf gedrückt“, sagt sie. „Das ganze Holz flog durch die Luft wie in einem Strudel, und er hat sofort den Knopf gedrückt, aber ich glaube, die Splitter haben die Pumpe blockiert. Nichts ist geschehen. Dann platzte der Glasbehälter, und die Tinte lief aus. Und plötzlich standest du neben mir.“
„Ich habe doch eine gewisse Kontrolle“, sage ich „Zumindest teilweise.“ Dann küsse ich sie.
„Und jetzt holen wir uns den Meister“, sagt Serafine. Wir sehen zu ihm hinüber. Er schreibt immer noch wie besessen, aber nichts geschieht. Gut. Serafine und ich sollten ihn überwältigen können – er ist kein Kämpfer. Wenn wir ihm die Feder wegnehmen, ist er hilflos.

Dann geschehen mehrere Dinge gleichzeitig. Wir gehen auf ihn zu, der Meister setzt schwungvoll einen letzten Strich unter das Geschriebene, und die Hälfte der Fenster im Raum verschwindet. Sie bersten nicht, sie zerkrümeln nicht, die Scheiben sind einfach nicht mehr da. Und auf der Brüstung sitzt ein Drache.

Drachen sind nicht das, was die Menschen in ihren Geschichten aus ihnen gemacht haben. Sie sind keine schuppigen Echsen, und ich kennen keinen, der mehr als dreieinhalb Meter lang ist, den Schwanz eingeschlossen. Dieser hier würde mich aufgerichtet um nicht mehr als Haupteslänge überragen. Das macht ihn nicht weniger gefährlich.
Er ist grün, ein tiefes, dunkles Grün, auf dem Rücken wie mit Kupferstaub bestreut. Vornübergebeugt kauert er in der Fensteröffnung, und sein Blick wandert von Serafine zu mir zum Meister.
„Oh wie wundervoll“, sagt dieser und breitet die Arme aus. „Willkommen, edler Herr Drache! Ich bin hocherfreut, dass Ihr meinem Ruf Folge geleistet habt.“
Du weißt nichts von Drachen, denke ich. Wenn er gekommen ist, dann aus seinen ganz eigenen Gründen.
„Bitte erweist mir einen kleinen Gefallen“, fährt er fort. „Dieser Mann dort“ – er deutet mit einer schwungvollen Geste auf mich – „Fürst Sebastian von den Schatten, gefährdet meine Pläne auf ganz unerträgliche Weise. Ich fürchte, es ist unumgänglich, ihn zu vernichten. Bitte, übernehmt das für mich. Ich verspreche Euch, dass ich dann alles in meiner Macht stehende für Euch – für alle Drachen – tun werde. In dem neuen Märchenland, dessen Geschichte ich gerade schreibe, werdet Ihr wieder Euren rechtmäßigen Platz einnehmen. Nichts wird Euch dann noch daran hindern, Eure Flügel über Stadt und Land auszubreiten.“
Du hast wirklich keine Ahnung, denke ich. Nichts kann einen Drachen aufhalten – wenn sie die Länder des Märchenlandes nicht mehr besuchen, dann ist es ihre eigene Entscheidung. Ebenso, wie dieser hier selbst entscheiden wird, was er mit uns macht. Du kannst ihn nicht bestechen, denn es gibt nichts, das du ihm bieten könntest.
Der Drache lässt seinen Blick wieder schweifen, blickt kurz auf mich und dann lange auf Serafine.
„Bitte verschont die junge Dame, sie ist sehr wertvoll für mich“, sagt der Meister leichthin. „Obwohl sie natürlich nicht unersetzlich ist... Oh, und wenn Ihr noch einen Grund braucht: Mein Gegner ist ihr Ehemann, und ihr Bruder ist der Euch sicher bekannt Prinz Georg, der Drachenjäger. Wenn Ihr jetzt bitte tun würdet, worum ich Euch gebeten habe...“
Ganz langsam bewege ich mich von Serafine weg in die Mitte des Raumes. So bringe ich sie vielleicht weniger in Gefahr. Der Drache wendet sich mir zu, und ich sehe in seine Augen. Drachenaugen sind seltsam: Sie sind wie Halbkugeln aus körnigem Gold, mit einem Schlitz darin wie ein Y. Dahinter liegt das eigentliche Auge, wie flüssiges Feuer in Rot und Schwarz. Sein Blick ruht auf mir. Ich kann nichts darin lesen.
Dann öffnet er langsam seinen Mund, nur einen Spalt breit, und ich sehe sein Feuer. Es leuchtet in tiefem Ultraviolett. Menschen können diese Farbe nicht erkennen, aber ich bin ein Schattenfürst. Ich sehe sein Feuer in seiner ganzen Ehrfurcht gebietenden Pracht.
Kann meine Kraft etwas gegen ihn ausrichten, frage ich mich. Nein. Wenn dieser Drache mich auslöschen will, dann wird er es tun. Ich habe ihm nichts entgegenzusetzen.
Langsam öffnet er den Mund noch weiter. „Ach“, höre ich den Meister sagen. Er klingt glücklich, und ich schließe die Augen.
Dann sagt etwas sehr laut 'Pah’, es wird ganz kurz sehr heiß – – und ich bin immer noch am Leben. Ich öffne die Augen. Serafine starrt mich an, und der Drache breitet die Flügel aus und lässt sich rückwärts vom Turm fallen. Wir hören einen wuchtigen Flügelschlag und dann ein Geräusch, als wenn man ein Steak in die Pfanne legt, nur viel lauter. Erst jetzt denken wir daran, nach dem Meister zu sehen.
Er sitzt in seinem Sessel, und seine Körperhaltung drückt völlige Überraschung aus. Nicht sein Gesicht – er hat keinen Kopf mehr. Dann scheint auch sein Körper das zu merken und sinkt im Sessel zusammen.
Wir gehen zu ihm hinüber. Serafine betrachtet ihn aufmerksam – eine Frau, die studienbedingt Mäuse auseinandernimmt, lässt sich von einer kopflosen Leiche nicht schrecken. Der Anblick ist auch nicht wirklich grässlich: Dort, wo der Hals beginnen sollte, ist auf den Schultern ein großer verkohlter Fleck, und auf dem Boden liegt ein wenig Asche.
„Hat er wirklich geglaubt, der Drache würde ihm gehorchen?“ fragt sie. „Oh, und was meinen Bruder, den Drachenjäger, angeht: Offensichtlich war unser 'Meister’ zu lange nicht mehr im Märchenland und hat seine Informationen aus dritter Hand. Ja, mein Bruder ist oft auf den westlichen Inseln, seit die Drachen ihn eingeladen haben, mit ihnen zu jagen.“ Sie sieht mich an. „Vielleicht werden wirklich bald wieder Drachen unsere Länder besuchen, aber nicht so, wie er es sich vorgestellt hat. Trotzdem, in einem hatte er Recht. Es gibt tatsächlich zu viel Selbstzufriedenheit und Mief und Vorurteile im Märchenland. Wir sollten versuchen, daran etwas zu ändern.“
„Unbedingt“, sage ich. Dann ziehe ich sie in meine Arme und küsse sie.

„Oh, euch geht es gut“, sagt eine Stimme von der Tür. Es ist Gernot. Er kommt zu uns herüber und betrachtet den Meister. „War das der Drache? Ich habe ihn an einem der Fenster vorbeifliegen sehen. Übrigens, der Turm hat wieder einen Eingang.“ Er schüttelt den Kopf. „Das hier werden wir meinen Kollegen nie erklären können. Ich sage das nur ungern, aber vielleicht solltet ihr ... hm ... alles Seltsame unauffällig verschwinden lassen.“
Ja, denke ich, die kopflose Leiche, die Trümmer der Maschine und nicht zu vergessen die Gefangenen unten im Turm. In dieser Welt ist kein Platz für einen Mann mit Schlangenkopf oder einen Minotaurus. Ich werde mit Leon zurückkommen und mich darum kümmern.

Wir gehen und bringen Serafine nach Hause zurück. Jetzt, wo die Aufregung nachlässt, spürt sie den Blutverlust. Leon lassen wir zurück, damit er sich von seiner Betäubung erholen kann. Und der Turm hat wirklich einen neuen Eingang: Offensichtlich hat ihn der Drache in die Mauer gebrannt. Ich frage mich, was die Eigentümer des Turms davon halten werden.

Was gibt es noch zu berichten? Als Leon wieder aufwacht – das Gift zeigt erfreulicherweise keine üblen Nachwirkungen – räumen wir im Turm auf und kümmern uns um die Gefangenen. Wir verbrennen die Papiere des Meisters und schaffen seine Leiche ins Märchenland. Er wird dort in aller Stille beigesetzt.
Dann kümmern wir uns um die Gefangenen. Die Schlange und den seltsamen Schwan bringen wir in das Reich König Ottokars. Sie werden sich wegen der Entführung vor einem Gericht verantworten müssen. Wahrscheinlich blühen ihnen zwei oder drei Jahre Strafarbeit, dann können sie dort drüben ein neues Leben beginnen.
Die drei aus dem oberen Stockwerk dagegen entpuppen sich als recht vernünftige Wesen. Sie wussten von der Entführung, aber nichts von den wahren Plänen des Meisters oder davon, dass Serafine ihr Blut geben sollte. Wir lassen sie gehen. Ich weiß nicht, was aus dem Nashorn wird, aber der Minotaurus tritt in die Garde von König Ottokar ein. Sie sind dort sehr mit ihm zufrieden, nur war es schwierig, für ihn einen passenden Helm zu entwerfen. Der misslungene Werwolf, er heißt Rüdiger, bittet uns, ihn in der Menschenwelt bleiben zu lassen. Er macht hier gerade eine Ausbildung als Großhandelskaufmann und möchte alles vergessen, was er in seinem Klan erlebt hat. Wir können ihn verstehen.
Patrick von Unterwieser übernimmt die Verhandlungen zwischen Gnomen und Zwergen. Sie kommen gut voran, und auf Serafines Rat sichert er sich als Honorar ein Prozent des Gewinns aus jedem gemeinsamen Projekt der beiden Gruppen. In einigen Jahren wird er märchenhaft reich sein.
Die seltsamste Auswirkung dieser ganzen Geschehnisse ist aber, dass mein Onkel, der Dunkle König, mich jetzt mit 'hochgeschätzter Neffe’ anredet. Ich beginne erst langsam zu begreifen, was es bedeutet, dass wir tatsächlich eine gewisse Kontrolle über unsere innere Kraft haben. Wir Schattenfürsten müssen uns nicht länger vor uns selbst fürchten.
Erstaunlicherweise ist er zudem wie Serafine und ich der Meinung, das etwas gegen die Vorurteile und die Verachtung unternommen werden muss, die Randfiguren das Leben in der Märchenwelt unerträglich machen. König Ottokar schließt sich dem an, und die beiden sind die zwei mächtigsten Herrscher des Märchenlandes. Es wird sich etwas ändern.

© P. Warmann