Der Wu-Feng-Shui-Garten.

Der südwestliche Teil des alten Botanischen Gartens war noch vor kurzem ein wirklich scheußlicher Ort. Ganz früher stand hier, mit dem Rücken zur S-Bahn-Strecke, ein Gartenlokal, das Anfang der siebziger Jahre Pleite machte. Es wurde abgerissen und die Gegend in einen ‘Servicebereich’ umgestaltet, mit öffentlichen Toiletten, einer Würstchenbude und einbetonierten Sitzgruppen. Die Würstchenbude brannte ab, die Toiletten mussten wegen Verseuchung geschlossen werden und die Sitzgruppen wurden teils von Vandalen zerhackt, teils verrotteten sie einfach.
Schließlich wurde entschieden, den ganzen Bereich einschließlich des Ententeichs und der ehemaligen Hundewiese völlig neu gestalten zu lassen. Überraschend meldete sich der große Feng-Shui-Meister Wang Lao und bot an, hier einen ganz besonderen Garten anzulegen. Ihn reizte die Herausforderung, einen derart trostlosen Ort nach allen Regeln seiner Kunst zu verwandeln. Er analysierte Boden, Luft und Wasser, Lage und Chi-Fluss und schuf dann einen der ganz wenigen Gärten im Stil des Wu Feng Shui.
Wu Feng Shui bedeutet ‘negatives’ oder ‘umgekehrtes’ Feng Shui – die Kunst, den Fluss des Chi zu hemmen, abzulenken oder gar, was nur ein wirklicher Meister kann, in Schlaufen einzufangen oder zu zerstreuen. Wang hat sich an einigen Stellen vom Geist des Ortes leiten lassen, an anderen bewusst dagegen gehandelt und so seine stärksten Wirkungen erreicht.
Dies ist der einzige Garten dieser Art außerhalb Asiens und nach Meinung von Kennern sogar noch intensiver als der Garten des weißen Tigers in Singapur (berühmt für seinen mörderischen Bambus) oder der Fu-Mien-Garten nördlich von Schanghai, in dem während der Kulturrevolution eine ganze Kompanie der Roten Garden, die den Garten in ein Kohlfeld ‘umgestalten’ wollte, einfach verschwand.

Der Eingang des Gartens liegt im Norden am Hauptweg. Trotz des rot gestrichenen chinesischen Tores wird er von den meisten Besuchern nicht gefunden – ein erster Beweis für Wangs Kunst. Am besten orientieren Sie sich an dem Info-Kiosk – der Eingang ist genau gegenüber.
Gleich hinter dem Eingang hat man das Gefühl, einen steilen Hügel zu ersteigen, doch der Weg verläuft hier völlig eben. Man muss dem natürlichen Lauf des Chi-Flusses entgegengehen, das verursacht den Effekt. Sie werden ihn in diesem Garten immer wieder erleben.
An der Stelle, wo jetzt die gusseiserne achteckige ‘Pagode zur Betrachtung des Sees’ steht, war zuerst eine Bambushütte. Nach den ersten vier Blitzschlägen wurde sie noch wieder aufgebaut, aber dann entschloss man sich, sie durch etwas feuerfestes zu ersetzen.
Von der Pagode aus kann man, wie ihr Name sagt, den See betrachten. Seine stille Oberfläche spiegelt einen blauen Himmel mit langsam ziehenden Schäfchenwolken wider, unabhängig davon, wie das Wetter wirklich ist.
Der Weg führt um den See, aber Sie sollten sich hier nicht aufhalten: Immer wieder werden Besucher, die längere Zeit am Ufer verweilen, von bis zu dreieinhalb Meter hohen Wellen erfasst.

Gleich nachdem der Weg sich vom See wieder abwendet, kommen Sie in einen Bereich, wo es heftig stürmt. Halten Sie Hüte und Brillen fest und schützen Sie die Augen vor dem herumwirbelnden Sand. Nach drei Metern haben Sie diese Zone durchquert, der Sturm legt sich. Dafür riecht es hier intensiv. Man kann nicht wissen, welchem Geruch man begegnen wird – besonders häufig sind Orangen, Frittenfett, Fichtennadel-Schaumbad und Dieselabgase. Im Frühjahr riecht es häufig nach Bier, in der Zeit um Weihnachten nach Schuhcreme.
Etwas weiter macht der Weg eine scharfe Biegung. Vorsicht! Da der Weg abknickt, der Chi-Fluss jedoch nicht, werden hier viele Besucher in die Begrenzung mitgerissen und stürzen. Die nächste Erste-Hilfe-Station ist etwa dreißig Meter vom Eingang entfernt, der Weg ist ausgeschildert.
An einer Baumgruppe aus Kiefern und Birken vorbei, die mit ihren langen Dornen recht abweisend wirken, führt der Weg zur ‘Spirale’. Mit dieser kleinen grasbewachsenen Mulde hat Wang ein Meisterstück geliefert. Hier ist der Chi-Fluss in einer natürlichen Spirale gefangen, sammelt sich und bildet einen Chi-Strudel, wie man ihn nur an wenigen Orten auf der Erde findet. Besucher mit Herz- oder Kreislaufproblemen sollten die Spirale unbedingt meiden, ebenso Epileptiker, Schwangere und Jünger des Cthulhu. Kundalini-Joga-Tantriker dagegen können versuchen, die Kraft dieses Ortes zu nutzen.
Hier in der Nähe soll sich auch das Heckenlabyrinth befinden, aber bis jetzt haben sich noch alle Besucher, die versuchten, es zu finden, verirrt.Der Weg führt in einem weiten Bogen nach Osten und auf das hintere Wäldchen zu, einen Hain aus Eichen, wilden Apfelbäumen und Eschen. Dieses Wäldchen wandert; es hat sich seit die Bäume gepflanzt wurden um zwölf Meter nach Südosten verschoben, weshalb der Weg auch immer wieder verlegt werden muss. Es ist hochgerechnet worden, dass die ersten Bäume etwa in acht Jahren den Bahndamm der S-Bahn erreicht haben werden – es sollte interessant sein zu beobachten, was dann geschieht.
Immer wieder begehen Bäume am hinteren Rand des Wäldchens Selbstmord durch Invertierung, das heißt, dass man sie plötzlich auf dem Kopf stehend vorfindet, die Wurzeln herausgerissen, die Krone im Boden vergraben.
Das hintere Wäldchen ist besonders im späten Frühling, wenn die Apfelbäume blühen und die Eichen ihre jungen Blätter entfalten, ein zauberhafter Anblick, aber Sie sollten es besser nicht betreten – die Bäume sind unruhig und unberechenbar.
Etwa von hier an hören Sie das Brausen eines mächtigen Wasserfalls. Das Geräusch verstummt abrupt, sobald Sie das Wäldchen umrundet haben und vor der Kaskade stehen – es handelt sich nämlich um einen trockenen Wasserfall, von Wang geschickt gestaltet aus großen Steinblöcken und weißem Sand. Von dem Wasserfall weg ‘fließt’ ein trockener Bach aus Kieseln und Sand, den der Weg auf einer Brücke aus einem einzigen Steinbalken überquert. Wenn Sie auf dem Steg stehen bleiben und die Augen schließen, können Sie den Bach leise plätschern hören.

Inzwischen haben Sie den Garten mehr als zur Hälfte durchquert. Ruhen Sie sich im ‘Tee-Pavillon zur stillen Heiterkeit’ aus, der auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel steht. Es ist ein bescheidener, strohgedeckter Pavillion mit offenen Wänden, von dem aus man einen weiten Blick über den Garten hat. Falls Sie sich etwas zu trinken mitgebracht haben, werden Sie feststellen, dass hier alles wie lauwarmer Jasmintee schmeckt.
Direkt neben dem Pavillion steht die blutende Kiefer. Der Baum verlor beim großen Sturm im Frühjahr 2002 einen seiner unteren Äste, und seitdem sickert aus der Wunde Blut. Studenten der medizinischen Fakultät haben es untersucht und festgestellt, dass es sich um menschliches Blut der Gruppe 0, Rhesus negativ, handelt, vermischt mit 22% Kiefernharz.
Am Fuße des Hügels liegt Wangs Meisterwerk: die Fichtenschonung. Er erzählte dazu in einem Interview: "Während ich den Garten gestaltete und die Pflanzen dafür auswählte, hat mich ein Freund herumgefahren, der Landschaftsarchitekt Herr Christiansen. Er zeigte mir auch Baumschulen, Gärtnereien und Forstwirtschaft, und eines Tage kamen wir zu einer Fichtenschonung. Ich war überwältigt: Ich hatte es mir nie vorstellen können, aber hier war ein Anti-Wald – die Negation eines Waldes, eine Masse von Bäumen, die zusammen etwas bildeten, was all das war, was ein Wald nicht ist. Ich wusste sofort, das muss ich in den Garten einfügen. Es ist der Inbegriff des Wu Feng Shui."
Wang wählte den geeigneten Ort aus und ließ Christiansen dann freie Hand, die Fichtenschonung ‘getreu nach deutscher Art’ anzulegen. Inzwischen sind die Bäume herangewachsen und bilden rechts und links des Weges ein undurchdringliches Dickicht. Oft sieht man zwischen den Bäumen am Wegesrand rote Augen aufglühen, vor allem im Herbst dringen unmenschliche Schreie aus dem Wald, und niemand konnte die seltsamen sichelförmigen Spuren identifizieren, die man am Morgen oft auf dem Weg sieht.

Nach diesem Höhepunkt wirken die weiteren Attraktionen fast zahm. Dabei ist die ‘zerteilende Spirale’, das Gegenstück zur ‘sammelnden Spirale’ am anderen Ende des Gartens, wahrscheinlich die stärkste ihrer Art auf der Welt. Hier wird der Chi-Fluss zerteilt, aufgespalten und zerstreut. Da die Wirkung innerhalb von 15-20 Minuten durch Gehirnblutung zum Tode führt, sollten Sie die Abgrenzung beachten und die Spirale nur von außen betrachten. Ununterbrochen bildet das Gras winzige ‘Kornkreise’, wenn es sich niederlegt, und löscht die komplexen Muster wieder aus, wenn es sich aufrichtet.
Etwas weiter sehen Sie einen aufgerichteten Stein, in dessen Oberfläche eingegraben manchmal chinesische Schriftzeichen erscheinen. Es handelt sich meist um die Zeichen für ‘Hund’, ‘Pinsel’ oder ‘Segel’, mit unbeholfener Hand geschrieben und oft fehlerhaft. Gleich daneben steht ein schwarz blühender Flieder.
Etwas weiter gibt es eine Zone direkt neben dem Weg, die zu durchfliegen für Insekten aller Art tödlich ist – achten Sie auf die toten Tiere auf dem Boden. Es läuft ein Antrag auf Beseitigung dieser Stelle, den die Imker-Innung auf den Weg gebracht hat. Für höhere Lebewesen ist die Stelle übrigens völlig ungefährlich.
Kurz bevor Sie den Ausgang erreichen, steht Ihnen noch ein sehr beeindruckendes Erlebnis bevor, das die meisten Besucher leider auslassen. Betreten Sie den ‘Bambushain der inneren Betrachtung’ und folgen Sie dem Pfad bis in dessen Mitte. Dort, von allem abgeschirmt durch den mehr als mannshohen Bambus, im Herzen der Stille, gibt es eine Lichtung und in ihrer Mitte einen großen flachen Stein. Stellen Sie sich darauf und sehen sie direkt nach oben in den Himmel. Es kann einige Zeit dauern, aber dann werden Sie den Sternenhimmel sehen – oder besser einen Sternenhimmel, denn die Sternbilder sind vollkommen fremd...
Sie werden diesen Garten nicht unverändert verlassen; ihn zu erleben ist eine Erfahrung, die sich niemand entgehen lassen sollte.

© P. Warmann