Besuch bei einer Wahrsagerin.

Es war mein erster Besuch bei einer Wahrsagerin, und ich wusste nicht recht, was ich zu erwarten hatte. Als ich klingelte, öffnete sie persönlich: eine sehr gepflegt aussehende ältere Frau in einem rauchblauen Strickkostüm.
„Ah, Sie sind pünktlich“, begrüßte sie mich. „Lassen Sie mich aus Ihrer Hand lesen.“ Sie griff nach meiner rechten Hand und betrachtete sie eingehend durch ihre randlose Lesebrille.
„Sie werden geschlachtet, zerlegt, und Ihr Fleisch wird portionsweise verkauft“, erklärte sie mit absoluter Sicherheit in der Stimme. „Außerdem wird Ihnen die Haut abgezogen und...“
„Moment“, unterbrach ich sie, „lassen Sie mich doch erst meine Schweinslederhandschuhe ausziehen.“
Während ich das tat und auch den Mantel ablegte, runzelte sie die Stirn. „Wo habe ich nur meine Brille gelassen?“
„Auf Ihrer Nase, würde ich sagen“, antwortete ich.
„Ach so“, sagte sie, als würde das alles erklären, nahm sie ab und stopfte sie in eine Blumenvase voller Narzissen.
Sie führte mich in ein elegant eingerichtetes Wohnzimmer und bat mich Platz zu nehmen. Dann nahm sie ein Blatt Papier zur Hand, auf das ein komplexes Diagramm gezeichnet war.
„Dies ist Ihr Horoskop. Ich habe es nach den Daten gestellt, die Sie mir vorab gegeben haben.“ Sie betrachtete das Diagramm und die Notizen darunter. „Geboren am ... mit sechzehn Jahren das erste Mal verliebt ... erfolgreich im Beruf ... und vor zwei Jahren sind Sie verstorben.“ Sie sah mich durchdringend an.
„Das müsste ich aber wissen“, meinte ich leicht verblüfft.
„Die Sterne lügen nicht“, erklärte sie streng. „Ich nehme an, Sie haben sich vorher noch nie um Ihr Horoskop gekümmert?“
„Dies ist das erste Mal“, gab ich zu.
„Na also. Es ist immer dasselbe. Wie sollen die Schicksalsmächte ihre Arbeit machen, wenn Sie sich nicht bemühen, zu erfahren, was von Ihnen erwartet wird? Nun gut.“ Sie legte das Papier zur Seite. „Dann wollen wir doch sehen, was die Linien Ihrer Hand zu sagen haben.“ Sie griff zum zweiten Mal nach meiner Hand und betrachtete die Handfläche. „Aha. Dies ist Ihre Lebenslinie. Sehen sie dort die Unterbrechung? Sie werden jung sterben. Und dort noch einmal ... und dann ... ja, das Bild ist eindeutig: Sie werden zweimal jung sterben und dann uralt werden.“
Was mich doch etwas verwunderte, weil ich bisher ununterbrochen gelebt hatte und inzwischen 38 Jahre alt war, was deutlich zu alt ist, um noch jung zu sterben.
Sie betrachtete inzwischen mit gerunzelter Stirn weiter meine Hand. „Was soll denn das? Sie haben gar keine Schicksalslinie! Wonach wollen Sie dann Ihr Schicksal ausrichten? Ich halte das für fahrlässig, ehrlich gesagt.“ Sie ließ meine Hand fallen. „Also dann, versuchen wir es einmal mit der Kristallkugel.“

Diese stand auf dem Tisch, und sie setzte sich davor. Eine Minute oder länger starrte sie angestrengt in die Kugel, und ich sah Wolken und farbige Schleier darüber hinziehen. „Ich sehe Ihr ganzes Leben“, verkündete sie. „Gestern haben Sie eine Kaffeetasse fallen lassen. Der Wasserhahn in Ihrem Badezimmer tropft. Und die Zukunft ... die Batterie in Ihrer Wohnzimmeruhr wird keine zwei Wochen mehr halten, und die Milch in Ihrem Kühlschrank ist bis morgen früh sauer.“
Ich war beeindruckt: alles stimmte. Ich machte mir eine mentale Notiz, auf dem Heimweg Milch zu kaufen. Und Batterien.
„Außerdem werden Sie am Vierten des nächsten Monats auf dem Weg zur Arbeit von einem Geisterschiff entführt werden. Entweder das, oder Sie werden in Mitleidenschaft gezogen, wenn sich der Wagen Ihres Nachbarn in einen Käsekuchen verwandelt. Die Bilder sind da nicht ganz eindeutig.“
Sie sah auf und warf ein Tuch über die Kristallkugel. „Das macht dann 65 Euro.“
Ich zahlte gerne; für solch umfassende Enthüllungen schien mir dies kein zu hoher Preis

© P. Warmann