Die Pflanzeninvasion.

Bäume sind normalerweise eher unbeweglich. Soll heißen, man sieht sie eher selten große Sprünge machen, und auch für weite Wanderungen sind sie nicht sonderlich geeignet. Sollte man zumindest meinen. Was sie aber nicht gehindert hat, eine groß angelegte Invasion in einen Garten zu starten – unterstützt von verschiedenen anderen Arten fruchttragender Pflanzen.

Besagter Garten gehört zu einem hundert Jahre alten Einfamilienhaus, ist über hundert Meter lang bei nur 15 Metern Breite und liegt in einem Viertel mit vielen solcher Häuser mit gleichen Gärten. Haus und Garten gehören einer alten Dame von fast achtzig Jahren, die schon vor einiger Zeit beschlossen hatte, sich nicht länger mit Anbau, Ernte und Verarbeitung von Obst und Gemüse abzuplagen. Was ein wenig schwierig ist, wenn man sechs große Apfelbäume und einen riesigen Walnussbaum im Garten hat, aber dennoch: Die Gemüsebeete wurden aufgehoben, die Apfelernte (und die Äpfel) ihren zahlreichen Freunden überlassen, der einzige Kirschbaum hatte freundlicherweise beschlossen, auf die Produktion echter Früchte zu verzichten und nur noch Kerne mit einer dünnen Hülle darum zu tragen, und ‘Nussernte’ erfordert nur, die herunter gefallenen Nüsse aufzusammeln. Ein schöner, pflegeleichter Garten also ... doch dann begann die Invasion.

Man hätte die Warnzeichen erkennen können: Schon lange zuvor hatte sich eine Eibe in den Vorgarten geschlichen, und über die Jahre waren zwei Johannisbeersträucher im Garten aufgetaucht, ungepflanzt und reiche Früchte tragend. Aber jetzt kamen sie von allen Seiten.
Zuerst musste die Besitzerin feststellen, dass aus dem Pflaumenbaum am Ende des Gartens ein ganzes Pflaumengebüsch mit drei oder vier Pflanzen geworden war. Dann schoben die Himbeerbüsche aus dem Nachbargarten ihre Ausläufer durch den Zaun, wurzelten, wuchsen und bildeten an der linken Gartenseite einen soliden Brückenkopf. Gleichzeitig erschien an der rechten Flanke ein weiterer Apfelbaum, von einer Sorte, die es weder in diesem noch in den Nachbargärten gab. Und im Untergrund arbeiteten sich die Monatserdbeeren aus einem aufgelassenen Beet Meter für Meter vor und schafften es schließlich sogar, die gefährliche begangene Zone in der Mitte des Gartens zu durchqueren und den gegenüberliegenden Rand zu erreichen, von wo sie sich ohne Rasenmäher- und Trittgefahr weiter ausbreiten konnten. Und alle, alle trugen reiche Früchte.

In diesem Herbst dann erfolgte der vorerst letzte Schlag: Einem Nussbaum gelang es, bis in den Vorgarten vorzudringen und auch diese bislang baumfreie Zone zu besetzen. Es ist anzunehmen, dass er dabei Hilfe von den Eichhörnchen bekam, die schon 2010 die im Schuppen zum Trocknen aufgehängte Nussernte vollständig geplündert hatten – das heißt, vollständig bis auf eine einzelne Nuss, die sie höhnisch im Netz zurückgelassen hatten.
Und als wäre das noch nicht genug, entstand zeitgleich in der Mitte des Gartens ein Kürbisbeet, 2 x 3 Meter groß, mit sechs großen und einem Riesenkürbis (60 cm Durchmesser), ungepflanzt, ungedüngt und völlig unerwartet.
„Es ist ja sehr schön, dass das alles so prächtig wächst“, sprach die alte Dame leicht verzweifelt, „aber was soll ich nur mit dem ganzen Obst anfangen?“ Das ist eine gute Frage, auf die es leider keine gute Antwort gibt. Und es ist nicht zu erwarten, dass die Invasion beendet ist...

Übrigens geschehen derartige Dinge auch mitten in der Stadt, wobei hier allerdings das Obst in der Minderheit ist. Auf einem ummauerten Hof hinter einem Altbau-Mietshaus haben sich in den letzten Jahren auf einem nur meterbreiten Streifen Erde neben zwei gepflanzen Vogelbeerbäumen und einem Ilex folgende Pflanzen angesiedelt: eine Brombeere, mehrere Mahonien, zwei Holunder, unzählige Spitzahorne, ein Bergahorn, eine Linde und eine Eiche.

Was zweierlei beweist: Erstens, die Botaniker haben Recht, wenn sie behaupten, ohne den Menschen wäre Mitteleuropa vollständig von Laubwald bedeckt. Und zweitens: Sie hätten gerne einen Wald? Legen Sie ein Stück Boden frei, machen Sie zwanzig Jahre gar nichts – und Sie haben Ihren Wald.

© P. Warmann