Unser Norden.

Der Norddeutsche an sich gilt als unterkühlt. Das ist so nicht wahr, wahr ist allerdings: Hier oben (die folgenden Begebenheiten haben sich in und um Kiel zugetragen) regt man sich eher nicht auf. Denn das wäre schlechter Stil und außerdem praktisch immer unnötig. Wie im folgenden Fall:

Im Supermarkt, mittags, zwei Kassen sind offen, etwa fünf Kunden warten darauf, ihre Waren zu bezahlen. Plötzlich ein Krachen, LAUT! Glas splittert, viele Dinge krachen laut zu Boden, irgend etwas ist offensichtlich umgestürzt – was? Der eine oder andere Kunde wirft einen Blick in Richtung Lärm: Aha, eine komplette Stellage ist zusammengebrochen, mit Gurkengläsern und Marmelade und Teedosen (‘Unser Norden’). Überall Splotter (das, was man bekommt, wenn ein Remouladenglas in Scherben geht). Ach so, nichts weiter, kein Grund zur Aufregung, das meint sogar die Frau, hinter der, nicht einmal einen Meter entfernt, das Inferno losbrach, und weicht nur geschickt ein paar auf sie zu rollenden Marmeladengläsern aus. Niemand verletzt? Keine weitere Gefahr? Sehr schön, denken die Anwesenden, und es ist ihnen etwas unangenehm, so neugierig gewesen zu sein, sich nach etwas umzudrehen, das sie doch überhaupt nichts angeht.

(Nebenbemerkung 1: Es ist nicht so, dass der Norddeutsche sich nicht aufregen kann, er unterscheidet nur sorgfältig zwischen Sachen, bei denen es nicht lohnt sich aufzuregen, und den ganz wenigen, bei denen man sich aufregen könnte, wie etwa Orkan mit Windstärke zwölf einschließlich Deichbruch und ‘Land unter’, wo man sich dann aber doch nicht aufregt, weil man gerade wichtigeres zu tun hat.)

So komme ich denn einmal recht spät am Abend nach Hause (ich wohne im dritten Stock eines Altbau-Mietshauses) und entdecke, dass zwischen erstem und zweitem Stock das Treppenhausfenster weit offen steht. Seltsam. Als in Norddeutschland Einheimische schließe ich es sorgsam, denn man weiß nie, ob nicht im nächsten Augenblick eine verirrte Sturmbö des Weges kommt und es zertrümmert.
Ein Stockwerk höher, zwischen zweitem und drittem Stock, ist das Fenster dann zwar zu, aber ein Seil dazwischengeklemmt. Hm. Noch seltsamer. Dennoch, dies bedeutet offensichtlich keine Gefahr und geht mich daher nichts an.
In der Wohnung angekommen fällt mir nach ein paar Minuten auf, dass von draußen her anscheinend jemand um Hilfe oder zumindest Aufmerksamkeit ruft. Also öffne ich ein Fenster ... und sehe den Bewohner der Wohnung unter meiner auf dem äußeren Fensterbrett seines Küchenfensters sitzen – immerhin zwei Altbau-Stockwerke über dem gepflasterten Hof. Was er da macht? Das sei so, erklärt er mir: Er hätte seinen Wohnungsschlüssel vergessen und sich gedacht, er könne sich doch mittels seines Abschleppseils, das er in das obere Flurfenster geklemmt hatte, vom unteren Flurfenster aus zu seinem Küchenfenster schwingen (Taarzaaan!) und versuchen, dieses, das gekippt war, von außen zu öffnen. Diese Idee schien ihm naheliegend, da er als Angehöriger der Bundesmarine solche Dinge berufbedingt offensichtlich schon öfter getan hatte. Leider gelang es ihm aber nicht, sein Küchenfenster zu öffnen, und jetzt hatte ich auch noch das untere Fenster geschlossen und ihm damit den Rückweg abgeschnitten.
Also öffnete ich ihm das Fenster wieder, er schwang sich gekonnt zurück und beschloss dann, von meinem Telefon aus den Schlüsseldienst zu rufen. Wie gesagt alles kein Grund, sich aufzuregen.

(Nebenbemerkung 2: Der Wind ist hier wirklich immer gegenwärtig. Er ist der Grund dafür, dass im Norden zwar viele Menschen die Haare lang tragen, aber nur selten offen. Denn wenn man sie nicht zum Zopf bindet, ist es zum Beispiel praktisch unmöglich, bei Rückenwind Eis zu essen.)

Auch was zwischenmenschliche Beziehungen angeht, haben die Menschen hier ihre ganz eigene Sichtweise. Ich gebe die Erzählung eines entfernteren Bekannten im Originalton wieder:
„Ich komme von der Arbeit, da taucht an der Haustür so’n Typ auf und hält mir ein Messer an den Hals und sagt: ‘Wo ist mein Bruder?’
Ich sage: ‘Ja, wenn ich wüsste, wer du bist, dann könnte ich vielleicht was über deinen Bruder sagen.’
‘Du bist Tommy S.’, sagt er.
‘Ja, der bin ich, und wo mein Bruder ist, das weiß ich, aber das bringt uns gerade auch nicht weiter, oder?’
Da hat er das Messer weggesteckt und sagt: ‘Ihr hattet doch gestern eine Schlägerei.’
‘Ja, das kann man so sagen, dass wir die hatten.’
‘Und mein Bruder war dabei, so ein Großer mit blondgefärbten Haaren.’
‘Mit einem großen Kullerohrring?’ frage ich.
‘Ja, genau der.’
‘Ja, das ist dann der, dem ich den Arm gebrochen habe, gestern.’
‘Wieso denn das?’
‘Ja, weil, der kam mir mit so einer großen Eisenstange, das geht gar nicht, da musste ich ihm den Arm brechen.’
Das hat er eingesehen, und dann haben wir noch ganz vernünftig geredet, und dann ist er gegangen.“

(Nebenbemerkung 3: Die Menschen im Norden reden oft vernünftig miteinander, aber selten direkt. Während zum Beispiel mehrfache Verneinungen in anderen Gegenden nur verstärkte Verneinungen sind (‘Das kann keiner nicht wissen’), sind sie hier ernst gemeint. Ein Satz wie ‘Wenn du mir jetzt sagst, was du nicht möchtest, dann können wir das auch nicht machen, und dann kann hinterher wenigstens keiner sagen, wir hätten darauf keine Rücksicht genommen’ wird so und nicht anders formuliert, weil man der Ansicht ist, nur so könne man den Sinn klar ausdrücken. Mit einfacheren Sätzen ginge das nicht. Und wenn Sie der Meinung sind, ja, natürlich, genau so ist es, dann – willkommen im Norden.)

© P. Warmann